Digitale Literatur ist nicht
schon deswegen vom Verdacht des Kitsches befreit, weil sie
technisch ist - selbst die Abwesenheit des röhrenden
Hirsches oder der weinenden Madonna beweist nicht genug.
Dieses
Unternehmen ist freilich heikel, insofern Kitsch sich kaum
als objektivierbarer Tatbestand fixieren
lässt. Ludwig Giesz legt den
Gegensatz von Identifikation und Distanz zugrunde: "Im
Kitscherleben ist ähnlich wie im Behagen die
spezifische Distanz des Ästhetischen zugunsten eines
Zustandsgefühls weitgehend unterdrückt."
(1)
Die Rezeption von Kunst zeichnet sich demgegenüber
durch "Fernstellung von Ich und Gegenstand"
aus.(2)
Vor Giesz hatte Otto Friedrich Bollnow in ähnlicher
Weise eine Unterscheidung vorgenommen zwischen
Gefühlen, die auf einen bestimmten Gegenstand bezogen
sind, und Stimmungen, die als gegenstandslose
"Zuständlichkeit" zur genüßlichen
Stimmungstrunkenheit entarten können.(3) Aus einer etwas anders
akzentuierten Perspektive ist Kitsch durch Fülle und
die Überspitzung formalästhetischer Mittel
gekennzeichnet. Die formale Überladenheit an
ästhetischen Attraktionsmitteln resultiert aus der
Absicht, Effekte zu sichern und zeigt die Unsicherheit,
diesbezüglich das richtige Maß zu finden.
Eine Variante dieser Unsicherheit
ist die Eins-zu-eins-Relation von Signifikant und
Signifikat, der Rückgriff auf erprobte stilistische
Mittel, die eine schnelle Dekodierung
garantieren Eine andere Variante
unangemessenen Einsatzes formalästhetischer Mittel ist
das Ornament, zumal wenn es an industriell gefertigten
Gegenständen erfolgt und völlig deren
Funktionalität widerspricht. Der philosophische
Hintergrund dieser Ornamentierung des Funktionalen ist das
"Bestreben, dem Profanen des Lebens Extra-Qualitäten zu
verleihen, die es erhöhen [
] der
funktionale Gegenstand unterwirft sich dem Zweck, der
kitschige will um jeden Preis bedeuten, er pocht auf seinen
eigenständigen Wert." (4) Beide Aspekte - das
Zustandsgefühls eines distanzlosen Genusses und den
unangemessenen Einsatz ästhetischer Mittel - findet man
in der digitalen Literatur. Das Zustandsgefühls des
distanzlosen Genusses buchstabiert sich dabei als
Gestimmtheit des Technischen, das nicht als Anlass der
Kontemplation dient, sondern als Selbstzweck in den
Vordergrund tritt. Die Gefahr dieser Erscheinung liegt nahe,
da die technische Grundlage der
digitalen Literatur einen Großteil der Aufmerksamkeit
auf die Lösung von Programmier-Aufgaben lenkt und
diesen einen eigenständigen Wert beizugeben
tendiert.
(2) Ludwig
Giesz, "Phänomenologie des Kitsches", München
1971, S. 30ff. (3) Otto
Friedrich Bollnow, "Das Wesen der Stimmungen", Frankfurt am
Main 1941. (4) Claudia
Putz, "Kitsch - Phänomenologie eines dynamischen
Kulturprinzips", Bochum 1994, S. 148f. |