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Kreative Bild-Wort-Koexistenzen

Interview mit Jürgen Daiber

PD Dr. Jürgen Daiber ist Literaturwissenschaftler und avantgardistischer Schriftsteller zugleich. Zusammen mit … hat er 1998 das Text-Bild-Werk Trost der Bilder geschaffen, das den Preis des Pegasus-Literaturwettbewrebs erhielt. Christiane Heibach sprach mit ihm über seine Schreibmotive, das Verhältnis der Computerliteratur zum Design, über die Gefahr der Basisdemokratie im Reich der Ästhetik und über literarische Kopfgeburten im Reich des Digitalen.

dd: Herr Daiber, Sie sind ja sowohl Literaturwissenschaftler (d.h. Sie befassen sich auch mit der "traditionellen", also kanonisierten Printliteratur) als auch Autor von Internet-Literaturprojekten, also Vertreter einer Art literarischer Avantgarde. Tragen Sie daher zwei Seelen in Ihrer Brust oder können Sie beide Aspekte befriedigend miteinander verbinden?

JD: Ich versuche, die Dinge nicht auf diese Art und Weise zu sehen. Die Polarität, hier: kanonisierte Texte, dort: experimentelle avantgardistische Literatur funktioniert nur über jene synchrone, ahistorische Perspektive, die unsere moderne Sichtweise so sehr prägt. Davon halte ich nicht viel. Was heute Kanon ist, war gestern Experiment.

Wir bemühen uns in den Seminaren, den Staub von Goethes "Werther" zu pusten und 200 Jahre früher haben sich einige seiner Leser das Gehirn per Pistolenschuß wegpustet, so bestürzend neu und aktuell erschien ihnen das Beschriebene. Auf die Gegenwart bezogen gilt ebenso: Hyperfiction beginnt nicht bei punkt Null. Vieles von dem, was im Netz an digitaler Literatur durch die Räume reist und den Namen Literatur verdient, fußt auf dem Gedächtnis der Schrift, auf narrativen Mustern, auf der Tradition der Erzählung. Darauf versuche ich in meinen Arbeiten aufmerksam zu machen. Natürlich erschöpft sich digitale Literatur nicht in der Repetition dieser Muster, sondern variiert, kombiniert das vorhandene Repertoire. Interessant ist, zu analysieren, wie diese Muster der Rekombination aussehen.

dd: Was ist es genau, das Sie an dem Medium interessiert und Sie dazu gebracht hat, selbst aktiv zu werden?

JD: Was mich an dem Medium interessiert, ist das, was man gemeinhin als informationellen Mehrwert bezeichnet.

Der Computer ermöglicht es, klassische narrative Techniken mit dem erweiterten technologischen Instrumentarium zu verbinden. Die Schlagworte sind hinlänglich bekannt: Interaktivität/Kooperativität, Hypertextualiät, Mulitmedialität. Ich halte den Aspekt der Multimedialität für den wichtigsten. Die digitale Literatur der Zukunft wird meines Erachtens in Richtung Gesamtkunstwerk gehen, d.h. ebenso sehr vom Design der Bilder, Töne, Animationen wie von jener des Textes abhängen. Gerade weil dem so ist, geht es darum, immer wieder auf die Notwendigkeit der Literarizität der Texte hinzuweisen. Hier stehen wir noch am Anfang. Welche sinnvolle Möglichkeiten gibt es, für das Netz tragfähige Wort-Bild-Beziehungen zu kreieren, damit das ganze Unternehmen Hyperfiction nicht zu einem bloßen Bilder-Spektakel verkommt, die dem Rezipienten jede Phantasiearbeit abnimmt? Wort und Bild müssen zu einer kreativen Koexistenz finden, der Text muß parallel zum Bild zentrale Komponente bleiben. Sonst wird das Ganze zu einer ähnlich stupiden Angelegenheit wie Werbefernsehen. Viele bunte Bilder und ein dumpfer drei-Wort-Slogan. Das ist alles Mögliche, aber keine Literatur.

dd: Eben fiel das Stichwort "Design". Läuft Computerliteratur – wenn sie die multimedialen Möglichkeiten nutzt - Gefahr, das Design zu sehr zu betonen; sprich: eher spektakulaere visuelle Effekte erzielen zu wollen als Bedeutung zu konstruieren? Oder ist der Bildschirm doch eher für Effekte als fuer intensives Lesen geeignet - mit der Konsequenz, daß wir uns von dem, was wir mit der Printliteratur verbinden, also der komplexen Sinnkonstruktion aus der Buchstabenwelt heraus, verabschieden müssen, um neue computerspezifische Bedeutungsformen zu suchen?

JD: Ich denke, dem Design wird in den Hyperfiction der zweiten Generation in der Tat eine verstärkte Bedeutung zukommen. Das hat mit unserer visuellen Intelligenz zu tun, damit, dass ein Bild mehr sagt als tausend Worte und wir ein Gesicht weitaus länger erinnern, als den dazugehörigen Namen. Natürlich darf Visualität nicht zum Selbstzweck werden. Dann entsteht das, was Beat Suter einmal als "Klicki-Bunti-Spektakel" bezeichnet hat. Die glatte Oberfläche der Flash-Animation weist in diese Richtung. Ich wehre mich jedoch grundsätzlich dagegen, spektakuläres Design zwangsläufig mit einem Verlust an Textqualität und einem Abbau an Sinnkonstruktion gleichzusetzen.

Ich würde das Argument vielmehr drehen: Spektakuläres Design kann und soll auf den idealerweise damit gekoppelten literarischen Text aufmerksam machen. So arbeitet Werbung. Warum sollte sich Literatur davon nicht ein Stück abschneiden? Worum es mir also geht, ist, zu betonen, dass Bild und Wort in den Hyperfictions Allianzen, kreative Koexistenzen eingehen müssen. Hier besteht Nachholbedarf. Hier müssen überzeugende Vorbilder erst noch geliefert werden. Finden Sie Texte mit literarischer Qualität im Netz, ist das graphische Potential oft von frustrierender Ungelenkigkeit. Ist das Design gut, haben die parallelisierten Texte dann zumeist den Intelligenzquotienten von lokaler Gastronomiewerbung.

dd: Häufig wird ja dementsprechend auch die "mangelnde" literarische Qualität von Netzprojekten beklagt. Sie haben ja mit Ihren Studenten mehrere Projekte praktisch umgesetzt. Welche Richtlinien haben Sie dabei den Studenten bei der Umsetzung vorgegeben? Oder anders formuiert: Was ist für Sie das Wesentliche an der ästhetischen Arbeit mit dem Computer bzw. dem Internet?

JD: Nun, ich habe die Studierenden versucht darauf hinzuweisen, daß zur Produktion von Hyperfiction zwei zentrale Qualifikationen gehören: Technisches Rüstzeug und poetisches Vermögen. Keines darf gegen das andere ausgespielt werden, eines kann ohne das andere nicht existieren. Praktisch gesagt: Ohne HTML, JAVA und PERL-Kenntnisse geht nichts. Ebensowenig geht jedoch ohne Kenntnisse in Figurenzeichnung, Konzeption einer stringenten Dramaturgie, sprachliche Kompetenz. Sie haben recht: In der Netzliteratur wimmelt es von Beispielen poetischen Analphabetentums. Dies nicht zufällig. Es gibt kaum eine Person, die technisches und poetisches know-how in sich vereinigt. Ausnahmen inbegriffen. Nicht zufällig sind daher die wenigen gelungenen Arbeiten Beispiele für die Fusion der zwei Kulturen im Sinne Snows, wo sich der Techniker und der Künstler zusammentun. Dies ist für mich eine weitere große Chance, die Hyperfiction bietet. Sie ist noch längst nicht ausgereizt.

dd: Ihre eigenen Projekte haben ja eher "Binnencharakter", d.h. könnten auch auf CD-ROM existieren. Machen Sie fuer sich einen Unterschied zwischen Computer und Internet? Und wenn ja, worin liegt er Ihrer Meinung nach?

JD: Nun, ich bin kein Vertreter jener puristischen Einstellung, für welche Internet-Literatur unabdingbar mit dem Online-Status verknüpft ist. Unter digitaler Literatur fasse ich vielmehr eine Literatur, deren ästhetische Existenzvoraussetzung unabdingbar mit dem Maschine Computer verknüpft ist. Ob dies Online oder Offline geschieht, halte ich für zweitrangig. Man kann meines Erachtens nicht ernsthaft lokale Datenträger wie CD oder DVD als Rezeptions- und Distributionsmedien von digitaler Literatur aus dem Definitionsrahmen verbannnen. Natürlich kann ich die spezifischen Mittel des Internet für die Konzeption der Texte nutzen. Aber weshalb dies gleich zur ästhetischen Eintrittskarte ins Reich der Hyperfiction erheben?

dd: Ist denn Hyperfiction Ihrer Meinung nach die einzige Form literarischer Produktion mit dem Computer? Es gibt doch im Netz zahlreiche literarische Projekte, die die vernetzte Kommunikation nutzen - Mitschreibeprojekte, kooperative Produktionsnetze, etc. Wuerden Sie solche Phänomene dann nicht als Literatur bezeichnen?

JD: Niemals würde ich Mitschreibprojekten, kooperativen Produktionsnezten und ähnlichen Formen von Netz-Kooperativität diesen literarischen Anspruch absprechen. Leider gilt m.E. auch hier: Zwischen der Brillianz der ästhetischen Idee und ihrer künstlerischen Umsetzung klafft jener häßliche Abgrund von Wunschtraum und Wirklichkeit. Ausnahmen wie etwa den "Assoziationsblaster" eingeschlossen. Möglicherweise ist Basisdemokratie im Reich der Ästhetik - und nur dort - keine erstrebenswerte Größe. Wo ein Dutzend oder mehr Leute gleichzeitig auf einer gemeinsamen elektronischen Schreiboberfläche an einem literarischen Objekt sich versuchen, werden sie kaum über Chat-Gruppen-Niveau hinauskommen. Dagegen ist auch nichts einzuwenden. Der Psychologe freut sich über die dergestalt erzeugte gruppendynamische Interaktion. Nur: Ob sich der literarisch interessierte Leser freut, würde ich zutiefst bezweifeln. Um ehrlich zu sein: Ich freue mich meistens nicht, sondern klicke weiter.

dd: Es gibt ja Überlegungen im literaturwissenschaftlichen Umfeld, die auch den Programmiercode, der ja zweifellos auf Sprache basiert, in den Literaturbegriff mit einzubeziehen. Was spricht Ihrer Meinung nach dafür oder dagegen, eine solche Erweiterung des Literturbegriffes vorzunehmen?

JD: Der Autor als Programmierer: die Idee ist nicht neu, so innovativ sie sich auch gerieren mag. Daß das Medium seine eigenen Produktionsbedingungen reflektiert und diese Reflexion parallel dazu zum Bestandteil seiner Produktion macht, finden wir bereits bei den Romantikern. Friedrich Schlegel nannte das Ganze "Transzendentalpoesie". Damit sind wir beim Problem. Als ästhetischer Gedanke funktioniert die Sache blendend. Nur: Wenn wir uns dann einmal in alle Ruhe die poetische Realisation dieses Gedankens ansehen, kann ich nur sagen: Der Kaiser ist nackt oder zumindest nur dürftig bekleidet. Das 18. Jahrhundert hatte Romane wie "Lucinde", die diesen ästhetischen Ansatz zu verwirklichen suchten. Das 21. Jahrhundert kennt Perl-Gedichte, die sowohl als Sprache als auch als Programmiercode parallel fungieren. In beiden Fällen entstehen m. E. literarische "Kopfgeburten", denen die Leidenschaft wirklicher Dichtung fehlt. Sie fehlt, weil Literatur, da wo sie bei der Umsetzung einer ästhetischen Idee rein analytisch, also mit einer 1:1 Transformation Theorie=Dichtung verfährt, im wesentlichen Langeweile beim Rezipienten erzeugt.

dd: Also zurück zur Leidenschaft als einer Basis ästhetischer Produktion! Vielen Dank für dieses Gespräch.


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