Kleingeist und Größenwahn

Bitte schickt mir nicht mehr unaufgefordert CDs zu…

...denn ich höre sie mir nicht mehr an. Unser Kolumnist hat genug. Genug Musik gehört. Genug Konzerte gesehen.

Schon wieder. Schon wieder ein kleines Paket im Postkasten. Die Adresse verrät mir bereits den Inhalt. Noch vor wenigen Monaten habe ich aufmerksam die Beipackzettel gelesen und pflichtbewusst die im Paket enthaltenen CDs gehört. Mittlerweile gelangen diese gar nicht mehr in meine Wohnung, sondern werden sofort entsorgt.

Vor dem Laptop angekommen warten E-Mails auf mich. Wichtige und unwichtige. Die unwichtigsten E-Mails im Posteingang sind für mich mittlerweile die E-Mails, in denen auf Musik-Neuveröffentlichungen hingewiesen wird. Meist sind in diesen E-Mails Link zu Hörproben enthalten. Ich klicke nicht mehr darauf. Tue ich es doch überkommt mich eine unfassbare Langeweile und ein unglaublicher Überdruss. Ich tippe eine Antwort an den Promoter der Band. “Nein, ich will nicht die hundertste Indie-Band aus Wien hören, die ihre Gitarren nicht mal richtig stimmen kann”. Ich lösche die Antwort wieder. Schließlich kann der Absender des gut gemeinten E-Mails nichts dafür, dass es von allem zu viel gibt.

Die Labels kämpfen ums Überleben. Das merkt man. Zugleich sprießen aber auch kleine Indie-Labels aus dem Boden, die so gut wie unverkäufliche und für eine breite Masse so gut wie unhörbare Musik publizieren. So etwas nennt man dann Liebhaber-Label. Sie teilen sich die selbe Zielgruppe, die sich weltweit vielleicht auch wenige tausend beschränkt. Die Erkenntnis, dass die Zielgruppe doch recht überschaubar ist kompensieren solche Labels mit der intensiven Betreuung von wie auch immer gearteten Meinungsbildnern. Daraus ergibt sich dann womöglich eine Erweiterung der Zielgruppe und die eine oder andere Veröffentlichung gelangt zu größerer Aufmerksamkeit. So hofft man dort. Fast nie funktioniert das aber.

Wozu also das alles? Warum diese nie versiegende und sich sogar steigernde Veröffentlichungsflut? Ist es das letzte Aufbäumen einer sich im fortgeschrittenen Stadium eines Sterbeprozesses befindlichen Musikindustrie? Sind die Ausschlüsse, die von großen kommerziellen Plattenfirmen geschaffen wurden, dafür verantwortlich, dass immer mehr kleine Labels entstehen, die immer mehr CDs auf eine ständig schrumpfende Hörerschaft loslässt in der Hoffnung, dass ihr diese das Überleben sichern?

Das ist das Grundproblem. Die Musikindustrie spaltet sich tatsächlich auf in die, ebenfalls strauchelnden, Großlabels und die kleinen Liebhaber-Labels. Erstere veröffentlichen nur allzu oft, was am Musikmarkt gerade opportun ist, Zweitere hingegen das, was sie selbst mögen und von dem sie glauben, dass es auch andere Menschen mögen könnte. Gleichgesinnte gewissermaßen. Indem aber immer nur an die Gleichgesinnten adressiert wird, beginnt die Sache selbstreferentiell zu werden. Man bezieht sich auf sich selbst und auf die kleine, aber feine Hörer- und Gefolgschaft. Aus diesen Kreisen bricht man nicht mehr aus. Irgendwann stellt sich dann beim Hörer Langeweile ein, weil er sich an dem Immergleichen überfressen hat und bemerkt, dass es kaum mehr Kategorien und Möglichkeiten gibt, um zwischen essentiellen Veröffentlichungen und mittelmäßigem Genre-Zeug zu unterscheiden.

Um aus diesem Langweile verursachenden Überdruss auszubrechen muss man Schluss machen mit der Flut an unaufgefordert zugeschickten CDs von Plattenfirmen, die um ein bisschen Aufmerksamkeit buhlen. An die Stelle von falschem Pflichtbewusstsein und der oft als Notwendigkeit angesehenen Verpflichtung kleine Labels und Liebhaber-Initiativen zu unterstützen muss wieder die Leidenschaft treten. Der Musikkritiker ist nicht verantwortlich dafür, kleinen Projekten und nichtssagende oder sich im eigenen Saft suhlenden Band das Überleben zu sichern. Er hat die Perlen herauszupicken. Egal wer diese veröffentlicht hat. Er hat Musik zu finden, die nicht nur musikalische Relevanz, sondern auch gesellschaftliche Sprengkraft hat und die Musiklandschaft insgesamt weiterbringt.

Es ist Zeit laut und deutlich Nein zu sagen. Seine Zeit nicht mehr damit zu vergeuden sich tief in ein Genre einzugraben und alles zu rezipieren. Es ist ähnlich wie mit einem Buch, das einen nicht wirklich fesselt. Früher hätte man es, warum auch immer, dennoch zu Ende gelesen. Heute weiß man, dass es zu viel von allem gibt. Und es darum geht einen Überblick zu bewahren und seine Wahrnehmung frisch und kritisch zu halten.

Ich habe genug gehört und genug Konzerte gesehen. Ich muss nicht ständig noch mehr hören und noch mehr sehen. Jetzt geht es darum mit dem bereits Gehörten und Gesehenen konkret die Spreu vom Weizen zu trennen und das Wenige, das lohnt gehört zu werden, von dem zu unterscheiden, das nur existiert weil es Menschen gibt, die es hören wollen und die immer wieder in ihren Gewohnheiten und Hörerwartungen bestätigt werden wollen.

Hier geht es zur vorherigen Folge von "Kleingeist und Größenwahn".