dd:
Herr Daiber, Sie sind ja sowohl Literaturwissenschaftler
(d.h. Sie befassen sich auch mit der "traditionellen", also
kanonisierten Printliteratur) als auch Autor von
Internet-Literaturprojekten, also Vertreter einer Art
literarischer Avantgarde. Tragen Sie daher zwei Seelen in
Ihrer Brust oder können Sie beide Aspekte befriedigend
miteinander verbinden?
JD: Ich versuche, die
Dinge nicht auf diese Art und Weise zu sehen. Die
Polarität, hier: kanonisierte Texte, dort:
experimentelle avantgardistische Literatur funktioniert nur
über jene synchrone, ahistorische Perspektive, die
unsere moderne Sichtweise so sehr prägt. Davon halte
ich nicht viel. Was heute Kanon ist, war gestern
Experiment.
Wir bemühen uns in den
Seminaren, den Staub von Goethes "Werther" zu pusten und 200
Jahre früher haben sich einige seiner Leser das Gehirn
per Pistolenschuß wegpustet, so bestürzend neu
und aktuell erschien ihnen das Beschriebene. Auf die
Gegenwart bezogen gilt ebenso: Hyperfiction beginnt nicht
bei punkt Null. Vieles von dem, was im Netz an digitaler
Literatur durch die Räume reist und den Namen Literatur
verdient, fußt auf dem Gedächtnis der Schrift,
auf narrativen Mustern, auf der Tradition der
Erzählung. Darauf versuche ich in meinen Arbeiten
aufmerksam zu machen. Natürlich erschöpft sich
digitale Literatur nicht in der Repetition dieser Muster,
sondern variiert, kombiniert das vorhandene Repertoire.
Interessant ist, zu analysieren, wie diese Muster der
Rekombination aussehen.
dd:
Was ist es genau, das Sie an dem Medium interessiert und Sie
dazu gebracht hat, selbst aktiv zu werden?
JD: Was mich an dem
Medium interessiert, ist das, was man gemeinhin als
informationellen Mehrwert bezeichnet.
Der Computer ermöglicht
es, klassische narrative Techniken mit dem erweiterten
technologischen Instrumentarium zu verbinden. Die
Schlagworte sind hinlänglich bekannt:
Interaktivität/Kooperativität,
Hypertextualiät, Mulitmedialität. Ich halte den
Aspekt der Multimedialität für den wichtigsten.
Die digitale Literatur der Zukunft wird meines Erachtens in
Richtung Gesamtkunstwerk gehen, d.h. ebenso sehr vom Design
der Bilder, Töne, Animationen wie von jener des Textes
abhängen. Gerade weil dem so ist, geht es darum, immer
wieder auf die Notwendigkeit der Literarizität der
Texte hinzuweisen. Hier stehen wir noch am Anfang. Welche
sinnvolle Möglichkeiten gibt es, für das Netz
tragfähige Wort-Bild-Beziehungen zu kreieren, damit das
ganze Unternehmen Hyperfiction nicht zu einem bloßen
Bilder-Spektakel verkommt, die dem Rezipienten jede
Phantasiearbeit abnimmt? Wort und Bild müssen zu einer
kreativen Koexistenz finden, der Text muß parallel zum
Bild zentrale Komponente bleiben. Sonst wird das Ganze zu
einer ähnlich stupiden Angelegenheit wie
Werbefernsehen. Viele bunte Bilder und ein dumpfer
drei-Wort-Slogan. Das ist alles Mögliche, aber keine
Literatur.
dd:
Eben fiel das Stichwort "Design". Läuft
Computerliteratur wenn sie die multimedialen
Möglichkeiten nutzt - Gefahr, das Design zu sehr zu
betonen; sprich: eher spektakulaere visuelle Effekte
erzielen zu wollen als Bedeutung zu konstruieren? Oder ist
der Bildschirm doch eher für Effekte als fuer
intensives Lesen geeignet - mit der Konsequenz, daß
wir uns von dem, was wir mit der Printliteratur verbinden,
also der komplexen Sinnkonstruktion aus der Buchstabenwelt
heraus, verabschieden müssen, um neue
computerspezifische Bedeutungsformen zu suchen?
JD: Ich denke, dem
Design wird in den Hyperfiction der zweiten Generation in
der Tat eine verstärkte Bedeutung zukommen. Das hat mit
unserer visuellen Intelligenz zu tun, damit, dass ein Bild
mehr sagt als tausend Worte und wir ein Gesicht weitaus
länger erinnern, als den dazugehörigen Namen.
Natürlich darf Visualität nicht zum Selbstzweck
werden. Dann entsteht das, was Beat Suter einmal als
"Klicki-Bunti-Spektakel" bezeichnet hat. Die glatte
Oberfläche der Flash-Animation weist in diese Richtung.
Ich wehre mich jedoch grundsätzlich dagegen,
spektakuläres Design zwangsläufig mit einem
Verlust an Textqualität und einem Abbau an
Sinnkonstruktion gleichzusetzen.
Ich würde das Argument
vielmehr drehen: Spektakuläres Design kann und soll auf
den idealerweise damit gekoppelten literarischen Text
aufmerksam machen. So arbeitet Werbung. Warum sollte sich
Literatur davon nicht ein Stück abschneiden? Worum es
mir also geht, ist, zu betonen, dass Bild und Wort in den
Hyperfictions Allianzen, kreative Koexistenzen eingehen
müssen. Hier besteht Nachholbedarf. Hier müssen
überzeugende Vorbilder erst noch geliefert werden.
Finden Sie Texte mit literarischer Qualität im Netz,
ist das graphische Potential oft von frustrierender
Ungelenkigkeit. Ist das Design gut, haben die
parallelisierten Texte dann zumeist den
Intelligenzquotienten von lokaler
Gastronomiewerbung.
dd:
Häufig wird ja dementsprechend auch die "mangelnde"
literarische Qualität von Netzprojekten beklagt. Sie
haben ja mit Ihren Studenten mehrere Projekte praktisch
umgesetzt. Welche Richtlinien haben Sie dabei den Studenten
bei der Umsetzung vorgegeben? Oder anders formuiert: Was ist
für Sie das Wesentliche an der ästhetischen Arbeit
mit dem Computer bzw. dem Internet?
JD: Nun, ich habe die
Studierenden versucht darauf hinzuweisen, daß zur
Produktion von Hyperfiction zwei zentrale Qualifikationen
gehören: Technisches Rüstzeug und poetisches
Vermögen. Keines darf gegen das andere ausgespielt
werden, eines kann ohne das andere nicht existieren.
Praktisch gesagt: Ohne HTML, JAVA und PERL-Kenntnisse geht
nichts. Ebensowenig geht jedoch ohne Kenntnisse in
Figurenzeichnung, Konzeption einer stringenten Dramaturgie,
sprachliche Kompetenz. Sie haben recht: In der Netzliteratur
wimmelt es von Beispielen poetischen Analphabetentums. Dies
nicht zufällig. Es gibt kaum eine Person, die
technisches und poetisches know-how in sich vereinigt.
Ausnahmen inbegriffen. Nicht zufällig sind daher die
wenigen gelungenen Arbeiten Beispiele für die Fusion
der zwei Kulturen im Sinne Snows, wo sich der Techniker und
der Künstler zusammentun. Dies ist für mich eine
weitere große Chance, die Hyperfiction bietet. Sie ist
noch längst nicht ausgereizt.
dd:
Ihre eigenen Projekte haben ja eher "Binnencharakter", d.h.
könnten auch auf CD-ROM existieren. Machen Sie fuer
sich einen Unterschied zwischen Computer und Internet? Und
wenn ja, worin liegt er Ihrer Meinung nach?
JD: Nun, ich bin kein
Vertreter jener puristischen Einstellung, für welche
Internet-Literatur unabdingbar mit dem Online-Status
verknüpft ist. Unter digitaler Literatur fasse ich
vielmehr eine Literatur, deren ästhetische
Existenzvoraussetzung unabdingbar mit dem Maschine Computer
verknüpft ist. Ob dies Online oder Offline geschieht,
halte ich für zweitrangig. Man kann meines Erachtens
nicht ernsthaft lokale Datenträger wie CD oder DVD als
Rezeptions- und Distributionsmedien von digitaler Literatur
aus dem Definitionsrahmen verbannnen. Natürlich kann
ich die spezifischen Mittel des Internet für die
Konzeption der Texte nutzen. Aber weshalb dies gleich zur
ästhetischen Eintrittskarte ins Reich der Hyperfiction
erheben?
dd:
Ist denn Hyperfiction Ihrer Meinung nach die einzige Form
literarischer Produktion mit dem Computer? Es gibt doch im
Netz zahlreiche literarische Projekte, die die vernetzte
Kommunikation nutzen - Mitschreibeprojekte, kooperative
Produktionsnetze, etc. Wuerden Sie solche Phänomene
dann nicht als Literatur bezeichnen?
JD: Niemals
würde ich Mitschreibprojekten, kooperativen
Produktionsnezten und ähnlichen Formen von
Netz-Kooperativität diesen literarischen Anspruch
absprechen. Leider gilt m.E. auch hier: Zwischen der
Brillianz der ästhetischen Idee und ihrer
künstlerischen Umsetzung klafft jener
häßliche Abgrund von Wunschtraum und
Wirklichkeit. Ausnahmen wie etwa den "Assoziationsblaster"
eingeschlossen. Möglicherweise ist Basisdemokratie im
Reich der Ästhetik - und nur dort - keine
erstrebenswerte Größe. Wo ein Dutzend oder mehr
Leute gleichzeitig auf einer gemeinsamen elektronischen
Schreiboberfläche an einem literarischen Objekt sich
versuchen, werden sie kaum über Chat-Gruppen-Niveau
hinauskommen. Dagegen ist auch nichts einzuwenden. Der
Psychologe freut sich über die dergestalt erzeugte
gruppendynamische Interaktion. Nur: Ob sich der literarisch
interessierte Leser freut, würde ich zutiefst
bezweifeln. Um ehrlich zu sein: Ich freue mich meistens
nicht, sondern klicke weiter.
dd:
Es gibt ja Überlegungen im literaturwissenschaftlichen
Umfeld, die auch den Programmiercode, der ja zweifellos auf
Sprache basiert, in den Literaturbegriff mit einzubeziehen.
Was spricht Ihrer Meinung nach dafür oder dagegen, eine
solche Erweiterung des Literturbegriffes
vorzunehmen?
JD: Der Autor als
Programmierer: die Idee ist nicht neu, so innovativ sie sich
auch gerieren mag. Daß das Medium seine eigenen
Produktionsbedingungen reflektiert und diese Reflexion
parallel dazu zum Bestandteil seiner Produktion macht,
finden wir bereits bei den Romantikern. Friedrich Schlegel
nannte das Ganze "Transzendentalpoesie". Damit sind wir beim
Problem. Als ästhetischer Gedanke funktioniert die
Sache blendend. Nur: Wenn wir uns dann einmal in alle Ruhe
die poetische Realisation dieses Gedankens ansehen, kann ich
nur sagen: Der Kaiser ist nackt oder zumindest nur
dürftig bekleidet. Das 18. Jahrhundert hatte Romane wie
"Lucinde", die diesen ästhetischen Ansatz zu
verwirklichen suchten. Das 21. Jahrhundert kennt
Perl-Gedichte, die sowohl als Sprache als auch als
Programmiercode parallel fungieren. In beiden Fällen
entstehen m. E. literarische "Kopfgeburten", denen die
Leidenschaft wirklicher Dichtung fehlt. Sie fehlt, weil
Literatur, da wo sie bei der Umsetzung einer
ästhetischen Idee rein analytisch, also mit einer 1:1
Transformation Theorie=Dichtung verfährt, im
wesentlichen Langeweile beim Rezipienten erzeugt.
dd:
Also zurück zur Leidenschaft als einer Basis
ästhetischer Produktion! Vielen Dank für dieses
Gespräch.
Ihr
Kommentar

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