Montagskommentar

Wenn wir bald nicht mehr Herr im eigenen Haus sind

Es ist wieder Montag. An diesem Tag wird fast immer locker-lässig über Zeitgeist-Phänomene und die Lage der Welt und der Kunst nachgedacht. Dieses Mal widmet sich unser Kolumnist einem mehr als nur brisanten Thema.

Spätestens seit Sigmund Freud ist die Annahme weit verbreitet, dass das “Ich” nicht mehr Herr im eigenen Hause ist. Vielmehr mischt sich das “Es” und das “Unterbewusste” in unsere Handlungen und Denkweisen ein. Das “Ich” ist seither einigermaßen entmachtet und andere Konzepte erleben einen Aufschwung. Wo Freud, trotz allem, noch meinte, dass dort wo “Es” war “Ich” werden soll lässt sich diese Behauptung auch umkehren: Wo “Ich” war soll “Es” werden. Stürzen wir uns hinein ins Chaos, in die Unordnung und verlassen wir unsere Haus, über das wir ohnehin keine Kontrolle mehr haben. Geben wir unsere Ordnungen, Wahrheiten und Gewissheiten auf und lassen die Bedeutungen der Zeichen fluktuieren.

Ein schönes, stilles und poetisches Konzept findet sich dazu im Zen-Buddhismus und Taoismus. Das “Ich” setzt sich der Welt erst gar nicht entgegen, sondern strebt das “Eins-Sein” mit dieser an. Der westliche, reflektiere und sich in scharfe Differenz zur Welt setzende Mensch existiert in diesem Denken so nicht. Er geht in der Welt auf, wird Welt. Damit gelingt es diesem “Ich” gelassener und der Situation angemessener zu regieren. Es gibt nicht das “Ich” und die “Situation”, sondern das “Ich” passt sich an die “Situation” an und tut das, was gerade im richtigen Augenblick vonnöten ist. Gewaltsames Erzwingen und das übermäßige Forcieren einer Situation zu den eigenen Gunsten kennt dieses “Ich” nicht.

Mit diesen Konzepten in der Hand können wir uns die Gegenwart und das gegenwärtige Gespenst ansehen. Das Gespenst der übermäßigen Migration geht um. Menschen haben Angst davor “überflutet” zu werden. Angst davor nicht mehr Herr im eigenen Haus zu sein. Das eigene Land wird zum Haus, das einem bisher noch einigermaßen Schutz bot. Hatte man einst die Kontrolle über sein “Ich” verloren und wurde fortan von Trieben und Irrationalität beherrscht wendete sich die Ordnungs-, Gewissheits- und Kontroll-Suche nach außen. Die äußere Ordnung ist dazu in der Lage, die innere Unordnung teilweise zu kompensieren.

Wo bisher “Wir” war, verstanden als vermeintlich homogene Gesellschaft mit handfesten Werten und Gemeinsamkeiten, droht im Moment zunehmend “Sie” zu werden. Sie, die Flüchtlinge, bedrohen unsere Werte, unsere Gesellschaft, unsere Ordnungen. Die letzten Gewissheiten wanken, die letzten Verbindlichkeiten zerbröckeln. “Wir” sollen jetzt, nachdem wir schon aus dem Haus unseres standhaften und vernünftigen “Ichs” vertrieben wurden, auch noch aus dem Land vertrieben werden wie wir es bisher kannten. Diese Heimat ist nicht mehr unsere, unsere Land ist nicht wieder zu erkennen. Wir erkannten uns einst selbst nicht wieder, blickten in unsere Abgründe. Jetzt verändert sich auch noch “unser” Österreich und “unser” Deutschland. Das macht uns wütend.

Was passiert aber, wenn wir diesen Bewegungen und dieser Veränderung mit einer “fernöstlichen” Gelassenheit begegnen? Wenn wir erst  gar keinen Unterschied zwischen “Welt”, “Ich” und zwischen “Wir” und “Sie” machen? Was, wenn wir dem scharfen Differenzdenken eine Abfuhr erteilen? Dann tun wir, was notwendig ist. Wir helfen geflüchteten Menschen, die auf den österreichischen und deutschen Bahnhöfen ankommen. Wir tun, was die Situation erfordert. Wir tun es aber selbstlos. Die Darstellung der eigenen moralischen Überlegenheit ist uns dann vollkommen fremd.

Wir leben gerade in bewegten und beunruhigten Zeiten. Wir haben kaum zwingende und funktionierende Antworten parat. Wagen wir uns ganz aus unserem “Haus” heraus und akzeptieren wir die vollkommene Veränderung, die angstmachende Neu-Ordnung oder gar die Unordnung und das Chaos, die am vorläufigen Endes des derzeit laufenden Veränderungs-Prozesses stehen könnten? Wagen wir die vollkommene Öffnung und Offenheit, um jeden Preis bis hin zur Selbstaufgabe?

Oder bauen wir doch lieber neue Grenzen und Mauern und fordern wir zumindest die Souveränität des Staates und forcieren wir unsere eigenen “Werte”? Berufen wir uns auf Werte der Aufklärung und sagen möglichen anti-aufklärerischen Denkmustern den Kampf an? Letzten Endes haben wir nur Konzepte, die zu einer möglichen Handlung führen. Noch sind wir weitestgehend ratlos. Und dennoch verhärten sich Fronten, die Lösungen anbieten. Diesen einfachen Lösungen gilt es entgegenzutreten. Und sich neu zur Welt und zur Situation zu positionieren.