Eine Hommage zum Jubiläum

150 Jahre Reclams Universal-Bibliothek: GEHASST. GELIEBT. GELESEN!

Reclams Universal-Bibliothek feiert 150 Jahre. Sie wurde fester Bestandteil der deutschsprachigen Bildung und bleibt in ihrem Ausmaß und Eigenart ein weltweites Phänomen, das seinesgleichen erst finden muss. Ein Rückblick auf den Innbegriff der kleingeschriebenen Geistigkeit im Postkartenformat.
(c) Berliner Büchertisch, Reclam am Fenster 2, flickr.com

von Thomas Sojer


Beginnen Sie niemals eine Liaison mit der Tochter ihres Deutschlehrers. Sie finden sich irgendwann in seinem Wohnzimmer wieder, vor Ihnen eine gelbe Wand aus Reclam Büchlein. Deutschsprachige Bildungsgeschichte ist zu einem großen Teil auch die Geschichte dieser kleinen, gehassten, geliebten, verstaubten, verbrannten, zerfallenen, hundertmal neu aufgelegten Bücher aus Leipzig, die zu unserer Schulausbildung gehören wie Tafel und Turnsack. Mittlerweile umfasst die von Anton Philipp Reclam begonnene Verlagsreihe mit der offiziellen Bezeichnung „Reclams Universal-Bibliothek“ (UB) knapp 20.000 Werke. Nummer Eins war Goethes Faust „Erster Theil“, der erstmals im November 1867, vor 150 Jahren erschien. Am 9. November 1867 erließ der Reichstag des Norddeutschen Bundes einen Gesetzesbeschluss, der alle literarischen Werke, deren Verfasser seit mehr als 30 Jahren verstorben waren, als gemeinfrei erklärte – die Geburtsstunde der geschichtsträchtigen Groschenlektüre.

Als Theodor Fontane 1891 seinen Roman Mathilde Möhring niederschrieb, präsentierte sich Reclam schon mit über 2000 Werken. Fontane dazu im besagten Roman: „Was er las, waren Romane, besonders auch Stücke, von denen er jeden zweiten, dritten Tag mehrere nach Hause brachte. Es waren die kleinen Reclambändchen, von denen immer mehrere auf dem Sofatisch lagen, eingeknifft und mit Zeichen oder auch mit Bleistiftstrichen versehn.“ 1908 überschritt man die 5000er Marke, nach dem Zweiten Weltkrieg die 7000, der Rest ist Geschichte, bzw. 100-seitiger Verlagskatalog. Die „Welt in Gelb“ erweist sich im Rückblick als eine eigene Kulturgeschichte. Das gelbe Monopol wurde jedoch abgelegt. Heute präsentieren sich die Heftchen in sechs Farben: Gelb (Einsprachig Deutsch), Rot (Fremdsprachig mit Vokabelhilfe), Orange (Zweisprachig), Blau (Unterrichtsmaterial), Grün (Erläuterungen) und Magenta (Sachbuch).

Zum 150. Geburtstag eine Hommage vom Schweizer Journalisten Peter Haffner aus dem Jahr 2011 mit dem Titel Mein gelbes iPhone (aus dem »Magazin« des Zürcher Tages-Anzeigers vom 9. Juli 2011):

„Fast jeder hat ein schwarzes iPhone. Manche haben ein weißes. Ich habe ein gelbes. Nicht nur eines, sondern Dutzende. Sie stecken in den Taschen meiner Jacketts, den Freizeit- und Sportjacken, dem Regen- und dem Wintermantel, ja sogar in der Brusttasche mancher Hemden und natürlich in jedem Gepäckstück, das ich besitze. So kann es mir nie passieren, dass ich keines bei mir habe, wenn ich aus dem Haus bin.

Netzadapter brauche ich nicht, weil meine iPhones ohne Batterien funktionieren. Die Aufforderung im Flugzeug, alle elektronischen Geräte abzuschalten, ignoriere ich, senden doch meine keine Strahlen aus, die den Bordcomputer zum Crash bringen. Auch die Flight Attendants sehen das ein, und dass mein gelbes iPhone drahtlos Gedanken übertragen kann, muss ich ihnen ja nicht unter die Nase halten. Es tut dies jedes Mal, wenn ich es in der Hand habe und auf das weiße Display blicke.

Zum Beispiel Gedanken wie diesen: »Wenn ein Buch und ein Kopf aneinanderstoßen und es klingt hohl, ist das allemal im Buch?« Richtig, das ist aus den Aphorismen von Georg Christoph Lichtenberg, und mein iPhone ist denn auch nicht von Steve Jobs, sondern von Reclams Universal-Bibliothek; jene gelben, guten und getreuen Weggefährten, die praktisch und preiswert sind und einen nie enttäuschen, weil der Strom alle ist. Ich habe immer eines dieser Büchlein bei mir, um Wartezeiten zu überbrücken, sei es in der Schlange vor dem Billettschalter, wo der Vordermann eine Reise von Schlieren nach Shanghai mit Zwischenhalt in Sydney bucht, oder beim Zahnarzt, wo Heftchen auf liegen, aus denen man erfährt, dass DJ Bobo und Lady Gaga mit einem Baby namens Buddha schwanger sind.

»All dein Tun und Denken sei so beschaffen, als solltest du möglicherweise im Augenblick aus diesem Leben scheiden«, sagt Marc Aurel in seinen Selbstbetrachtungen, einem meiner Reclam-Begleiter. Man wende nicht ein, im iPhone könne man den ganzen Shakespeare haben. Man kann, aber Gebrauch davon machen tut kein Mensch, weil all die Apps und Appetizers, von denen man nie genug bekommt, das verhindern. Und sagt mir einer, mit dem iPhone stehe man rund um die Uhr in Verbindung mit wirklichen Menschen, sei es per Telefon, SMS, Facebook oder Twitter, frage ich: Wozu? Um was zu erfahren? »In der Freundschaft wie in der Liebe ist man oft glücklicher durch das, was man nicht weiß, als durch das, was man weiß«, steht im Bändchen mit den Maximen und Reflexionen von La Rochefoucauld.

Jedes Tischgespräch wird heute ruiniert, weil noch bei der dämlichsten Frage, die auftaucht – »Wer schrieb Goethes Faust?« – einer sein iPhone zückt, Gott Google konsultiert und alsbald triumphierend verkündet: Gretchen! Da lobe ich mir meine Reclam-Büchlein, die, so federleicht sie daherkommen, sorgfältig ediert sind, versehen mit Einleitung, Nachwort, Anmerkungen und Literaturhinweisen, Namen- und Sachregister. Wie traurig ist doch die Party, bei der jeder und jede mit dem Smartphone flirtet statt die Sommerabendstimmung zu geniessen, die der Dreizeiler des japanischen Dichters Buson aus dem Reclam-Band Haiku so eingefangen hat: »Als tiefes Schweigen / Und Pause zwischen den Gästen / Die Bauern rosen«.

Meine Reclam-Bändchen sind zerlesen und zerknittert, manche haben einen Regenguss abbekommen, einen Kaffee- oder Weinfleck. Macht nichts. Sie kosten nicht viel, und lässt man eines irgendwo liegen, braucht man nicht in Panik zu geraten wie beim Verlust seines iPhones: Mag der, der es findet, sich daran erfreuen. Die dickeren Büchlein, wie etwa Montaignes Essais, Pascals Gedanken oder die Gespräche von Konfuzius, verwahre ich in robusteren Kleidungsstücken, während die dünnen, wie etwa Senecas Vom glückseligen Leben, selbst in der Brusttasche des kurz-ärmligen Polohemdes nicht auffliegen. »Wir haben nicht zu wenig Zeit; wir vergeuden zu viel!« mahnt durch die Jahrhunderte der alte Römer, von dem wir heute noch lesen, weil er die seine nicht vertwitterte. Nicht überzeugt? Dann kann ich nur mit Laotse sagen, Tao Te King, Reclam-Band Nr. 6798: »Wahrlich: Von jenem lass! Dieses erfass!«.“

Happy Birthday, Reclam!