Piraterie

22.11.2012 | Von:
Frieder Vogelmann

Flüssige Betriebssysteme. Liquid democracy als demokratische Machttechnologie

Wie erkennen wir Neues in der Politik, und wie bewerten wir dieses Neue, wenn es darauf abzielt, die vertrauten politischen Maßstäbe und -einheiten in Frage zu stellen? Die Piratenpartei als neueste Erscheinung in der bundesrepublikanischen Politik erlaubt es, diesem Problem nicht nur abstrakt nachzugehen. Meine Ausgangshypothese verortet das Neue weder im von der Piratenpartei eingebrachten Thema, noch in einer besonderen Position, die sie innerhalb des politischen Spektrums bezieht, sondern in ihrem Vorschlag, die Art und Weise zu verändern, wie politische Macht in der deutschen Demokratie ausgeübt wird: den Modus demokratischer Herrschaft von Repräsentation auf liquid democracy umzustellen.[1]

Blickt man auf die öffentlichen Reaktionen auf die Piratenpartei, so lassen sich die Umgangsweisen mit diesem Neuen in drei Kategorien einordnen: Negation, Affirmation und Zwangsintegration. Während insbesondere die anderen Parteien abstreiten, dass mit der Piratenpartei etwas Neues entstünde, das die eingespielten politischen Bewertungen durcheinanderbrächte, begeistern sich Teile der Öffentlichkeit für das Neue, das dementsprechend als Revolution und Befreiung gefeiert wird. Eine dritte Variante ist die von den öffentlichen Medien praktizierte Integration des Neuen in die vertrauten Narrative der politischen Berichterstattung, indem sowohl die grundsätzliche Andersheit der Piratenpartei betont als auch der Zwang, sich in die journalistischen Bewertungskategorien einzuordnen, mit aller Macht durchgesetzt wird.[2] So wird jeweils unterlassen, sich mit dem Neuen der Piratenpartei und ihrer Infragestellung der Bewertungsmaßstäbe für dieses Neue auseinanderzusetzen, weshalb ich mich (zunächst) der Negation wie der Affirmation enthalte und die mediale Zwangsintegration vermeide, um das Neue der Piratenpartei stattdessen zu analysieren und angemessene Bewertungsmaßstäbe zu finden.

Politische Rationalität der Piratenpartei

Ein lohnender Ausgangspunkt ist die Selbstbeschreibung der Piratenpartei, sie böte "kein Programm, sondern ein neues Betriebssystem für die Politik", da diesen Satz jeder kennt und doch niemand ihn gesagt hat:[3] Er ist ein gemeinschaftlich hergestelltes Produkt von Piratenpartei und Öffentlichkeit, mit dem beide Seiten den unvermuteten Erfolg im politischen Diskurs intelligibel machen. Dass die Piratenpartei diese Aussage inzwischen aktiv zur Selbstbeschreibung nutzt, zeigt, dass sie sich in ihr angemessen beschrieben findet, während die Verwendung dieses Satzes durch die öffentlichen Medien demonstriert, dass er den politischen Akteurinnen und Beobachtern jenseits der Piraten geeignet scheint, deren Eigenart zu benennen und sich darüber Klarheit zu verschaffen.[4]

Was bedeutet es, ein Betriebssystem für die Politik anzubieten? Zunächst ist Politik damit qua Positionierung dasjenige, was vom Betriebssystem verwaltet und standardisiert zugänglich wird. Politik erscheint also als Hardware, als eine komplexe Konfiguration physikalischer Elemente, die bei richtiger Ansprache bestimmte Funktionen ausführen kann. Die Ansprache dieser Hardware wird vom Betriebssystem der Piratenpartei geleistet – wie sie jedoch erfolgt, das heißt zu welchen Programmen solche Ansprachen zusammengeschlossen werden, entscheiden die Mitglieder der Partei: Sie können so die Politik bedienen oder sogar programmieren. Die Piratenpartei selbst "macht" also keine Politik, sondern ist lediglich eine standardisierende Plattform, die ihren Benutzerinnen und Benutzern ermöglicht, politische Programme zu erstellen und ablaufen zu lassen. Dazu muss die Partei bis zur Unsichtbarkeit transparent,[5] zum reinen Medium der politischen Praxis werden. Die hyperkritische Haltung vieler Mitglieder der Piratenpartei gegenüber ihren Funktionären erklärt sich insofern aus der nie zu vermeidenden Enttäuschung dieses Anspruchs.

Neben diesem neuen Verständnis von "Partei" hat die Vorstellung von Politik als Hardware aber auch direkt Auswirkungen darauf, was "Politik zu betreiben" bedeutet: Da Politik in ihren technologischen Anlagen aufgeht, für die diejenigen, die "Politik machen", die geeigneten Programme schaffen müssen, ergibt sich eine neue Vorstellung von Technokratie, die anstatt einer Herrschaft von Technikern die Herrschaft durch Technik in den Vordergrund stellt. Wenn Politik als Hardware aus den Techniken zur Herrschaft besteht und die Piratenpartei der so verstandenen Politik ein neues Betriebssystem verpassen will, das für alle Bürgerinnen und Bürger zur Verfügung steht, kann man das in ihrer Metaphorik angelegte Ziel als eine Öffnung der Position des Technikers begreifen: Das Piraten-Betriebssystem ermöglicht jedem, die Rolle einzunehmen, die eine traditionelle Vorstellung von Technokratie den technischen Experten vorbehält. Für diese partizipative Technokratie ist Transparenz eine funktionale Bedingung, da die Bürgerinnen und Bürger nur dann ihre Rolle als Techniker ausfüllen können, wenn der "Code" der auf der Politik ablaufenden Programme für alle einsehbar ist.

So lässt sich die politische Rationalität der Piratenpartei als Streben nach einer partizipativen Technokratie beschreiben, in der die unsichtbare Partei die um den Zugriff auf die Techniken der Herrschaft konkurrierenden Parteiprogramme verwaltet. Transparenz ist in diesem "Betriebssystem für die Politik" eine doppelte Funktionsvoraussetzung: Innerparteiliche Transparenz erlaubt der Piratenpartei, zum unsichtbaren Medium zwischen den politischen Programmen und der Hardware der Politik zu werden und andere Parteien insofern obsolet zu machen, als dann alle Bürgerinnen und Bürger mithilfe der standardisierten Infrastruktur zu politischen Akteuren werden können. Transparent müssen aber auch die auf dieser Grundlage erstellten politischen Programme der Bürgerinnen und Bürger sein, um die Chance aller anderen zu wahren, selbst aktiv werden zu können. Denn nur die durch lückenlose Einsicht in die Programme und ihre Umsetzung erzeugte Nachvollziehbarkeit ermöglicht die Pluralität solcher politischen Programme. Die Notwendigkeit der Transparenz für die Piratenpartei und damit die Dringlichkeit ihrer Transparenzforderungen lässt sich also auf die Stellung von Transparenz als doppelte Voraussetzung der politischen Rationalität zurückführen.

Fußnoten

1.
Teile dieses Aufsatzes sind übernommen aus Frieder Vogelmann, Der Traum der Transparenz. Neue alte Betriebssysteme, in: Christoph Bieber/Claus Leggewie (Hrsg.), Unter Piraten. Erkundungen in einer neuen politischen Arena, Bielefeld 2012. Mein Dank gilt Martin Nonhoff für hilfreiche Diskussionen.
2.
Nirgendswo wird diese letzte Strategie deutlicher, als am Umgang mit der vermeintlichen "Positionslosigkeit" der Piratenpartei. Anfangs als "erfrischend" begrüßt oder zumindest angesichts der "Jugend" der Piratenpartei akzeptiert (so die überwiegend wohlwollende Berichterstattung nach der ersten Bundespressekonferenz am 6.10.2011, vgl. beispielsweise Matthias Thieme, Hier spricht das Betriebssystem, in: Frankfurter Rundschau vom 6.10.2011, S. 5), gilt sie inzwischen als "unseriös" oder gibt Anlass zu Bekenntniswünschen (Nina Pauer, Bitte ein Manifest, in: Die Zeit vom 19.7.2012, S. 7).
3.
Die Aussage geht auf Marina Weisband zurück, die auf der ersten Bundespressekonferenz sagte, die Piratenpartei wolle "die Antworten von den Leuten. Wir wollen sie prinzipiell involvieren. Und in diesem Sinne haben wir eigentlich nicht bloß ein Programm anzubieten, sondern ein Betriebssystem." Anders als in der inzwischen geläufigen Formulierung bleibt dabei offen, ob das "Betriebssystem" bloß eines für die Partei oder für die Politik ist – ein dieser Analyse zufolge erheblicher Unterschied. Vgl. F. Vogelmann (Anm. 1), S. 102f.
4.
Entsprechend äußerte sich der ehemalige Vorsitzende der Piratenpartei, Sebastian Nerz: http://de.consenser.org/node/2537« (13.10.2012). Vgl. auch Stefan Appelius/Armin Fuhrer, Das Betriebssystem erneuern. Alles über die Piratenpartei, Berlin 2012; Martin Häusler, Die Piratenpartei. Freiheit, die wir meinen, Neue Gesichter für die Politik, Berlin 2011, S. 42.
5.
Zum Exzess der Transparenz und ihrem Umschlagen in Unsichtbarkeit vgl. Frieder Vogelmann, Die Falle der Transparenz. Zur Problematik einer fraglosen Norm, in: Leon Hempel/Susanne Krasmann/Ulrich Bröckling (Hrsg.), Sichtbarkeitsregime. Überwachung, Sicherheit und Privatheit im 21. Jahrhundert, Wiesbaden 2011, S. 78ff.
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