Urteilsfähigkeit

Stephan Wehowsky's picture

Urteilsfähigkeit

Von Stephan Wehowsky, 19.02.2015

Von George Bernard Shaw soll das Bonmot stammen, dass die meisten Menschen über ihr schlechtes Gedächtnis, nie aber über ihr mangelndes Urteilsvermögen klagen.

Wie auch? Dann müssten sie in der Lage sein zu beurteilen, dass sie nicht urteilen können. Das ist ein Widerspruch, aber das Fatale ist, dass wir heute nur ganz einfache Fragen stellen müssen, um uns selbst mangelndes Urteilsvermögen zu attestieren.

Die Rede ist von den aktuellen Krisen in der Ukraine und um Griechenland. Unser Urteilsvermögen scheitert schon an der Tatsache, dass wir zwischen Propaganda und Information kaum unterscheiden können. Sollen wir nur den westlichen Medien glauben? Oder könnten andere Quellen auch etwas Wahres behaupten? Allein das ist schon schwierig. Noch schwieriger ist es, sich das, von dem täglich berichtet wird, vorzustellen. Können wir uns zum Beispiel vorstellen, wie ein Telefongespräch zwischen Merkel und Putin abläuft? Haben wir dafür auch nur den geringsten Vergleichspunkt aus unserer Erfahrung? Wie beginnt Merkel ein Gespräch, wie genervt reagiert Putin – oder umgekehrt? Und wie flüstern die Berater?

Und Griechenland. Können wir beurteilen, ob die politischen und administrativen Akteure der Europäischen Union und die obersten Hüter der Währung endlich einmal letzte Prinzipien durchsetzen müssen oder ob ein Staatsbankrott Griechenlands unabsehbare Konsequenzen hätte, die um jeden Preis zu vermeiden sind? Haben wir eine Ahnung davon, wie ein derartig kleines Land in rekordverdächtig kurzer Zeit dermassen gigantische Schulden aufhäufen konnte, dass ganz Europa dadurch in Mitleidenschaft gezogen wird?

Man stelle sich vor, wir müssten vor einer Prüfungskommission Fragen dieser Art beantworten. Da wären wir ganz schön angeschmiert. Aber auf unsere Urteilsfähigkeit kommt es an, denn die Demokratie verlangt nach dem „mündigen Bürger“ und die Politiker wollen unsere Zustimmung. Wir sollen den Experten und den Entscheidern Urteilsfähigkeit zubilligen. Wie aber, wenn wir von unserer eigenen Urteilsunfähigkeit auf deren Urteilsunfähigkeit schliessen müssten? Oder sollen wir annehmen: Die wissen schon, was sie tun, aber wir können es leider nicht beurteilen?

Ähnliche Artikel

Manès Sperber, Dichter und Essayist, sagte einmal, dass jeder, der ein Kind zeugen und jede, die ein Kind gebären könne, seit Jahr-hunderten geglaubt habe, dass diese Tätigkeit gleichzeitig die Befähigung zur Erziehung der Kinder mit sich bringe; und dass die meisten Menschen in dem Augenblick, da sie begännen, Zeitung zu lesen und über Politik sprechen zu hören, sich berechtigt fühlten, in den Tagesstreit einzutreten. So aber wie Erziehung zu den schwierigsten Tätigkeiten des Menschen gehört, so ist politisches Wissen überaus schwer erwerbbar und relativ selten anzutreffen. Und deshalb ist er der Überzeugung, dass eine der grössten Gefahren für die Menschheit heute, viel grösser als die Unwissenheit für die Zeitgenossen Sokrates', die "praktikable Unwissenheit" sei.
Und zu dieser Praxis sagt Milan Kundera: Wir alle sind einem "Wirbel der Reduktion" ausgesetzt. Die nicht mehr zu bewältigende Masse von Konsum, Information, Vergnügen, Arbeit, Mobilität etc. zwingt zur Vereinfachung. Die genialste ist die binäre, das Null/Eins-Prinzip, worauf die IT-Revolution beruh. In ihrer banalsten Ausprägung wird sie von den Massenmedien bedient, die als Handlanger der Weltgeschichte den Reduktionsprozess erweitern und kanalisieren. Sie verbreiten weltweit die gleichen Vereinfachungen und Klischees, die eine möglichst grosse Zahl von Menschen akzeptieren kann. Was eine Ahnung davon gibt, worauf die Urteilsfähigkeit gründet und wer sie wie beeinflusst.

Presse-Club des Verschweigens!
Tun sie es nicht, wollen sie nicht, können oder dürfen sie nicht?
Komischerweise ist immer öfters von Lügenpresse die Rede. Dabei habe ich nirgends Lügen entdecken können, nur einseitige Berichterstattungen oder gezieltes Weglassen, das habe ich sehr oft beobachtet. Da Standpunkte verschieden sind, müsste den Journalisten und Redaktoren klar sein, dass auch Sichtweisen relativ sind. Ansonsten müssten sie sich mit der Relativitätstheorie nochmals auseinandersetzen. Da werden für jeden erkennbar wichtige Themen, obwohl Fakten vorhanden, einfach verschwiegen, einfach weggelassen und an Stelle von „Brandheiss“ völliger Unsinn hoch 10 aufgebauscht um abzulenken. Sex scheint unter anderem so ein Dauerbrennen zu sein. Man muss ja den Skeptikern nicht unbedingt zum Munde reden, aber wichtige Tatsachen zu verschweigen bringt einem dann leider den Ruf von Lügenpresse ein. Logisch oder nicht? Qualitäten sind ja genug vorhanden .Schade eigentlich!...cathari

SRF Archiv

Newsletter kostenlos abonnieren