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Konzept und Mangel

- Struktur -

Es stellt sich nun die Frage, wie das Ganzen zusammenpasst. Was haben die Geschichten mit dem Vorspiel zu tun? Inwiefern integrieren sie sich in die Parodie der Psychographie, mit der alles begann? Die Antworten lauten: nichts und nicht. Zur Erklärung sei etwas weiter ausgeholt.

Die Autoren behaupten einen Zusammenhang zwischen Psychographie, Test und Geschichten. Die Aussage im Klappentext - mit den Texten entfalte sich eine tröstliche Fiktion vor den Augen des Trostbedürftigen und unmittelbar danach stelle sich psychische Besserung ein - besagt in der angesetzten Logik der Ironie das Gegenteil. Es gibt gerade keinen Trost, es gibt gerade keine psychische Besserung durch Geschichten. Dies ist leicht als Weiterführung der Demontage zu verstehen, die vorher im Hinblick auf die Versprechen der Psychographie unternommen wurde. Insofern scheint in der Tat Konsequenz und Kohärenz vorzuliegen. Aber wie kann das sein? Wie sehen Geschichten aus, die zu keiner psychischen Besserung führen!

Da die meisten Geschichten einen unglücklichen Ausgang haben (unerfüllte Liebe, Selbstmord, Drogentod, Unfalltod...), könnte mit dem Mangel an Happy Ends das suggerierte Ausbleiben psychischer Besserung begründet sein. Die damit implizierte Annahme, dass nur Geschichten mit glücklichem Ausgang Besserung verursachten, wäre allerdings höchst problematisch. Die Autoren würden sich auf diese Weise jenen anschließen, die das Psychoheil durch positive Gedanken, Geschichten, Gefühle versprechen. Wenn die Geschichten nun des mangelnden Happy Ends wegen zu keiner Besserung führen, wird ex negativum die Formel Happy End = Wohlgefühl unterstützt.

Dies würde freilich eine Banalisierung der Kunst bedeuten, denn es übersähe, dass auch traurige Geschichten eine positive psychische Wirkung ausüben können. Sie lassen uns Formen des menschlichen Seins erfahren und bereichern uns mit der Fülle des Lebens. Sie lassen uns innehalten und der condition humaine eingedenk werden: der Unzulänglichkeit und des Scheiterns als menschliche 'Grundeigenschaften'. Diese Bereicherung ist es, die uns "Antigone" oder "Werther", "Hamlet" oder "Madame Bovary" ein Quell der Kraft sein lässt. Happy Ends betrügen um diese Erfahrung, zum Teil durchaus zu recht, wie im Falle Hollywood und Amerika, wo Optimismus zur conditio sine qua non jener Pioniere gehörte, die einst von Übersee kamen, den Kontinent zu bebauen, und heute ein fester genetischer Bestandteil der Nachkommen ist. In dieser Logik muss Zuversicht sein. Es ist die gleiche Logik, die man gemeinhin an Produkten der Massenkultur beobachtet, ein versimplifizierendes Stimulus-Response-Konzept, das Trost nur im glücklichen Ausgang findet.

Die Unterstellung, die Autoren des vorliegenden Werkes folgten dem ästhetische Ansatz der Massenkultur, ist so harsch, dass Zurückhaltung geboten ist, angesichts der Beweislage. Zudem sprechen die Geschichten in "Trost der Bilder" selbst verschiedentlich vom Trost des Unglücks, wenn z.B. Martin nach dem fahrlässig verursachten Unfall innehält und angesichts der vielen Leute, die sich um ihn kümmern, das Leben bemerkt, "das aus jeder kleinsten Pore seines Wesens strömt und das er so lange schon vermißte", oder wenn das erzählende Ich nach dem Bericht vom Unfalltod des Formel 1 Fahrers Ayrton Senna dem tödlichen Ausgang dieser Lebensgestaltung eine Vision abgewinnt.o Und noch die erschütternde o Entdeckung der Masturbation eines 60jährigen "Spießbürgers" im Kino endet in unbestimmter Weise zuversichtlich.

Was aber ist dann der tiefere Sinn des Ganzen? Die gegenteilige Option, dass von den Geschichten durchaus Trost zu erwarten sei, passt nicht zur vorangegangenen Ironisierung und würde erst recht keine sinnvolle Konzeptualisierung des Ganzen ergeben.

Susanne Berkenheger überbrückt den Graben zwischen Ansatz und Ausführung mit der Ansicht, dass der Trost im Nichtgeschehen der Katastrophe liegt: "Der Trost der Geschichten liegt nun darin, daß nichts passiert. Die sich ankündigende Katastrophe tritt nicht ein oder bleibt nahezu folgenlos. Die geschilderten Nicht-Ereignisse zeugen von genauer Beobachtung und sind ebenso präzis geschrieben." Damit wäre "Trost der Bilder" nicht nur eine lose Sammlung gutgeschriebener Geschichten, sondern ein Konzept, das aufgeht. Das Problem ist, dass es keine sich ankündigende Katastrophe gibt, schon gar nicht eine, die nicht einträte oder nahezu folgenlos bliebe. Es gibt nur lauter kleine Katastrophen, unangekündigt und durchaus folgenreich.

Es bleibt die Möglichkeit der Aussage, dass sich durch Geschichten generell kein Trost einstellen könne, seien sie nun mit oder ohne Happy End. Dieses Misstrauen in die Wirkung des Wortes gäbe auch dem Titel seinen tieferen Sinn. Der Trost wäre somit tatsächlich allein in den Bildern zu suchen und nicht in den Trostgeschichten, die später versprochen werden (vorausgesetzt, dass >Bilder< nicht bildlich gemeint ist im Sinne von Metapher und auch Worte einschließt). Diese Lesart würde dadurch unterstützt, dass der Titel als oberste Textebene unmittelbare Aussage der Autoren darstellt, während die Rede von den Trostgeschichten auf der untergeordneten Textebene schon im Rahmen der Ironie zu lesen ist. Aber was bedeutet das? Und welche Bilder könnten gemeint sein?

Nun, mit Sicherheit nicht Bilder an sich, Fotos etwa, die schön komponiert wurden oder als Schnappschüsse authentische Momente des Lebens festhalten. Die Bilder dieses Werkes unterscheiden sich prinzipiell von denen der Aaleskorte, wo Bilder ebenfalls eine wesentliche Funktion einnehmen. Das Besondere der Bilder im vorliegenden Werk ist, dass sie im Rahmen ihrer digitalen Existenzform bearbeitet wurden: sie drehen sich, sie blinken auf, sie verwandeln sich in andere Bidler, sie bewegen sich (wie die galoppierende Giraffe) über die 'Bühne'. Es beginnt mit der Eröffnung und setzt sich fort im Test und in den Geschichten. Aber inwiefern sind diese Bilder Trost? Insofern sie effektvoll sind! Insofern sie die Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Die Verlagerung des Trostes vom Wort auf das Bild ist im Grunde keine überraschende Aussage für ein Werk digitaler Literatur. Viele Beispiele digitaler Literatur scheinen mehr auf den technischen Effekt als auf die Arbeit am Wort, an der Geschichte, an den Charakteren abonniert zu sein. Dies veranlasst zu einiger berechtigter Sorge und Kritik. Im Falle "Trost der Bilder" sind aus der soeben entwickelten Perspektive die zum Teil recht verspielten, zum Großteil überflüssigen technischen Effekte jedoch nicht mehr als peinliche, deplazierte Ornamentierung zu verstehen, sondern als gewollte Feier seiner selbst. Das ästhetische Konzept hinter diesem Verfahren ist die beabsichtigte Gestimmtheit des Technischen, das bewusste Bekenntnis zumo Kitsch in seiner spezifisch digitalen Form.

Das Konzept von "Trost der Bilder" erlaubt insofern einerseits, ungestraft technische Effekte anzuhäufen, und kann sich andererseits noch als avantgardistisch ausgeben: im Sinne des Widerstandes gegen die konservativen Erwartungen einer etablierten Ästhetik. Man fühlt sich erinnert ano Camp, das ebenfalls bewusst ein Verhältnis der Begeisterung zu Kitsch suchte.

Allerdings kann Camp nicht vom Autor intendiert werden, sondern verlangt den 'Unfall', den ungewollten Kitsch, der nicht sich selbst reflektiert und von Anfang an auf Parodie aus ist. Aber auch die Rechnung des gewollten Kitsches als künstlerische Aussage geht im "Trost der Bilder" nicht auf: den Geschichten mangelt es an mangelnder Qualität. Man kann nicht wirklich von einer technisch ambitionierten Präsentation des Bedeutungslosen sprechen, die Texte sind stilistisch zu gut und inhaltlich zu gewichtig. Sie taugen nicht als entsprechender Hintergrund für das Trost-der-Bilder-Konzept als mögliches Konzept der Gestimmtheit des Technischen.

Das Ergebnis ist ein bemerkenswertes Paradox: wären die Texte schlechter, hätte man ein funktionierendes Gesamtkonzept, da sie zu gut sind, stehen sie unverbunden für sich, verliert das Ganze an Qualität. "Trost der Bilder" ist damit als Gesamtwerk gescheitert: die Teile passen nicht zueinander, die Verliebtheit in technische Effekte kann sich nicht als Konzept etablieren, sie bleibt Verliebtheit, unreflektiert, mitunter verspielt bis zur Peinlichkeit. Dem stehen die Texte gegenüber, denen es an Verspieltheit mangelt; hier findet man genaue Beobachtungen in wohlüberlegt gesetzten Worten. Der Gewinn des Scheiterns - ein ungeplanter Trost gewissermaßen - sind einige Texte, die für sich genommen und im Hinblick auf die eingesetzten technischen Effekte sehr gut aufgehen.