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Trost der
und Technik oder:
Die Versuchungen der Multimedialität

von Roberto Simanowski

- Abstract - Struktur - Interview -

Jürgen Daibers und Jochen Metzgers "Trost der Bilder," Gewinner des zweiten Preises von Pegasus 1998, beginnt mit einem Versprechen und einer Lüge. Während der Titel Bilder als Heil in einer noch unbestimmten Situation anpreist, ist in der Einleitung von "Trostgeschichten" die Rede. So wie die "Aaleskorte" vorgibt, Film zu sein, und keiner ist, so lässt "Trost der Bilder" eine Bildergalerie erwarten und bietet dann doch 'nur' eine Galerie von Kurzgeschichten. Diese sind eingebettet in Musik und eine 'interaktive' technische Spielerei, begleitet von bewegten Bildern. Viel Multimedialität also, die die Jury wie im Falle der "Aaleskorte" zur Vergabe eines Preises bewogen haben muss. Dabei hätten diese bebilderten Geschichten, so mögen 'Ungläubige' einwenden, genauso gut gedruckt werden können. Und in der Tat, es handelt sich um konventionell erzählte Geschichten, die einen klaren Anfang und ein klares Ende haben und dazwischen keinerlei Hypertextstruktur. Ist "Trost der Bilder" also ein Betrug? Nein, jedenfalls nicht im hier gemeinten Sinne. Es ist im Gegenteil beinahe eine Sammlung verschiedener Ausdrucksformen der digitalen Literatur, die keineswegs gedruckt werden könnten.

Bühnenshow

Der Text startet wie eine Bühnenshow: schwarzer Hintergrund, eine Tür öffnet sich oben rechts und läßt ein weißes T hinein, das sich über die Bühne bewegt, unter dem T ein weißer Lichtkegel. Plötzlich ein weiterer Lichtkegel, dann ein dritter. Drei Spots und ein T füllen nun die schwarze Bühne. Aus dem T löst sich ein zweites, zwischen beiden wächst ein O heran, bald kommen weitere Buchstaben hinzu, bis der Titel geformt ist.


(verkleinerte Nachbildung des Originals)

Eine grandiose Eröffnung in technischer und ästhetischer Hinsicht. Der Leser fühlt sich in einen dunklen Saal vor eine Bühne versetzt und erwartet den Fortgang der Performance. Da nichts weiter geschieht, bewegt er schließlich die Maus auf jenes mit markierten Diagonalen versehene Trapez unter dem Titel, das sich nun als Menü herausstellt. Bei Mouseover-Kontakt erscheit ein grün ausgefülltes Dreieck am rechten Trapezrand mit dem Wort >weiter<, Mouseover auf der anderen Seite des Trapezes ergibt ein blau ausgefülltes Dreieck mit dem Hinweis >zurück zum vorigen Abschnitt<. Dem Zuschauer obliegt es also selbst, die Sache voranzutreiben.

Die nächste Szene ergibt ein Männergesicht im schwarzen Hintergrund und einen weiß geschriebenen Text, der genau so beginnt, wie eine Bühnenshow beginnen könnte: "Meine Damen und Herren, kennen Sie die Psychographie? Nein? Macht nichts. Ganz kurz, in medial-mundgerechtem Umfange aufbereitet, eine Einführung: Mit der Psychographie erfahren Sie unbeschränkten Erfolg durch bessere Menschenkenntnis". Der/die Sprecher/in, das ist bald klar, hält nicht viel von der Psychographie.

Der Klick auf >weiter< bringt es an den Tag. Neben einem o Frauengesicht steht hier: "Meine Damen und Herren, unsere These lautet, die Psychographie ist Müll." Die gegebene "Antithese" heisst: "Das Leben ist trostlos", mit der griffigen Zusammenfassung: "Das Brot fällt mit der Nutella-Seite voraus in den Dreck, die schönen Frauen und Männer sind in Begleitung, die Zeit vergeht und Sie werden sterben."

Wer nach dieser Erinnerung an den eigenen Tod im Programm bleiben will, wird schließlich eingeladen, sich durch einige Geschichten trösten zu lassen. Der Trost, so die Botschaft hier, liegt also nicht im Bild, sondern im Wort.

Digitale Therapie

Um herauszufinden, welche Geschichten für den Leser am geeignetsten sind, soll mittels sechs Multiple-Choice-Fragen dessen Persönlichkeitsprofil erstellt werden.o Die Fragen sind vom Stile "Wo möchten Sie leben", "Welche Persönlichkeit des öffentlichen Lebens verehren Sie", "Was kommt in ihrem Leben zu kurz" - die möglichen Antworten lauten: "Wallstreet, Insel, Bauernhof", "Helmut Kohl, Lady Di, Mutter Theresa", "Sex, Nachdenken, Ausspannen". Je nach Antwort steigen oder fallen die sechs Icons (Liebe, Filme, Autos, Sport, Drogen, Kinder), die sich auf der x-Achse eines Diagramms befinden. Diese Icons repräsentieren die Sparten, aus denen später eine bis vier Kurzgeschichten abgerufen werden können. Nach der letzten Antwort bewegen sich die Icons an den rechten Rand des Bildschirms, gemäß ihrer Position in der Vertikale (das oberste Icon im Diagramm nimmt somit die oberste Position am Bildschirmrand ein), womit also die persönliche Reihenfolge erstellt wurde, nach der die Leserin nun die Trostgeschichten aufrufen sollte.

Das alles ist sehr beeindruckend in technischer Hinsicht. Was aber transportiert es darüber hinaus? Was soll die Rede vom Elektro-Therapeuten, der nach erfolgter Testauswertung individuell zugeschnittene Trostgeschichten verordnet. Zum einen stimmt es nicht, denn der Therapeut verordnet keine Trostgeschichten, sondern legt, was ein großer Unterschied ist, lediglich deren Reihenfolge fest. Zum anderen fragt man sich, ob dieser Test nicht insgesamt ein Betrug ist. Ergeben unterschiedliche Antworten tatsächlich unterschiedliche Reihenfolgen? Ja; sie tun es. Aber gibt es wirklich eine Logik hinter dieser Differenz?

Es sieht ganz danach aus. Wer z.B. zugibt, dass der Parter stöhnt, man sei eine Schlaftablette, erhält ein steigendes Sport-Icon, bei >Workaholic< fällt das Autos-Icon, empfindet der Partner einen als >der/die Falsche<, sinkt das Kinder-Icon. Natürlich verbraucht Sport nicht nur Energie, sondern macht auch energischer und natürlich liegt der Trost nicht gerade in Kindergeschichten, wenn die Beziehung davor steht auseinanderzubrechen. Von ebenso überrumpelnder Plausibilität ist das Ergebnis bei der Frage nach der am meisten bewunderten Person des öffentlichen Lebens: Mutter Theresa verursacht ein steigendes Liebe-Icon, Lady Di nichts, Helmut Kohl ein steigendes Sport-Icon; wer der schnellen Zustimmung widersteht, fragt sich freilich, welche Logik in dieser Zuordnung liegt: warum lässt Mutter Theresa, die für ihre Liebe bekannt ist, das Liebe-Icon steigen, warum Kohl, der nicht als Sportler berühmt wurde, das Sport-Icon.

Wenn indes auf die Frage "Was spricht Sie positiv an" die >Bundestagswahl< das Kinder-Icon fallen läßt, ist der Bezug schon schwerer zu erstellen. Auch das steigende Sport-Icon beim ebenfalls zur Auswahl stehenden >Armageddon<, der biblischen Metapher für politische Katastrophe, leutet wenig ein. Und warum verursacht der Bauernhof als Wunschlebensort eigentlich steigende Autos- und Sport-Icon?

Bedenkt man die Willkür der Reaktionen und hat man einmal ihre Inkonsistenzo erkannt, ist man nicht mehr lange der Meinung, dass dieses Anfangsspiel der Interaktion ernst genommen werden sollte. Welche Funktion aber hat es dann? Ist es bloße technische Spielerei, digitaler Kitsch, der einem schwachen Werk mit einigen Effekten aushelfen soll?

Die Frage des digitalen Kitsches werden wir noch ausführlich behandeln.o Hier sei zunächst nur festgehalten, dass dieses Interaktionsspiel recht gut den Aspekt der Performance aufgreift, mit dem das Ganze begann, und damit den Kitschverdacht in gewissem Sinne entkräftet. Versetzte die Eröffnung der Show mit weißem Spotlicht im abgedunkelten Saal die Leser in die Rolle von Zuschauern, zeigt sich nun, dass sie in eine Show geraten sind, in der sie selbst auf die Bühne müssen. Man kennt diese Art Interaktion von Kleinkunstdarbietungen und man weiß auch, dass sie mitunter nicht wirklich den weiteren Ablauf der Show bestimmt, sondern mehr einer Aufwärmung von Publikum und Künstler dient. Die scheinbare Interaktion in Trost der Bilder könnte unter diesem Aspekt gesehen werden.

Ein gewichtigeres Argument ist allerdings der Unernst, den die Autoren immer wieder betonen. Dies beginnt im "Klappentext"o und ist unüberhörbar in der Einladung zum Psychotest - "Welcher Form des Trostes bedürfen Sie? Um dies herauszufinden, machen Sie doch auf die Schnelle [Hervorhebung R.S.] ein paar Angaben über sich selbst..." - sowie in der Erklärung zur Testdurchführung: "Anklicken, lesen und sich besser fühlen!!!"

Man hat bald begriffen, dass der Witz darin liegt, die Leser, nachdem sie gerade belehrt wurden, dass die Psychographie Müll ist, zu einem Psychotest zu verführen, der ganz offensichtlich auch Müll ist. Die Gutgläubigen, die wirklich meinten, dieser Test werde sie den für sie richtigen und wichtigen Geschichten zuführen, werden als Dummköpfe vorgeführt (wenn es tatsächlich eine Bühne gäbe, auf der sich die Show abspielte) bzw. erkennen sich selbst als solche. Sie wenden vielleicht ein, dass der Witz nicht aufgeht, weil er auf einer falschen Voraussetzung beruht: wenn keine Alternative besteht, diesen ominösen Test des Persönlichkeitsprofils zu umgehen und direkt zu den Geschichten vorzuschreiten, ist der Lacher freilich leicht zu haben und die implizite Publikumsbeschimpfung nicht viel wert. Jedoch, die Alternative besteht. Sie ist kaum sichtbar, aber sie existiert: im Menütrapez gibt es die Funktion "diesen Absatz überspringen". Dass sie so versteckt ist (die Funktion wird erst bei Mouseover sichtbar) ist kein Zeichen nachlässiger Programmierung, im Gegenteil: wer wirklich die Abneigung gegen diesen dummen Text spürt und nach der Alternative sucht, der wird mit dem Ausweg belohnt. Die anderen müssen eben den Spott ertragen.

Wie steht es nun aber um die Trostgeschichten im einzelnen? Und was haben diese mit dem ganzen Vorspiel zu tun? Der zweiten Frage ist an späterer Stelleo nachzugehen, zunächst seien einige der Geschichten mit ihren raffinierten technischen Effekten vorgestellt.