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16. Februar 2021

Wulff und der journalistische Zynismus

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Wulff und der journalistische Zynismus

Von Reinhard Meier, 20.01.2012

Mein Journal21-Kollege René Zeyer hat eine bitterböse Polemik zur Affäre um Bundespräsident Wulff geschrieben. Dessen Schwächen seien typisch für die deutsche Politiker-Gilde, ja überhaupt für Politiker. Mit dieser zynischen Pauschalisierung bin ich nicht einverstanden. Sie verhöhnt im Grunde die Demokratie.

Der Beitrag „Rettet den Präsidenten“ meines Kollegen René Zeyer trieft von Zynismus und Hohn über den immer noch amtierenden deutschen Bundespräsidenten Wulff, der eine „idealtypische deutsche Politikerkarriere hingelegt“ habe. („Konkurrenten weggebissen, Schwächere niedergemacht, sich Stärkeren gebeugt“). Die Wulff attestierten Merkmale werden als absolut repräsentativ für Politiker in unserem nördlichen Nachbarland erklärt. Er verkörpere von den „schlechtsitzenden Anzügen“ bis zur „steifen und humorfreien Haltung“ den „typischen Saubermann, wie ihn die Deutschen lieben“.

Es geht nicht um Wulff, sondern um „die Politiker“

Mir geht es bei meinem Einspruch nicht um die Verteidigung von Wulff, dem man gewiss einige Ungeschicklichkeiten und Fehler ankreiden kann – aber bisher keine rechtlichen Missetaten. Es geht um die pauschale Herabsetzung und Verhöhnung nicht nur des politischen Personals in Deutschland, sondern mehr oder weniger sämtlicher Zeitgenossen, die sich hauptberuflich im politischen Geschäft engagieren. Berufspolitiker seien „in grosser Mehrzahl Vagabunden, Dummredner und Schönfärber, Sesselkleber...Intriganten und Nieten“, schreibt Zeyer.

Es mag ja sein, dass der Autor mit solchen Pauschal-Verdikten manchen Bürgern aus der Seele redet – ich vermute, es sind vor allem die Stammtisch-Maulhelden. Doch offenbar geht das seit Wochen von vielen Medien veranstaltete Skandal-Theater um die (eher biederen als atemraubenden) Peinlichkeiten des Berliner Bundespräsidenten allmählich einem grösseren Teil des deutschen Publikums auf die Nerven. „Die Bürger misstrauen den Journalisten inzwischen ebenso wie der Politik“, zitiert diese Woche die NZZ eine deutsche Zeitung.

Verwunderlich ist das nicht. Denn wer einen Amtsträger wie Wulff derart beckmesserisch abqualifiziert und wer im gleichen Aufwasch die gesamte Politikergilde in den Schmutzkübel der moralischen Verkommenheit haut, setzt sich auf ein sehr hohes Ross. Zumindest der skeptische Zeitgenosse – und von denen gibt es offenbar mehr, als manche medialen Moral-Schiedsrichter vermuten – stellt sich natürlich die Frage, ob denn jene Journalisten, die auf dieses Ross steigen, es mit hehren Tugenden wie Wahrheit, Seriosität, Integrität. Augenmass und Glaubwürdigkeit, die sie den Politikern so häufig absprechen, selber immer so vorbildlich halten.

“Bild“ als moralische Instanz?

Es entbehrt ja nicht der tiefen Ironie, dass ausgerechnet das Boulevardblatt „Bild“ – das nie von einer zynischen Manipulation zurückgeschreckt, wenn das der Auflage und dem seichten Klatschbedürfnis dient – die Kampagne gegen Wulff ins Rollen gebracht hat und diese weiter kühl kalkulierend orchestriert. Jedenfalls müsste man sich auch einmal fragen, weshalb denn das Ansehen der Medienleute in der öffentlichen Meinung insgesamt kaum höher steht als dasjenige der Politiker, bei denen es sich gemäss René Zeyers Analyse grossmehrheitlich um Dummköpfe oder Intriganten oder beides zusammen handelt.

Solche pauschalen Abqualifizierungen der Politiker laufen letzten Endes auch auf eine Verhöhnung der Demokratie hinaus. Denn was immer man gegen ihr Tun und Verhalten vorbringen mag – in Deutschland wie in andern funktionierenden Rechtsstaaten sind die Politiker in den führenden Ämtern nach verfassungsmässigen demokratischen Regeln gewählt, sei es direkt vom Volk oder indirekt durch die vom Volk gewählten Parlamente. Wenn diese Amtsträger aber generell als „Warmluftproduzierer und gescheiterte Existenzen“ tituliert werden, wird im Grunde auch das Volk, das sie – direkt oder indirekt – gewählt hat, als ignorant und dümmlich herabgewürdigt. Dieses Volk ist offenbar nicht intelligent genug, die richtigen Leute zu wählen. Wer die richtigen Politiker sein könnten, darüber schweigt sich der Autor aus.

Die historische Perspektive

Damit komme ich zu meinem letzten Widerspruch gegen die Generalverunglimpfung der deutschen Politiker. Wenn diese Politiker alles nur „Vagabunden“, „Dummredner“ und „Nieten“ sind, wie behauptet: Weshalb ist dann Deutschland heute der wirtschaftlich stärkste und politisch stabilste Staat unter den grossen Demokratien in Europa? Weshalb ruhen die grössten Hoffnungen auf eine eventuelle Rettung des Euro auf Deutschland? Und weshalb ist die deutsche Nachkriegsdemokratie (wir reden hier nicht von der gottseidank untergegangenen DDR) historisch gesehen das erfolgreichste und für seine Nachbarn verträglichste deutsche Staatswesen der Geschichte? Etwas mehr Distanz zu den tagespolitischen Aufgeregtheiten führt meist zu einem realitätsnaheren Bild.

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zweiter Kommentar! Sehr geehrter Herr R. Zeyer jetzt nur nicht gleich handzahm werden. Es gibt Bürger,Spiessbürger und Wutbürger. Alle brauchen eine Stimme. Deswegen eher zwei mal überarbeiten, Streubomben weglassen und den Henry-Stutzen zuschweissen. Es wäre wirklich schade wegen haus- internen Differenzen ihre Stimme zu verlieren.

Danke! So eine Erwiderung habe ich mir gewünscht. Zynismus kann ja oft unterhaltend sein, aber zu dick aufgetragen beginnt er zu nerven und dann interessiert auch der Inhalt nicht mehr.

Ich danke Reinhard Meier für die überfällige Replik auf René Zeyer's Suada. Die stets polemischen Zeyer-Beiträge sind zwar unterhaltsam, dem publizistischen Journal21-Niveau jedoch nicht dienlich. Mit Erleichterung stelle ich fest, dass Zeyer auch hausintern Widerstand erwächst.

Lieber Herr Meier

Einen Kritiker angreifen mit:

" Frage, ob denn jene Journalisten, die auf dieses Ross steigen, es mit hehren Tugenden wie Wahrheit, Seriosität, Integrität. Augenmass und Glaubwürdigkeit, die sie den Politikern so häufig absprechen, selber immer so vorbildlich halten."

das ist zu billig und passt nicht zu Ihnen.

Zugegeben, Wulff beschmiert sein Amt mit Lappalien. Allerdings fast täglich. Wäre er meinetwegen Minister und wäre er tüchtig, dann könnte man das vielleicht ertragen.

Das Deutsche Volk hat jedoch Anspruch auf einen Staatspräsidenten mit Würde und Intelligenz.

Danke für diesen Artikel. Ich teile ihre Meinung in vielen Punkten. René Zellweger ist einfach und leicht zu lesen, löst sicherlich auch viel schmunzeln aus, spricht sicherlich auch viel Richtiges und Wichtiges an. Aber die Wortwahl ist sehr von oben herab und eher selten konstruktiv. Da ist noch viel Verbesserungspotential vorhanden.

Ich denke Sie haben recht! Zynismus, Sarkasmus oder Spott? Es gibt Grenzen die nicht überschritten werden sollten. Selbstverständlich hat Deutschland ein hochstehendes Demokratieverständnis und gute Politiker. Obwohl wir Schweizer damals die humorvolle Seite des Hanseaten Peer Steinbrück anfangs auch nicht erkannten und nicht einschätzen konnten, haben wir später eingesehen,dass gerade mit ihm ein europäisches Triumvirat effizient werden könnte. Ich meine Merkel,Steinbrück,Sarkozy als kompetente Europaretter. Selbstverständlich war auch Ch.Wulff nie so schlecht, wie er durch die Treibjagd der Medien dargestellt wurde. Mit den Wölfen heulen,scheint heute ein Massensport für Null-Toleranzler geworden zu sein.

Danke, Herr Meier! Ihre Antwort entspricht in etwa meiner Meinung. Ich hatte Herrn Zeyer ja an entsprechender Stelle schon mitgeteilt, dass ich mir etwas nüchternere Artikel von Journalisten (im speziellen von ihm) wünschen würde. Herr Zeyer ist nun mal ein Haudegen! ;-))
Trotzdem lese ich auch seine Beurteilungen interessiert durch. Es freut mich aber auch, dass es nun eine Antwort auf gleicher Augenhöhe gegeben hat!

Mutatis mutandis könnte man diesen Zwischenruf bedenkenlos auch auf schweizerische Verhältnisse anwenden. Es gab und gibt sowohl im schweizerischen Politikgeschehen wie im schweizerischen Journalismus Gruppen und Einzelpersonen auf welche Zeyers Qualifikationen durchaus zutreffen. Es gab und gibt jedoch auch andere, die nicht auf jeden Skandal und jedes Skandälchen mit fliegenden Fahnen aufspringen und sie sind vorläufig noch in der Mehrheit. Was wir allerdings in den letzten Wochen im Zusammenhang mit der SNB zu lesen bekamen, sofern wir den hiesigen skandalisierenden Journalismus und Teile des politischen Establishments ernst zu nehmen bereit waren, scheint mir nicht besser und nicht schlechter zu sein, als was der Boulevard in Deutschland losgetreten hat. Hier wie dort mag dies zwar Auflagen stärken, gleichzeitig ist zu hoffen, dass es nicht nur den betreffenden Presseerzeugnissen und politischen Gruppen langfristig schadet. Unwahrheiten, offene Lügen haben immer noch kürzere Beine als Seriosität.

Lieber Reinhard Meier.

Die Gesundheit der Demokratie lässt sich nicht an der Wirtschaftsleistung eines Landes ablesen. Eine intakte Demokratie würde es zum Beispiel nicht zulassen, dass die Wirtschaft davon profitiert (forciert), dass grosse Teile der Bevölkerung (siehe aktuelle Studie zu Minijobs in Deutschland) zu einem Lohn arbeiten müssen, von dem sie nicht leben können.

Ein Politiker, der sich um das Wohl des Bürgers sorgt, würde diese Praxis unterbinden. Die Realität lässt aber darauf schliessen, dass zumindest die Spitzenpolitiker kein Interesse am Wohlergehen des Bürgers haben. Oder aber dem weit verbreiteten Irrglauben unterliegen, dass fürs Volk gut sei, was für die Wirtschaft gut ist.

Was es braucht, ist die Rückbesinnung auf die Aufgabe eines Politikers. Und auf die «Auftraggeber».

Lieber Herr Meyer, herzlichen Dank für diesen wertvollen Beitrag. Ich habe mich schon seit einiger Zeit gewundert, dass einige der Beiträge nicht zu einer breiten Diskussion unter den beteiligten Journalisten geführt haben. So sehr ich die Provokation, gelegentlichen Zynismus und auch deutliche Worte schätze, geht mit Herrn Zeyer's Furor, manchmal auch die Klar heit der Argumentation und der differenzierte Blick verloren. Das führt dann dazu, dass man sich auf den populistischen Pfaden der BILD bewegt, oder (in einem anderem Artikel) den britischen Aussenminister William Hague als Kronzeugen gegen den EURO zitiert, weil es gerade so schön passt. Also auf zu mehr Diskussion und mehr Mut zum offenen Widerspruch!

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