Vom Wert der Wildnis

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Vom Wert der Wildnis

Von Helmut Scheben, 02.12.2013

Von Jack Wolfskin bis Icebreaker, von Tissot bis Völkl: die Ware wird als Eintrittkarte zur Wildnis verkauft

Wer die Wörter Wildnis oder Wilderness im Google eingibt, der landet bald einmal bei Funktions-Unterwäsche für Antarktis-Abenteuer, bei Himalaya-tauglichen Uhren, bei Freeride-Ski, Foto-Safaris in Namibia oder Luxus-Kreuzfahrten auf dem Amazonas.

Das Wilde und die Wildnis: noch nie gab es so gute Brandbeschleuniger für das Konsumfeuerwerk der Outdoor-Branche.  Im Gleichschritt mit der Abholzung der Regenwälder geht die Produktion von Traumwelten der Wildnis. Der Run auf die Restbestände an unberührter Natur ist nur allzu verständlich.

Denn im Zeitalter der digitalen Weltabbildung besteht die Gefahr,  dass uns die materielle Realität abhanden kommt.  In der urbanen Gesellschaft ersetzen elektronische Geräte und Roboter mehr und mehr die körperliche Arbeitskraft.  Die Menschen suchen Wege, um zur materiellen Realität zurückzufinden. Viele verspüren ein wachsendes Bedürfnis nach physischem Kontakt mit der Natur.  

Die gemietete Kuh

Im Appenzellischen kann man eine Kuh mieten. Für 300 oder 400 Franken in der Alpsaison. Man kann sie anfassen, die Kinder können sie streicheln. Man darf auch mal probeweise einen Eimer Milch von Hand melken, man bekommt Käse zum Vorzugspreis und sicher auch noch ein Burezmorge auf der Alp. 

(Fotos: Helmut Scheben)
(Fotos: Helmut Scheben)

Es ist banal festzustellen, dass die Geschichte Geschichte ist, und dass  am Ende auch die Schweiz der Bergbäuerinnen und Matterhorn-Bezwinger sich in rasendem Tempo in eine Schweiz der Landschaftspfleger und Tourismus-Unternehmer verwandelt hat. Selbst wenn wir einräumen, dass die Bilder der Milka-Kuh-Schweiz  und der  Matterhorn-Schweiz immer nur Teil der geschäftstüchtigen Vermarktung eines Mythos waren, es gab dahinter wie bei jedem Märchen eine materielle Wirklichkeit. Aber diese Wirklichkeit ist – in einem Land in dem durchschnittlich alle 43 Minuten ein neues Einfamilienhaus fertiggestellt wird und in dem pro Sekunde mehr als ein Quadratmeter Boden zugebaut wird - längst Freiluftmuseum geworden.

Die Anfänge des Wildnis-Begriffs

Der amerikanische Geologe Ferdinand Hayden schlug 1871 dem Kongress vor, das Gebiet um den Yellowstone River als Schutzgebiet auszugrenzen. Andernfalls drohe die Gefahr, dass die Profitgier das Gebiet zerstöre (…to make merchandise of these beautiful specimens). Und der legendäre Naturforscher und Wildnis-Prophet John Muir, der um die gleiche Zeit  im Yosemite-Gebiet lebte,  schrieb in einem seiner Texte: „Gott hat für diese Bäume gesorgt, er hat sie vor Sturm und Flut bewahrt, aber er kann sie nicht vor Verrückten bewahren. Nur Uncle Sam kann das.“

Die USA haben heute 59 Nationalparks, und viele weitere Gebiete sind als National Monuments von der Besiedlung oder wirtschaftlichen Nutzung ausgeschlossen. Die amerikanischen Parks leiden zwar zum Teil unter dem Ansturm des Massentourismus, doch die USA haben auch wirkliche Wilderness-Zonen bewahren können.  In grossen Wüstengebieten im Südwesten ist jeglicher Zutritt mit Motorfahrzeugen untersagt. Es gibt keine Infrastruktur, man darf die Gebiete nur zu Fuss betreten, man darf keinerlei Spuren hinterlassen.

Der Streit um Schutzgebiete

In der Schweiz kämpfen nach wie vor Alpenschutzorganisationen gegen die kommerzielle Vermarktung und Verbauung der letzten Wildnisgebiete. Die grossen Kältewüsten und Felslandschaften sollen nicht zu Fun-Parks und Kletterhallen umgebaut werden.

Aber hallo, wenden viele ein, das ist doch alles sinnloses Lamentieren, viel Nostalgie und Retro-Frivolität. Wenn die Berge zum Funpark umgebaut werden, dann ist es eben so. Wer hat eigentlich etwas gegen Funparks? Die technische Entwicklung war noch nie aufzuhalten, sagen andere. Oder hätten wir im grausamen Mittelalter stehen bleiben sollen?

Das sind –  man vergebe mir die freimütige Formulierung   –  blödsinnige Argumentationen. Denn Zivilisationsprozesse und technische Entwicklung sind nie gradlinig verlaufen. Es gab Fortschritte, aber oft auch  fatale Irtümer, die als Fortschritte gefeiert wurden und später korrigiert werden mussten.

Man kann Bäche renaturalisieren, wenn man gewahr wird, dass die Kanalisierung Überschwemmungen zur Folge hat. Es gibt Gemeinden, welche – statt subventionierte Schneekanonen zu kaufen –  ein paar Skilifte abbauen, wenn sie sehen, dass es jeden Winter weniger Schnee hat und dass die Ruinen der Tourismus-Industrie die Gegend nicht attraktiver machen. 

Verhangen von Klischees

Sicher ist Wildnis kein harmloser geographischer Begriff. Das Wort ist verhangen von Klischees. Es wurde okkupiert von literarischen Bewegungen und naturphilosophischen Thesen. Es ist kein Zufall, dass die Naturschwärmerei und Verherrlichung der Wildnis-Landschaften und des wilden Menschen („le bon sauvage“) von Philosophen, Literaten und Malern ausging, die um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert im Rauch der Fabriken der grossen Städte lebten und die Industrialisierung mit ihren neuen  sozialen und ökonomischen Zwängen täglich am eigenen Leib erfuhren. Wildnis war die Befreiung aus diesen Zwängen, sie wurde zum Symbol für Reinheit und Unschuld.

Natürlich ist es ein sinnlos, idyllischen Vorstellungen von Wildnis als einem Paradies auf Erden anzuhängen.  Ein langer zivilisatorischer Prozess hat die Alpen über Jahrhunderte  hinweg in eine Kulturlandschaft verwandelt. Das ist nicht rückgängig zu machen. Doch es gibt eine Menge Gründe für den Schutz von noch existierenden Wildnisgebieten. Eine Aussichtsplattform auf einen Gipfel zu bauen ist etwas grundsätzlich anderes als Lawinenverbauungen zum Schutz von Strassen oder Siedlungen. Und selbst diejenigen, die ihre Priorität einzig im schnellen Geld-Machen sehen, könnten den Sinn von geschützten Landschaftszonen begreifen, wenn man sie an das Milliarden-Business des Grand Canyon erinnert.

Das Risiko der Einsamkeit

Doch es geht um mehr als Ökonomie und Ökologie. Wildnis ist auch so etwas wie ein moralisches oder kulturelles Kapital. Sie ist ein Medikament gegen unseren Machbarkeitswahn. Eine Impfung gegen unsere Angst vor Kontrollverlust.

Denn Wildnis heisst: den Weg suchen. Man kann sich irren und muss umkehren. Man wird viel Zeit brauchen. Man ist der Natur  ausgeliefert. Wo keine Treppenstufen, kein Klettersteig-Drahtseil uns absichern, wo kein Restaurant uns erwartet, kein Lift, keine Strasse, kein Parkplatz uns bequemes Fortkommen versprechen, dort sind wir plötzlich mit uns selbst allein und konfrontiert mit der Möglichkeit unseres Scheiterns. Letzlich wäre Wildnis also auch das Territorium, in der uns das Prekäre und Hinfällige unserer Existenz bewusst werden könnte.

Die einen halten dies für eine Chance, für andere ist es ein Horror. Eine Gesellschaft, die glaubt, sie müsse alles ständig versichert und unter Kontrolle haben, wird wirklicher Wildnis mit Misstrauen begegnen.  Wildnis ist schwer zu ertragen für Menschen, die unentwegte Beschleunigung für Lebendigkeit halten und Langsamkeit für Krankheit und Tod. 

Wenn ich Wildnis in einem Satz beschreiben sollte, dann wäre es eine Strophe des argentinischen Sängers Atahuallpa Yupanqui, er war ein Urgestein der Nueva Canción Latinoamericana: „De tanto vivir entre piedras, yo creí que conversaban.“ Hab‘ solange zwischen Steinen  gelebt, dass ich glaubte, sie könnten sprechen.

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Literatur:  Elsbeth Flüeler, Marco Volken u.a. Wildnis. Ein Wegbereiter durchs Gebirge.Mountain Wilderness. Zürich 2004

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