Herbst, Alban Nikolai: Sucht & Kunst.

[Anour Brahem, Astrakan Café.]



Wie aus einer Geschichte sofort die nächste und wiedernächste entsteht, ganz unmittelbar, und wie früher der Schreibtisch mit Zetteln, füllt sich nun der Bildschirm mit Notizdatei um Notizdatei. Oft ist es die Formulierung, die zur neuen Idee überleitet, ein Wort nur, ein Idiom, das direkt auf die kleine innere Trommel der Assoziationen schlägt – bisweilen aber auch die persönliche Erinnerung an einen Duft, an ein Haus in S. Lucia, an meinen Bruder.

Die literarische Arbeit, da sie sich aus sich selbst fortpflanzt, wird genau deshalb, wie Vila-Matas bemerkt (und was er seinerseits zur Voraussetzung und zum Thema eines Romanes machte), zu einer Lebensform, darin von nicht-künstlerischen Tätigkeiten mit Ausnahme jener scharf unterschieden, die sich mit Computern und Software beschäftigen. Auch diese, da in Wirklichkeit nicht dinglich, sondern Realisierung von Innenwelten, tendieren dazu, ein Lebensmilieu zu schaffen, aus dem man nur schwer wieder auftauchen kann. In beiden Fällen wirkt etwas, dessen Dynamik an die von Süchten gemahnt, aber nicht mit ihnen identisch ist. Nämlich die Sucht konsumiert nur, hingegen die kybernetische und künstlerische Tätigkeit produziert. Daß dennoch nicht selten die eine Lebenswelt die andre befördert, zumindest befördern soll, zeigt ihre Verwandtschaft. Sie lassen sich aneinanderkoppeln: man kann von der Wohneinheit in die Arbeitseinheit wechseln, ohne die Dynamik selbst verlassen zu müssen. Wiederum haben beide einen Zug ins vereinsamend Asoziale, und zwar sogar dann, wenn ihnen gemeinschaftlich nachgegangen wird. Die im Orbit des kybernetischen Raums schwebenden Stationen bilden communities von bloß scheinbarem Sozialcharacter aus. In Wirklichkeit sind es Monaden. Das tatsächliche Gespräch, zu dem der Speichel gehört, wird von einem abgelöst, das man – in der Literatur wie in der kybernetischen Kommunikation – mit Avataren führt, denen Feuchtigkeit den Garaus macht. Der Avatar in der Dichtung ist der Leser genannt. Er ist die reine Konstruktion eines IchIdeals, das seine Anima projeziert.



(c) etkbooks / Alban Nikolai Herbst.  Dieser Text ist ein Auszug aus “Kleine Theorie des Literarischen Bloggens”.

Alban Nikolai Herbst, geb. 1955, ist einer der vielseitigsten, kunstvollsten, aber auch eigenwilligsten Autoren der Gegenwart. Durch den phantastischen Roman „Wolpertinger oder das Blau“ (1993) sowie den ersten Band „Thetis“ (1998) seiner Anderswelt-Trilogie und besonders durch sein Literarisches Weblog „Die Dschungel. Anderswelt“ bekanntgeworden, ist er zudem einer der führenden Denker der postmodernen und nachpostmodernen deutschen Literatur. Nach Louis Begley wurde er auf die Poetik-Dozentur der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg berufen. Sein Werk umfaßt Romane, Erzählungen, Lyrik, sowie Libretti. Außerdem schreibt und inszeniert er für den Rundfunk poetische Hörstücke.  Er ist u.a. Träger des Grimmelshausen-Preises, des Fantastik-Preises der Stadt Wetzlar, des Rom-Preises der Accademia Tedesca Villa Massimo. Er war Writer in Residence der Keio Universität Tokio und wurde 2006 mit dem Jahresaufenthalt im Internationalen Künstlerhaus Villa Concordia Bamberg ausgezeichnet.

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Die Dschungel. Anderswelt