Stille Welt und psychologische Krisenbewältigung
Der Ausnahmezustand wurde verkündet und das Notrecht wurde vom Bundesrat ausgerufen. Was unvorstellbar war, ist nach nicht einmal 14 Tagen schon Realität: Läden und Schulen wurden ab sofort geschlossen, das Homeoffice ist nun auch dort angekommen, wo es noch vor ein paar wenigen Wochen undenkbar gewesen ist. Die Strassen und der ÖV haben sich geleert und der Fahrplan ist stark reduziert. Gebannt schauen und hören wir die Nachrichten und fragen uns, wohin das alles führen und wie lange das noch andauern wird?
Was wohl nachher noch steht, wie die Welt danach aussieht, ob wir nachher noch dieselben sind? Werden diese Veränderungen einschneidend sein oder wird man sofort wieder zu den alten Verhaltensmustern zurückkehren? Was macht das alles mit mir persönlich?
Eine Art Ohnmacht
Viele von uns hatten vielleicht für die am Anfang einer Krise bekannte Schockstarre nur wenig Zeit. Kurz darauf mussten wir uns mit der Organisation unseres neuen Alltags beschäftigen. Wir sind bemüht, etwas von unserer gewohnten «Normalität» – soweit es geht – aufrecht zu erhalten und Struktur in den Alltag zu bringen. Ob wir wollen oder nicht, für viele ist das Tempo gemächlicher und die Termine sind deutlich weniger geworden.
Natürlich gibt es auch die anderen, sie befinden sich in grösster Anspannung und Belastung. Die Arbeit wächst ihnen über den Kopf. Sie werden mit Anträgen oder Anfragen überschwemmt. So einige Amtsstellen und insbesondere Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten. Sie sind direkt mit Existenzkrisen körperlicher, psychischer und finanzieller Art konfrontiert.
Die Mehrheit jedoch fühlt sich in einer Art Ohnmacht, nichts von Bedeutung tun zu können. Sie sind zuhause und können vielleicht ein bisschen oder auch gar nicht tätig sein, weil ihr Metier im Moment gerade nicht so stark gefragt ist. So Floristinnen, Verkäufer und Verkäuferinnen, Kosmetikerinnen, Friseure und Friseurinnen und andere Dienstleister wie Organisations- und Unternehmensberater und Beraterinnen, Fitnesstrainer und Fitnesstrainerinnen, Juristen und Juristinnen und viele andere. Sie alle haben unvermittelt ein rar gewordenes Gut zur Verfügung: Zeit.
Wer bin ich ohne Arbeit?
Ihnen wird gesagt, dass ihre Hilfe darin besteht, daheim zu bleiben und die persönlichen sozialen Kontakte auf ein Minimum zu reduzieren. Ein Spaziergang an der frischen Luft ist in Ordnung, sofern die vorgeschriebene soziale Distanz eingehalten wird. Hilfe durch Nichtstun, das ist neu für viele und gar nicht so einfach auszuhalten in einer Leistungsgesellschaft, wie wir sie bisher gekannt haben. Das heisst, dass da wohl Gedanken und Emotionen frei werden können, die sonst im hektischen Alltag keinen Platz gehabt haben.
Da und dort treten Ängste hervor: Wann kann ich wieder arbeiten? Wird es mich in Zukunft noch brauchen? Wer bin ich ohne Arbeit? Wo wird meine Leistung noch gebraucht werden und wann? Werde ich diese Phase gesundheitlich gut überstehen? Habe ich mich bereits mit dem Virus infiziert und merke es nicht? Wird sich mein Hüsteln verstärken? Werde ich eine allfällige Krankheit leicht überstehen oder muss ich an die Lungenmaschine? Und ist dann auch eine frei?
Ob wir wollen oder nicht, wir stellen uns diese Fragen, weil die Zeit dazu da ist und es viel weniger Ablenkung gibt. Theater, Kinos, Restaurants sind geschlossen, wir können nicht auf Reisen gehen, wir können die Flucht in die Ablenkung nicht ergreifen, sondern sind auf uns selbst zurückgeworfen.
Schicksal
Vor dem Virus sind wir alle gleich. Es gibt nichts mehr zu beweisen, sich hervor zu tun, mit anderen in den Wettbewerb zu treten, sich über Leistung, viele Freunde oder materielle Dinge zu definieren. Wir sind vornehmlich mit uns selbst und mit wenigen anderen Menschen umgeben. Der Einfluss ist uns weitgehend entzogen. Wir sind gezwungen abzuwarten und zu sehen, wie es kommt. Wann es Tests für Antikörper gibt, wie sich das Virus ausbreitet, ob und wann es eine Impfung geben wird, wann wir wieder arbeiten können und wie dann die Welt aussieht. Wir wissen es nicht.
Wir wissen nur, dass wir jeden Tag so nehmen müssen, wie er gerade ist. Wir können auch niemanden für diesen momentanen Umstand verantwortlich machen. Es ist Schicksal.
Ein Virus ist nicht böse oder gut. Es ist einfach da und es ist wie es ist und interagiert mit unserem Körper, wie es das tut. Wir wissen nicht, ob unser Körper genügend Stabilität aufweist oder ob wir aus irgendeinem Grund schwer daran erkranken. Wir sind gehalten mit diesem Unwissen umzugehen.
Von der Realität eingeholt
Nach der anfänglichen natürlichen Abwehr in der ersten Phase der Krise, die sich in Sätzen äussert wie: «statistisch gesehen werde ich nicht krank werden», «die Krise betrifft China, das ist weit weg», «es ist schlimm in Italien, dort hat es aber viele ältere Leute und das Gesundheitswesen ist nicht so gut ausgebaut wie bei uns», «ich kenne bis heute noch keinen Fall, also wird es schon nicht so schlimm werden», hat uns am 13. März 2020 die Realität eingeholt und viele in eine – wenn auch nur kurze – Schockstarre versetzt und schon bald in die Phase der «Akzeptanz und Einsicht» geworfen.
«Es kann auch mich betreffen», «ich kenne Menschen in meinem Umfeld die sind erkrankt», «es betrifft uns direkt, ich bleibe wohl besser daheim». «Die Schulen sind geschlossen, ich muss mich mit den Kindern neu organisieren», «ich kann meine Freunde nicht mehr besuchen, das ist zu heikel geworden», «ich muss meinen Betrieb einstellen, wie soll ich die Miete bezahlen?», «ich mache Homeoffice, das ist neu», «ich muss in der Schlange stehen, wenn ich einkaufen will», «ich muss selber kochen».
Wird dieser Zustand der Einengung und Unsicherheit noch eine Weile andauern, werden wir vielleicht langsam in die nächste Phase der «inneren Krisenarbeit» eintreten. Das ist die Phase der Stille und des inneren Rückzugs. Sie wird uns vom Bundesrat verordnet.
Phase der Kreativität
Im Krisenverlauf ist dies die schwierigste Phase, die gerne – sofern irgend möglich – übergangen wird. Wir wollen schnell wieder Ordnung haben, was uns vermeintlich Sicherheit und Kontrolle gibt. Nur wenn wir gezwungen werden, in dieser Phase der fehlenden Kontrolle und Unsicherheit zu verbleiben und den Schwebezustand der Leere auszuhalten, findet echte Krisenarbeit statt. Wir sind gezwungen, Ängste, Wut und Trauer über das – was früher so selbstverständlich war und was es jetzt nicht mehr gibt – auszuhalten.
Alte liebgewordenen Gewohnheiten gibt es nicht mehr und neue Verhaltensweisen oder Einsichten sind noch nicht da. Halten wir diesen Zustand der Leere und Ohnmacht – zwischen «Nicht-mehr» und «Noch-nicht» – genügend lange aus, dann wird die Phase der Kreativität kommen und neue Ideen, innere Einsichten und neue Verhaltensweisen können auftauchen und sich mit der Zeit etablieren.
Wir werden vielleicht die Qualität des «Homeoffice», «Videokonferenz» und des «Online-Kurses», die Freiheit, den Tag selbst zu gestalten und sich besser nach dem eigenen Biorhythmus richten zu können, mehr Zeit zu haben, um spazieren zu gehen schätzen lernen. Wir werden Freude an kleinen – früher so selbstverständlichen Dingen – entwickeln. Wir werden es geniessen, uns wieder die Hände reichen zu können und zusammen ein Fest veranstalten zu können. Möglich, dass wir dies alles dann im inneren Wissen tun, dass auch wenn uns die äusseren Dinge wieder abhandenkommen, wir damit umgehen können. Wir unser inneres Wohlbefinden auch ohne all diese Äusserlichkeiten stabil halten können. Dass wir im Leben selbst den Wert erkennen und damit innerlich zufrieden sein können. Unabhängig von der eigenen Leistung, unabhängig von einer bestimmten gesellschaftlichen Position und unabhängig davon, wie viele Freunde ich habe. Einfach zufrieden sein mit sich selbst, so wie es gerade ist. Weil – und das war schon immer so – das Leben selbst der Wert an sich ist.
Mit uns selbst befreundet sein
Es war noch nie möglich, dass sich unser Lebenswert durch spezifische Leistung oder gesellschaftliche Position erhöhen könnte. Wir haben heute die Chance uns loszulösen von der Illusion, dass der Lebenswert und die damit verbundene Zufriedenheit von äusseren Dingen abhängig ist. Wir sind einfach, was wir sind, Lebewesen, eingebunden in die Natur. Können wir diese tiefe Einsicht gewinnen, dann werden wir gestärkt aus der Krise hervortreten. Wir werden weniger anhaften an Leistungserfolgen, spezifischen sozialen Zugehörigkeiten und an materiellen Dingen oder Status. Wir bräuchten weniger Ablenkung. Wir könnten beginnen, vermehrt Zeit mit uns selbst zu verbringen, weil wir gelernt haben, mit uns selbst befreundet zu sein.
Man darf gespannt sein, wie sich das in der Bevölkerung entwickeln wird. Der Rückhalt für die Massnahmen wird schnell schwinden. Wenn die ersten Väter ihren Kindern erklären müssen, dass man leider wegziehen muss, weil man jetzt arbeitslos ist und die Wohnung nicht mehr abbezahlen kann. Die ersten finanzierten Autos zwangsstillgelegt werden. Es wird Jobs geben, die nicht von der Krise betroffen sind, das dürften aber die wenigsten sein. Spätestens wenn die Menschen ihre Existenz verlieren, wird der moralische Zeigefinger wieder eingeholt. Die Angst um die eigene Existenz wird dann Oberhand bekommen.
Es ist in der Tat so, dass unser aller Leben massive Veränderungen erfahren hat. Angefangen damit, dass wir in den eigenen vier Wänden mehr oder minder gefangen sind. Gut, ich behalte mir vor, jeden Tag einen Spaziergang zu machen - alleine und mindestens zwei Stunden lang. Danach oder davor geniesse ich mein Privileg, indem ich das schöne Wetter geniesse und mich im Gartensitzplatz aufhalte. Vor einem Monat ist mein Vater gestorben. Die Abschottung von der Aussenwelt gibt mir die Gelegenheit, meine Beziehung zu meinem Vater zu reflektieren, zu verarbeiten und Erinnerungen hervorzukramen, denen ich Raum geben kann. Denn es stört mich kein Mensch dabei oder kein Treff oder Anlass steht an, der mich dazu verleiten würde, verdrängen zu können. Ich bin auf mich selbst zurückgeworfen, muss mich selbst aushalten, wie seinerzeit Diogenes in der Tonne. Ich bin in einem Prozess, weil mir dieser Zustand nicht immer leicht fällt. Zu gross war vorher die Selbstbestimmung gewesen, einfach abzuhauen, wenn mir etwas bedrohlich nahegekommen war. Mittlerweile ist die Zerstreuungspalette auf ein absolutes Minimum zusammengestrichen worden. Dennoch: Wenn ich mich draussen im Wald aufhalte, nehme ich bei mir wahr, dass ich aufmerksamer, sensitiver unterwegs bin. Ich rieche mehr, höre besser, was auch darauf zurückzuführen ist, dass mich praktisch kein Flugzeuglärm stört. Mein Leben ist von viel weniger Ausseneinflüssen geprägt. In meinem Innern hat sich eine Stille eingeschlichen, die mir keine andere Wahl lässt, als mich mit meinem eigenen Leben zu beschäftigen und mich der Angst vor dem Tod zu stellen. Der Tod ist nun allgegenwärtig, nachdem er sich in der Gesellschaft rar gemacht hatte. Ich habe mich dazu überwunden, mich mit einer Patientenverfügung zu beschäftigen. Der Druck liegt vor; nun muss ich die Verfügung noch ausfüllen. Je mehr ich über den Tod nachdenke, muss ich mir eingestehen, dass Vater zur rechten Zeit gestorben ist. Er war 93 Jahre alt und lebte in einem Alters- und Pflegeheim. Seit Ausbruch von Corona hätte er keine Besuche mehr empfangen dürfen. Man hätte ihm auch noch das genommen, was für ihn lebenswert gewesen wäre. Eine Zumutung. Vermutlich auch für andere alte Leute, die noch leben. Wir alle werden zu Sonderlingen, die draussen Abstand einhalten müssen, als würden wir uns umbringen, wenn wir uns zu nahekommen. Der Virus macht sich daran, sich in unseren Köpfen festzusetzen. Wenigstens solange wir dazu gezwungen sind. Was danach sein wird, ist noch flüchtig.
Diese, Ihre Gedanken, die so so anschaulich darlegen, tragen die Kraft in sich zur positiven Veränderung von einer , von einem "Virus" herbeigeführten Notsituation, als Chance zu "neuem Leben".
Danke, dass wir ihren aktuellen Situationsbericht als Mitbetroffene
mit Ihnen teilen dürfen.
Danke für diesen so sachlich-positiven Bericht. Eine konstruktive Nutzung der freien Zeit könnte darin bestehen, die berühmt Rede von Nelson Mandela zu meditieren:
http://www.karo.b-hoffmann.de/Dat/Mandela.html