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16. Februar 2021

Üben. Bummeln. Routine. Scheitern

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Üben. Bummeln. Routine. Scheitern

Von Eduard Kaeser, 25.04.2017

Weniger tun – das ist Lektion 1 zur Förderung der Kreativität. Nebst einigen weiteren Lektionen braucht’s auch gehörigen Durchhaltewillen.

Bei vielen kreativen grossen Geistern sticht eine paradox anmutende umgekehrte Proportionalität von Ambition und Aufwand ins Auge. Gemeinsam ist ihnen eine Leidenschaft für das, was sie tun; ein Ehrgeiz, etwas zu erreichen, was noch niemand erreicht hat; ein oft obsessiv anmutender Tunnelblick auf nur ein Ziel, nur ein Objekt. Und gleichzeitig stellt man erstaunt fest, mit wie wenig Zeitaufwand dieses Ziel verfolgt wird.

Der Wissenschaftshistoriker Alex Soojung-Kim Pang, der als Futurologe und Berater im Silicon Valley arbeitet, hat gerade ein Buch mit dem Titel „Rest“ veröffentlicht, das sich um ein vertieftes Verständnis der Pause im kreativen Prozess bemüht. Der Untertitel „Tue weniger, erreiche mehr“ klingt natürlich einmal mehr nach dem üblichen Schmäh für Ratgeber-Junkies – und Alex Pang widersteht dessen Verlockung nicht immer. Dennoch bietet das Buch genügend Anlass und Material, selber weiterzudenken, gerade in einer Zeit des 24/7-Menschen, dieser 24 Stunden am Tag und 7 Tage die Woche abrufbaren Untergattung des Homo sapiens.

Zu Hause bei Charles Darwin

Werfen wir einen Blick auf die Tagesagenda eines der grössten und produktivsten Wissenschafters der Moderne: Charles Darwin. Nach Morgenspaziergang und Morgenessen in seinem Wohnsitz Down House beginnt er um acht Uhr mit der Arbeit, anderthalb Stunden lang. Um halb zehn liest er die Post und schreibt Briefe. Um halb elf wendet er sich ernsthafter Forschung zu: Beobachtungen in der Voliere oder im Gewächshaus, Experimente im Laboratorium. Mittags erklärt er: „Ich habe gutes Tageswerk verrichtet.“ Eine bis zwei Stunden lang geht er auf eine Wanderung durch die Gegend, auf seinem Denkweg, dem „Sandwalk“. Danach nimmt er einen Lunch zu sich und beantwortet weitere Briefe. Um drei Uhr hält er ein Nickerchen. Aufgewacht, vertritt er sich um vier Uhr wiederum kurz die Beine, um dann bis halb sechs in seinem Studierzimmer zu arbeiten. Danach ist es Zeit, sich dem Kreis seiner Familie zum Abendessen anzuschliessen.

Dieser wohlabgestimmten Kadenz aus Phasen des Tuns und Nichtstuns entstammt ein gewaltiges wissenschaftliches Werk, das noch heute unser Denken über die Natur prägt. Was auffällt: In dieser Agenda beobachten wir drei anderthalbstündige Perioden, in denen Darwin das tut, was wir gemeinhin „Arbeit“ nennen. Er arbeitete in diesem Sinne etwa vier bis fünf Stunden am Tag. Der Rest ist schon schwieriger zu klassifizieren. Nennen wir ihn „Bummeln“. Darwin war ein Bummelant, ein Meister der Auszeit, was umso paradoxer anmutet, als Zeitverschwendung für ihn an ein Laster grenzte. Von seiner Weltreise auf der „HMS Beagle“ schrieb er zum Beispiel seiner Schwester: „Ein Mann, der es wagt, auch nur eine Stunde Zeit zu verschwenden, hat den Wert des Lebens nicht entdeckt.“ In seinen Tagebüchern gab er wie ein penibler Kontorist Rechenschaft über die Zeit, die er aufgrund von Krankheit verlor.

Vier Stunden genügen

Darwin ist keine Ausnahme. Bei vielen Wissenschaftern konstatieren wir dieses Muster eines von Auszeiten gespickten Arbeitstages. Henri Poincaré, der grosse französische Mathematiker, produzierte im Laufe seines Lebens ein Werk von beeindruckendem Gewicht: 30 Bücher, gut 500 Artikel, von der Zahlentheorie über Topologie bis zur Himmelsmechanik und Philosophie. Der Psychiater Edouard Toulouse konstatierte in seiner Studie über die „Intelektuelle Superiorität“ (1910), dass Poincaré etwa vier Stunden pro Tag „richtig“ arbeitete.

Vier bis fünf Stunden Arbeit ist auch bei vielen Künstlerm der tägliche Durchschnitt. Raymond Chandler sagte, dass es pro Tag eine Zeitspanne geben müsse, in der ein Profi nichts anderes tun sollte als schreiben, mindestens vier Stunden lang. Für Ingmar Bergman war es notwendig, jeden Tag pedantisch während einer solchen Dauer zu arbeiten, unabhängig davon, ob man in Stimmung war oder nicht. Joyce Carol Oates sekundierte: Man müsse nicht in Stimmung sein, um zu schreiben, sondern schreiben, um in Stimmung zu kommen.

Deliberatives Üben

Die Psychologen Karl Anders Ericsson, Ralph T. Crampe und Clemens Tesch-Römer publizierten 1993 eine Studie über die „Rolle deliberativen Übens im Erwerb von Expertenkompetenz“. Unter anderem beobachteten sie das Übungsverhalten von aussergewöhnlich begabten Violinschülerinnen und -schülern an der Berliner Hochschule der Künste. Diese Schüler, so zeigte sich, übten im Durchschnitt nicht länger als Normalbegabte. Sie taten dies aber fokussierter, organisierter, reflektierter – eben: deliberativer. Das bedeutet, Dinge immer wieder zu tun, die man noch nicht beherrscht; sich an den Grenzen seiner selbst zu bewegen und zu versuchen, diese Grenzen zu erweitern; aber auch, Dinge zu tun, die anderen belanglos erscheinen.

Die Ethnologen haben den Begriff „Tiefes Spiel“ für Tätigkeiten eingeführt, denen Outsider kaum Bedeutung beimessen, die von Insidern aber geradezu mit Lebensernst praktiziert werden. Auch Violinübungen haben für ambitionerte Schüler oft diesen Charakter des „tiefen Spiels“, das mit einer Sturheit und Ausdauer verfolgt wird, die man nur wenige Stunden aushält. Wie lange? Vier bis fünf Stunden pro Tag, sagen Ericsson et al. Ihr Schluss: „In den meisten Bereichen, wo Expertentum gefragt ist, beginnen die Menschen schon in der Kindheit mit einem Regime des deliberativen Übens zur Leistungsoptimierung (...) Viele Charakteristika, die man früher auf angeborene Talente zurückführte, sind tatsächlich das Ergebnis solch intensiven Übens, das sich über mindestens zehn Jahre erstreckt.“

Die 10‘000-Stunden-Regel

Die Studie erregte grosse Aufmerksamkeit, glaubte man doch, aus ihr eine Art von Trainingsanleitung zur Wunderkind-Produktion herauslesen zu können. Geht man nämlich von vier Stunden effektiven Übens und einer Fünftagewoche aus, dann ergibt dies gut tausend Stunden pro Jahr. Die Multiplikation mit der Mindestzahl Jahre, die Ericsson et al. als Investition in die Meisterschaft angeben, liefert uns die stolze Zahl von 10‘000 Stunden, die mindestens notwendig sind – sei man nun Tenniscrack, Schachmeister, Popsängerin, Ballerina, Maler oder Meistereinbrecher. Das ist die magische Zahl, die der Publizist Malcolm Gladwell in seinem Buch „Überflieger“ (Outlier) in Umlauf brachte. Wohl manche Lehrer, Trainer oder Eltern sahen darin einen Anstoss, ihre gehätschelten Hoffnungsträger und Weltklasseanwärter mit der 10‘000-Stunden-Regel zu traktieren.

Der Erfolg ist freilich nicht garantiert. Einmal abgesehen davon, dass man riskiert, notwendige mit hinreichender Voraussetzung zu verwechseln, ist die Regel unter Wissenschaftern alles andere als unkontrovers. Vor allem aber übersah der 10‘000-Stunden-Hype eine Beobachtung von Andersson et al.: Sowohl Übung als auch Unterbruch der Übung machen den Meister.

Die begabtesten Schülerinnen und Schüler erkannten nicht nur den Wert des deliberativen Übens, sondern auch der deliberativen Pause. Sie fanden früh heraus, dass die entscheidenden Lernsprünge sich häufig in der Auszeit ereignen, in der sich das Unbewusste abrackert. Sie lernten, nicht nur ihr Violinspiel, sondern auch die Pausen zu üben, zu verbessern. Pausen sind das unabdingbare Komplement des Übens. Beide zusammen bilden so etwas wie Diastole und Systole des kreativen Prozesses, jenen „stillen Widerspruch“, den Goethe in allem Lebendigen sah.

Das am Anfang angesprochene Paradox hat also eine einfache Lösung: Bummeln ist nicht Zeitverschwendung. Das Geheimnis des schöpferischen Geistes liegt gerade darin, dass er das, was er nicht tut, genau so ernst nimmt, wie das, was er tut. Er kultiviert das Nichtstun, aber nicht um des Nichtstuns willen. Kreative Menschen sind oft Arbeitsflüchter und Arbeitsaufschieber. Und zwar deshalb, weil sie ihre schöpferische Potenz nicht trotz, sondern wegen ihres Müssiggangs entfalten. Kreativität ist die Kunst, sich Auszeit zu nehmen, Pause zu machen, und diese Pause für sich arbeiten zu lassen.

Die Aufwertung der Routine

Dennoch darf neben dem gekonnten Pausieren etwas nicht vergessen werden: die Routine. Sie ist schlecht beleumdet, steht sie doch gewöhnlich für das genaue Gegenteil des Kreativen: für das Mechanische, Automatische, Geistlose. Deshalb müsste man, parallel zum Pausieren, eine alternative, höhere Werthaltung auch zu Routine und Automatismus entwickeln. Wir veräusserlichen Automatismen zu sehr an Maschinen, statt gleichzeitig ihre Verinnerlichung zu pflegen.

Der fundamentale Irrtum ist die Verwechslung der beiden Arten von Automatisierung. Die erste Art beschert uns ohne Zweifel Erleichterung und Entlastung, aber die zweite Art gehört zum Prozess der Menschenbildung. Das heisst, alle unsere Kulturtechniken eignen wir uns an über den mühsamen Weg des Nachahmens und Sich-an-explizite-Regeln-Haltens, bis sie schliesslich quasi in den „Rumpf“ impliziter Fähigkeiten sinken, als selbstläufige körperliche und intellektuelle Fertigkeiten: als Routine.

Nicht nur vermittelt uns die Routine eine gewisse „intuitive“ Sicherheit in der Beurteilung vieler Lebenssituationen, wir können aus dieser Routine auch immer wieder ausbrechen, um unsere bereits gewonnenen Fähigkeiten zu verbessern und zu verfeinern. Routine ist die Mutter aller Kreativität, im Handwerk wie im Kopfwerk. Darin könnte auch ein Grund liegen für die oft beobachtete, fast planetarische Regelmässigkeit im Tagesablauf schöpferischer Menschen.

Die Kunst des Scheiterns

Ray Bradbury, der Science-Fiction-Klassiker, entdeckte sein Schreibtalent mit zwölf Jahren. Von ihm stammt auch eine quantitative Regel: „Schreibe tausend Wörter am Tag, und in drei Jahren bist du Schriftsteller.“ Aber wie Bradbury sich erinnert: „Ich schrieb pro Tag tausend Wörter. Zehn Jahre lang schrieb ich mindestens eine Kurzgeschichte pro Woche, und irgendwie hoffte ich, dass ich dadurch Platz schuf, um wirklich etwas geschehen zu lassen. Das war dann 1942, als ich die Kurzgeschichte ‚The Lake’ schrieb. Alles, was ich zehn Jahre lang falsch gemacht hatte, wurde plötzlich zur richtigen Idee, zum richtigen Schauplatz, zu den richtigen Charakteren, zum richtigen Tag, zur richtigen kreativen Zeit. Ich schrieb die Geschichte draussen, mit der Schreibmaschine auf dem Rasen sitzend. Nach einer Stunde war die Geschichte fertig, die Nackenhaare sträubten sich mir und ich brach in Tränen aus. Ich wusste, ich hatte die erste wirklich richtig gute Geschichte in meinem Leben geschrieben.“

Wie Bradbury sagte, schrieb er, „um Platz zu schaffen“. Genau das trifft den Kern: Ritual, Routine, Regelmässigkeit schaffen Platz für Kreativität, für das erlösende „Heureka“. Kreativ wird nur, wer Routinen unterbricht – pausiert – , aber auch, wer Routinen durchbricht. Und das geschieht oft dadurch, dass man scheitert. Bradbury, könnte man sagen, scheiterte zehn Jahre lang. Das erinnert an Thomas Edisons erfolglose Versuche, eine marktreife Glühbirne zu entwickeln: „Ich bin nicht gescheitert. Ich kenne jetzt 10‘000 Möglichkeiten, wie man keine Glühbirne baut.“

Ich würde so weit gehen, auch – nein: gerade das Scheitern als inspirierend zu betrachten, im Sinn von Samuel Beckett: „Immer versucht. Immer gescheitert. Einerlei. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.“ Kürzlich äusserte sich der Spitzenbergsteiger Ueli Steck – den man ja füglich als kreativen Kletterer bezeichnen kann – in einem Interview ähnlich. Er, der Erfolgsgewohnte, überraschte mit der Aussage, dass das Scheitern für ihn allmählich den gleichen Wert erhalte wie der Triumph.

Das liesse sich so interpretieren, dass der Erfolg zur Routine geworden ist, und dass nicht der noch grössere Erfolg, sondern das Scheitern einen Ausbruch aus der Routineschleife darstellt. Kreativität hat immer zu tun mit solchen Ausbrüchen. Meist können sie nicht genau geplant werden, sie ereignen sich. Die grössten wissenschaftlichen Entdeckungen beruhen auf produktivem Scheitern. Und genau das ist ja auch das Faszinosum am Exploit: die Zelebrierung des Ungeplanten.

Kairos – der glückliche Augenblick

Üben, Bummeln, Routine, Scheitern – das sind die Antriebs- und Erhaltungskräfte der Kreativität. Sie treten bei jedem Menschen in individueller Mischung auf, und das entscheidende Moment des Schöpferischen lässt sich nicht rezeptartig festhalten. Der „richtige“ Zeitpunkt entzieht sich uns, bleibt ein Rätsel. Die alten Griechen nannten ihn „kairos“, und die Mythologie personifizierte ihn sogar als Gott: als Gott des glücklichen Augenblicks. Er hat in einer Arbeitswelt der Effizienz, Leistungsoptimierung und Abrufbarkeit kaum noch etwas zu suchen. Darum ist diese Welt auch so arg unglücklich.

Das erwähnte Buch von Alex Soojung-Kim Pang auf Deutsch: Pause. Tue weniger, erreiche mehr, Arkana, 2017. Pang führt auch einen Blog: http://www.deliberate.rest

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