Viktor Dormann: Religion im Gegenwind

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Viktor Dormann: Religion im Gegenwind

Von Gastkommentar, 16.12.2010

Viktor Dormann ist katholischer Theologe und Publizist. Er war Pfarrer von Laufen (BL), hat geheiratet und das ihm anvertraute Priesteramt zurückgegeben. Er war sieben Jahre lang Chefredaktor der katholischen Wochenzeitschrift "Sonntag". Von 1995 bis 1996 gehörte er zum Team der Sendung «Wort zum Sonntag» des Schweizer Fernsehens SF.

Von Viktor Dormann

„Die frömmsten Cheiben sind oft die schlechtesten Siechen“, hat einer meiner Onkel – als katholischer Priester hatte er entsprechende Erfahrung – vor Jahrzehnten festgestellt. Die Situation hat sich unterdessen kaum verändert; die vielen aufgedeckten Fälle sexuellen Missbrauchs von Kindern durch Kleriker der katholischen Kirche sind ein leidvolles Beispiel dafür.

Darüber hinaus zeigen Religionen rund um die Erde weitere bedenkliche Züge. In der medialen Öffentlichkeit prägen fundamentalistische oder gar terroristische Gruppen die Wahrnehmung, seien es fanatische Hindus in Indien mit ihren Anschlägen auf Christen und Muslime, „Gotteskrieger“ in Form von Selbstmordattentätern im Islam, aggressive jüdische Siedler in Palästina oder christliche Vereinigungen in den USA, in deren Geist etwa der frühere US-Präsident George W. Bush sich als Kämpfer gegen die „Achse des Bösen“ berufen fühlte und fahrlässig Krieg anzettelte. Oder in deren Geist Anhänger des sogenannten Kreationismus die Schöpfungstexte der Bibel bis heute wortwörtlich verstehen und sich gegen unabweisbare Erkenntnisse der Evolutionslehre völlig verbohrt zeigen.

Auch die katholische Kirche äussert sich in manchen aktuellen Fragen mehr rückwärts gewandt als weiterführend. Ihre Doktrin etwa in Fragen der Geburtenplanung und Sexualität wirkt lebensfremd statt lebensfreundlich. Der Ausschluss der Frau von kirchlichen Weiheämtern wird von vielen Zeitgenossen als sexistisch empfunden, der Umgang mit Geschiedenen als erbarmungslos. Kommt dazu, dass sich gerade traditionalistische Fromme, die in jeder Reform Verrat wittern, selber gern als Verkörperung wahrer Religiosität empfinden und so das Erscheinungsbild ihrer Glaubensgemeinschaften übermässig stark prägen.

Atheismus als Programm

Wenn daher Kirchen und Religionen in der Öffentlichkeit manchenorts ein kalter Wind entgegen bläst, ist der darin bezeugte Widerstand unter Umständen durchaus berechtigt. Manche Fragen werden ja auch innerhalb der betroffenen Glaubensgemeinschaften kontrovers behandelt. Dass vor diesem Hintergrund ein „bekennender“ Atheist wie etwa der englische Zoologe und Biologe Richard Dawkins kein Blatt vor den Mund nimmt und Schwachpunkte der Religionen gleich bücherweise zusammenträgt, ist nicht verwunderlich. Dawkins beschränkt seine Kritik allerdings nicht auf kirchliche Betriebsunfälle, sondern stellt den Gottesglauben grundsätzlich als krank dar, wenn er diesen im gleichnamigen Buch als „Gotteswahn“ bezeichnet.

Wahn definiert er dabei als „dauerhaft falsche Vorstellung, die trotz starker entgegengesetzter Belege aufrecht erhalten wird“. Der Gott der Bibel ist seiner Ansicht nach ein „kleinlicher, ungerechter, nachtragender Überwachungsfanatiker, ein rachsüchtiger, blutrünstiger ethnischer Säuberer, ein frauenfeindlicher, homophober, rassistischer, Kinder und Völker mordender […] Tyrann“.

Wie gesagt: Religion ist in manchem kritikwürdig, und Gläubige können nicht jede sie befremdende Äusserung Andersdenkender als Verletzung ihrer religiösen Gefühle abtun. Allerdings offenbart auch ein Religionskritiker wie Dawkins erhebliche Schwachstellen. In seiner Demontierung des Glaubens erscheint mir vor allem der Umgang mit der Bibel fragwürdig. Wenn Dawkins als Evolutionsbiologe gegen Gläubige zu Felde zieht, die den biblischen Schöpfungstext von der Erschaffung der Erde in sechs Tagen als wissenschaftlichen Tatsachenbericht verstehen, tut er dies zu Recht.

Völlig unverständlich ist es aber, wenn er selbst in der Folge die ganze Bibel von A bis Z wortwörtlich verstanden wissen will und andere Deutungsformen als blosses „Herauspicken“ nach persönlichen Vorlieben disqualifiziert. Dabei unterschied die Exegese schon im Altertum einen vierfachen Schriftsinn und entwickelte in den letzten 150 Jahren mit modernen Methoden der Textkritik weitere Zugänge. Dawkins Deutungsmuster der Bibel ist ein Zerrbild, das sich in dieser Form leicht abschiessen lässt. In diesem Punkt hat er sogar die zeitgenössische Theologie samt der päpstlichen Bibelkommission auf seiner Seite.

Vernünftig glauben

Dawkins verkennt, dass die rund siebzig verschiedenen Texte der Bibel im Zeitraum von über tausend Jahren entstanden sind, so dass das darin bekundete Gottes-, Welt- und Menschenbild nicht einheitlich ist, sondern eine Entwicklung – Evolution auch hier! – durchmachte. Ein Beispiel dafür sind die Aussagen über Krieg und Gewalt, nach denen Dawkins Gott als den erwähnten „ethnischen Säuberer“ und „Völker mordenden Tyrannen“ charakterisiert.

Tatsächlich finden sich in der Bibel Texte, die das hemmungslose Ausleben von Gewalt gegen Feinde ungebrochen darstellen. Doch da steht auch der Aufruf zur Feindesliebe mit dem Impuls, die Spirale von Gewalt und Gegengewalt aufzubrechen. Oder da muss der im Einsatz von Gewalt nicht zimperliche König David erleben, wie diese Mentalität seine eigene Familie zerstört, indem sich seine Söhne im Kampf um die Königsnachfolge umbringen – Gewaltkritik nicht mit der Moralkeule, sondern durch die nüchterne Darstellung der Folgen von Gewalt. Die Bibel zeigt die Welt, wie sie ist, und eröffnet eben darin Wege, in Sachen Menschlichkeit voranzukommen. Dabei reflektiert sie selber kritisch, wo Menschen Gottes Namen missbrauchen. Bei manchen Propheten und auch bei Jesus klingt dies mitunter nicht weniger deutlich als bei einem Atheisten wie Dawkins. Christen haben keinen Grund, Religionskritik ihren Gegnern zu überlassen, sondern sind selber zu einem vernünftigen Glauben ermächtigt.

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Sehr geehrter Herr Dormann

Sie sagen: „Die Bibel zeigt die Welt, wie sie ist, und eröffnet eben darin Wege, in Sachen Menschlichkeit voranzukommen.“

Sie erachten es als unproblematisch, dass die Texte der Bibel alles andere als einheitlich sind, weil sie aus verschiedensten Quellen stammen und aus verschiedenen Epochen. „Nicht einheitlich“ ist aber eindeutig beschönigend gesagt, die Texte sind oft schlicht widersprüchlich. Das Gebot, nicht zu morden, findet sich genauso wie der Aufruf zum Kindermord („Tochter Babel, der Verwüstung verfallen, Heil dem, der dir vergilt, was du an uns verübt! Heil dem, der deine Kinder packt und am Felsen zerschmettert!“ Psalm 137:8-9). Wie also sind die heiligen Texte zu verstehen? Wollten Sie im Ernst andeuten, es gäbe die korrekte Exegese oder auch nur so etwas wie eine tief verborgene, innere, einheitliche Logik in diesen Texten? Das wäre eine ebenso kühne Behauptung wie jene, die Bibel zeige die Welt, wie sie ist. Das Dilemma der allegorischen Interpretation der „heiligen Texte“ ist und bleibt deren Beliebigkeit.

Die Bibel beschränkt sich keineswegs auf eine reine Darstellung der Welt in ihrer Widersprüchlichkeit. Sie enthält, wie andere „heilige Texte“ auch, jede Menge an Geboten und Verboten. Und diese sind zumeist streng deontologisch formuliert: Du sollst nicht morden, nicht stehlen, nicht die Ehe brechen usw. Die religiösen Gebote und Verbote schreiben vor und verbieten in einer absoluten Weise, ungeachtet der Umstände oder ihrer Konsequenzen. Deontologische Ethiken bieten in der Praxis zahlreiche Probleme. A) Sie bieten keinerlei Hilfe, wenn gleichzeitig mehrere Güter abzuwägen sind (moralische Dilemmas). Das bekannteste Paradox ist die Tyrannen-Mord-Frage. Das biblische Gebot verbietet einen Mordanschlag auf Adolf Hitler, auch wenn damit Millionen von Menschenleben gerettet werden könnten. B) Deontologische Ethiken sind blind für die Schuld, die durch Unterlassungen entstehen kann. C) Sie gebieten nicht, gegen Gebotsübertretungen anderer einzuschreiten. D) Streng deontologische Ethiken sind weder entwicklungs- noch anpassungsfähig. Die Bibel als Produkt einer (kulturellen) Evolution hinzustellen, ist sachlich falsch. Sie ist ein Produkt der Variation, des Nacherzählens, des teils falschen Übersetzens und des Ausschmückens. Evolution findet nur statt, wo Variation und Selektion vorhanden ist.

Variation ist im Überfluss vorhanden, nicht nur innerhalb der Bibel, etwa mit den vier Evangelien. Gemäss Daniel C. Dennett (Den Bann brechen. Religionen als natürliches Phänomen. Insel Verlag, 2008) verzeichnen die Almanache allein mehr als 30‘000 verschiedene christliche Kirchen. Gesamthaft gibt es noch viel mehr Religionen mit zum Teil von der christlichen Bibel stark abweichenden „heiligen Texten“ und Vorstellungen. Die fortlaufende Aufspaltung scheint ein konstitutives Charakteristikum des sozialen Phänomens „Religion“ zu sein. Angesichts der Vorstellungsvielfalt potenzieren sich die Probleme, anhand von „heiligen Texten“ zur wahren Anschauung der Welt zu gelangen, „wie sie ist“.

Es fehlt die Selektion. Es gibt kein Korrektiv, das für eine laufende Anpassung des biblischen Textkonglomerates an die sich ändernden Lebensbedingungen der Menschen sorgen würde - und die ökumenischen Bewegungen verlaufen regelmässig im Sand. Nach welchen Kriterien sollte man sich denn auch einigen und „vernünftig glauben“ können, wie ihr Zwischentitel lautet? Die biblischen Aussagen über Gott sind empirisch nicht überprüfbar. Wir haben keinerlei Hinweise auf die Existenz Gottes. Wie kann da Glaube an ihn „vernünftig“ sein? Glaube ist nicht falsifizierbar. Gläubige glauben, egal wie beharrlich Gott schweigt. Vernunft kommt nicht zum Zuge, wenn ernsthaftes Zweifeln ohne ein schlechtes Gewissen unmöglich ist.

Auf der anderen Seite fehlen in der Bibel andere wichtige Prinzipien, die uns tatsächlich geholfen haben „in Sachen Menschlichkeit voranzukommen“: Demokratie, Meinungsfreiheit, Gleichberechtigung. Im Gegenteil, die Frau ist Besitz des Mannes, wie Rind und Esel (10. Gebot der Bibel, das zugleich die Sklaverei sanktioniert, wie eine andere Bibelstelle auch: 1 Kor. 7,21f). Homosexualität ist mit dem Tod zu bestrafen (Lev. 20,13) usw. Wie Sie wissen, mussten Demokratie, Meinungsfreiheit, Gleichberechtigung in Europa gegen den erbitterten Widerstand der Kirche errungen werden.

Die Menschheit schreit nach Hilfe und nach Errettung.Das war zu jeder Zeit so.Erwachsene sind eben wie Kinder,wenn man keinen Ausweg mehr findet schreit man nach Gott, genauso wie die Kinder nach der Mutter.Verstehe wer es kann.Gott ist immerwährend in allen Dingen enthalten würde aber bedeuten dass der Umgang mit allen Wesen und Dingen ein anderer sein müsste.Die Logik sagt uns heute das nach physikalischen Erkentnissen von den Bindungskräften der Atome bis hin zu der komplexen biologischen Vielfalt zumindest hinter dieser Manifestation ein Programm steht.Nennen wir es Schöpfung.Dazu gehört hell und dunkel,gut und böse,oben und unten,heiss und kalt ev.sogar Himmel und Hölle was immer das sein mag.Keine daraus entstandene Religion hat sich meines wissens an ihre eigenen Vorgaben gehalten im Gegenteil.Zur Machterhaltung sind regelrechte Märchen entstanden um das Fussvolk besser zu beherrschen.Den Einen verspricht man dutzende Jungfrauen den Anderen ev. einen hübschen Minestranten wer weis?Solange wir Gott nicht als Matrix verstehen und uns in Märchenwelten bewegen, werden die klugen Worte von Jesus nicht verstanden werden.Wer aber lernt in bedingungsloser Liebe zu leben das heisst ohne den eigenen Egoismus in den Vordergrund zu stellen und immer daran denkt:" Wer von euch ohne Schuld ist werfe den ersten Stein" der könnte es schaffen.Gott ist immerwährend, weder gut noch böse und er gibt euch sogar die Freiheit gut oder böse zu sein, wie ihr wollt. Nur versteht leider jeder etwas anderes darunter.So wie sich der dreifaltige Gott, Vater Sohn und heiliger Geist =( Energie, Materie und der Geist schlechthin ) entfaltet hat, möchte das Individum sich auch entfalten.Aber wie soll das gehen in einer Gesellschaft die jeden durch Massen von künstlich und egoistisch geschaffenen Gesetzen bis zum ersticken einschnürt?Wenn ihr tot seid kommt ihr in die Legokiste der Atome ( nach der Theorie von A.Einstein ) habt ihr das gewusst? Es grüsst ein Hobbytheologe.

Könnten Sie, Herr Dorrmann, sich vorstellen, dass die Essenz der Religionen das grosse Wunder des Seins ist, und die trennenden Bilder das Resultat unterschiedlicher Prägungen inbezug auf soziales und kulturelles Umfeld sowie der historischen Situation sind? Geht es statt um ein inter-religiöses um ein trans-kulturelles (oder -religiöses) Verständnis?

Unter www.global-spirituality.info finden Sie einen entsprechenden, meiner Ansicht nach gelungenen Versuch. Keine Religion oder spirituelle Tradition ist ausgeschlossen, nicht einmal die (spirituellen) Atheisten.

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