ein bild

La bibliothèque est un feu


"Nous sommes, ce jour, plus près du sinistre que le tocsin lui-même, c´est pourquoi il est grand temps de nous composer une santé du malheur. Dût-elle avoir l´apparence de l´arrogance du miracle."

(René Char: A une sérénité crispée)

26.02.2005 00:44:09 

Testfall (vormals "Ausfahrt")


Die Faust im Griff bereit wie ein Stein
in der Schleudermulde, eine Kralle aus Luft
entert die Pumpe: diese Angst wird geübt

für das erste Mal. Stehen im Pulk. Glieder
Puppenlieder klappern: auf in den Hang
verklappte Verhaue, Liegenschaften, Ligaturen

aus dem Kies geknöchert, Stufen stummen
Alarms, zu Bestürzendes. Jede Kurve kippt
den verpassten Zielen ein neues hinterher.

Mithalten jetzt, die Hand auf
Zu. Finden, es ist nicht genug.

01.05.2004 18:20:47 

Begehbare Baustellen


Nichts wird auf meinen Baustellen je fertig. Im Grunde wird auch nicht viel gebaut, es handelt sich eher um Ausgrabungsgelände. Hie und da eine Strebe, ein Stützbalken, und natürlich ein stetes Sichten, Säubern, Sortieren und Flicken des Gefundenen, das kein Ende findet. Deshalb begehbar, anders geht´s nicht.

Die dritt- und viertletzten Zeilen von Ausfahrt kenne ich schon seit fast zwei Jahren. Da sie dort, sonst aber noch nirgends, hinzugehören schienen, fügte ich sie in die zweite Fassung eines Gedichts ein, die ich Pendler nannte. Doch irgendwie - tut mir leid, aber es war tatsächlich bloß ein irgendwie - störte das Stück dort mehr als es die Pendler in Fahrt brachte. Inzwischen habe ich deren Bus stillgelegt und mich von ihnen verabschiedet. Das Teil, das an allem schuld war, hob ich auf. Es sah aus, als wäre es noch mal zu gebrauchen.

für Nadja

01.05.2004 18:43:00 

Begehbare Baustellen (Achtung - Widerstreben)


Und wenn es noch nicht stimmte oder womöglich nie? Wenn es Bruch über Bruch gäbe, man sich an manchen Stellen vor Teilen, Scherben, schönen, aber völlig unverwertbaren Resten irgendeiner aus eigener Kraft nicht mehr zu re/konstruierenden Gesamtanlage nicht retten könnte, nur mal gesetzt den Fall, das geschähe (das glückliche Finden, nicht das unglückliche Irren, das geschieht andauernd)?
Dann Borges. Dann die Erinnerung an die zweite Ausgabe seines Gedichtbandes Buenos Aires mit Inbrunst, in deren Vorwort er schrieb, der Leser möge ihm nachsehen, dass er, Borges, sich den einen oder anderen Vers zuerst angemaßt habe. Dann noch einen Halbschritt weiter (und nebenbei vielleicht ein Päckchen geschnürt für Sebastian Kiefer: Sie hören noch von mir, Herr Kiefer, Sie mit Ihrer Behauptung, die Literatur, die Lyrik zumal, habe die Moderne verschlafen, weil es ja in Zeiten der bio-elektro-neuronalen Erkenntnisse weder ein Ich noch von diesem darzustellende Sinnzusammenhänge mehr geben dürfe, da doch sinnstiftender Zusammenhang überhaupt eine Simulation sei - geschenkt, ja, im Wortsinn). Noch eine Entlastung weiter also und einen Brief an die Hersteller multipler Vexierspiele geschrieben oder eine Rundmail an Freiwillige verschickt: sämtliche Bruchteile stehen ab sofort kreativen Puzzlern, Restauratoren und sonstigen Personen zur freien Verfügung, die Fundstelle gehört mir nicht, die ausgegrabenen Stücke sind Allgemeingut, Fahrlässigkeiten mit dem Material verbieten sich also schon aus diesem Grunde.

Warum dann aber nicht zurück zur Enzensbergerschen Maschine? Das kann ich nicht schlüssig beantworten, und es wäre auch viel moderner, wer wollte das leugnen. Sagen wir, der menschliche Faktor ist immer noch der schwieriger berechenbare Zufall. Außerdem macht es einfach mehr Spaß so, und solange mir nicht einmal Wolf Singer hieb- und stichfest erklären kann, wie es kommt, dass sich meine bioelektrischen Einzelteile Tag für Tag auf eine einigermaßen verbindliche, wiedererkennbare Ich-Version einigen, mag sich die ihren Spaß nicht nehmen lassen.

06.05.2004 18:38:14 

Sammler und Jäger


Wenn Geschichten von Baustellen erzählt wurden, habe ich früher meistens abgeschaltet. Seit kurzem höre ich sie mit Interesse - sehr zur Freude meines Vaters, der sich in seiner Freizeit immer so gern auf Baustellen aufgehalten hat, als wären es Abenteuerspielplätze. Auch aus dem Bekanntenkreis höre ich neuerdings Baustellengeschichten, oder sie fallen mir, manchmal mit jahrelanger Verspätung, wieder ein.

Ein Freund, der für einige Monate in Lauenburg lebte und sich die Zeit dort mit Spaziergängen vertrieb, stieß auf die Reste eines Kellers, den man beim Abriss eines alten Hauses über anderen, noch älteren Kellern freigelegt hatte. Beim Scharren mit der Schuhspitze fand er im Schutt eine Keramikscherbe. Nach ersten Grabungsversuchen mit Ästen, Ziegelbruch und Fingernägeln förderte er genug zutage, um am nächsten Abend mit einem Spaten zurück zu kommen. Wie sich herausstellen sollte, stammten die ältesten Scherben aus dem frühen siebzehnten Jahrhundert, die jüngsten aus der Mitte des zwanzigsten. Der glückliche Entdecker erwarb sie vom Besitzer des Grundstücks gegen die Zusage, die Scherben so schnell wie möglich aus dem Weg zu schaffen.
Am Ende des Aufenthaltes in Lauenburg brachte er die inzwischen grob nach Material und Farbe sortierten Bruchstücke in ungefähr einem Dutzend Fuhren in seinem Kastenwagen nach Hannover.
Das war vor fünf Jahren. Die ersten drei Jahre nach dem Fund vergingen über immer feinerem Sortieren. Inzwischen sind weniger als zehn Gefäße, Flaschen, Schalen, Schüsseln, Teller zusammengesetzt.
Am schlimmsten sei der Zweifel. Viele Teile, die zunächst zu einander zu passen schienen und entsprechend zusammengesetzt wurden, fehlten beim nächsten Stück. Andere Rekonstruktionen gingen zwar leichter von der Hand und sehen sogar aus, als könnten sie so gedacht gewesen sein, beruhen aber im Ergebnis nur auf einer eigenmächtigen Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Form, einen speziellen Verwendungszweck. Es könnte alles auch ganz anders sein.

Ein anderer Bekannter arbeitet als Zeichner für das Landesmuseum in Hannover. Er hält sich nicht auf Baustellen oder an Ausgrabungsorten auf, er zeichnet die Scherben ab, die andere gefunden haben. Zu welchem Zweck, weiß er selbst nicht, er hat verschiedene Theorien, die alle nicht besonders einleuchtend sind. Die Frage nach der Schlüssigkeit der Rekonstruktionen (die er dann wiederum abzeichnet) beantwortet er aber genauso: je länger man einen Gegenstand anschaue, desto sicherer werde man, dass alles auch ganz anders sein könnte.

Möglicherweise lande ich auch bald auf einer Baustelle. Nichts ist im Moment rund um Berlin schneller zu haben. Neben Enthusiasmus braucht man fundierte Kenntnisse, vor allem auf den Gebieten der Materialbeschaffung und der Sicherung der eigenen Baustelle. Längst ist in den ausgestorbenen Dörfern der Märkischen Schweiz ein Spiel um Materialbeschaffung und Sicherung entbrannt. Mit Öfen, Fensterrahmen, Türen, mit allem halbwegs Brauchbaren geht es hin und her und irgendwann im Kreis. Letztlich, so erklärte man mir, hänge der Erfolg, mit dem eine Baustelle betrieben wird, von der Geschwindigkeit ab, mit der man den Materialkreislauf auf der eigenen in Gang hält.
Sollte ich mich entschließen, für das übliche Entgeld - einen Apfel und ein Ei - eine eigene Baustelle zu erwerben, müsste ich natürlich viel lernen. Vermutlich wäre es ein lebenslanger Prozess. Die nächtlichen Ausfahrten sollen allerdings herrlich sein, auch die Nachtwachen hätten, versichert man mir, ihren Reiz. Man gewöhne sich bald so sehr daran, dass man ohnehin nicht mehr durchschlafe. Angst und Skrupel seien aber ganz unangebracht, sie vergingen auch rasch in Anbetracht der Tatsache, dass beim besten Willen nicht mehr zu ermitteln sei, wer welchen Türsturz zuerst von welcher Baustelle auf die eigene gebracht hat. Überhaupt: eigentlich sei alles ganz anders.

(Auftreiben und Sichern von Baustellen)

15.06.2004 15:39:00 

Sicherheitshinweise


"Baustellen sind Unfallstellen.
Immer wieder kommt es zu Stürzen, ob vom Gerüst oder zu scheinbar ebener Erde. Nicht minder häufig sind Verletzungen durch Materialien und Zubehör. Genaue Kenntnis der zum Einsatz kommenden Gerätschaften und Sorgfalt bei ihrer Handhabung helfen, unliebsame Zwischenfälle zu vermeiden, auch und gerade in der Vorbereitungsphase. Die hierfür aufgewendete Zeit ist gut investiert: nichts hält länger auf als ein Unfall, wenn etwa eine Gerüststrebe nicht korrekt verschraubt oder ein Gangbrett schlechter Qualität verwendet wurde.

Weitere Risiken lassen sich durch das Tragen entsprechender Schutzkleidung eindämmen: Helm und Stahlkappenschuhe sollten immer getragen, Ohren- und Augenschutz bereit gehalten werden, um nötigenfalls - und nur dann - angelegt werden zu können. Die mit der Beachtung der Sicherheitsvorschriften verbundenen Unbequemlichkeiten sind im Verhältnis zu ihrem Nutzen allemal zu rechtfertigen, zumal Baustellen grundsätzlich auf eigene Gefahr betreten werden. Vom Eigeninteresse abgesehen, verhält sich, wer sich hier aus Leichtsinn ernstlich verletzt, verantwortungslos gegenüber dem Bauvorhaben, gleichgültig ob es sich dabei um ein visionäres handelt oder nur um die Realisation eines bescheidenen Wohnblocks.

Ebenfalls aus Sicherheitsgründen empfiehlt sich Nüchternheit, sogar während längerer Pausen: das fehlende Material mag gleich angeliefert, eine kaputte Maschine wieder instandgesetzt werden, so dass die Bautätigkeit eher als vermutet ihren Fortgang nehmen kann. Selbst leichte Rauschzustände könnten dann den Blick auf Flächen, Geraden und Winkel verzerren und den Umgang mit dem Werkzeug erschweren. Auch wenn es nicht unmittelbar zu Unfällen kommt, könnten Mängel am späteren Gebäude die Folge sein.
Dessen ungeachtet sind rauschhafte Stimmungen nicht immer zu vermeiden, sie ergeben sich mitunter sogar aus einem besonders vielversprechenden Arbeitsverlauf und können durchaus beflügelnd wirken sowie Muskelschmerzen und Müdigkeit mildern. Beim ersten Anflug eines Schwindelgefühls sollte die Arbeit allerdings sofort unterbrochen werden.
Vorsicht vor Routine. Sie wirkt, ähnlich wie ein Rausch, betäubend und trügerisch."

(Gefahrenquellen auf Baustellen)

30.06.2004 17:03:46 


Natürlich kommt es, wo gebaut wird, zu Verletzungen. Blaue Flecken, Schrammen, Schrecken, das ist geringfügig. Ernster, wenn es an die Sinne geht. Auch wenn man nicht ertaubt, leidet der Ordnungssinn. Die Organisation des Materials zu einer neuen zerstört die vorhandene Ordnung. Das Leben auf einer Baustelle ist eines, das aus den Fugen gerät.

Als Kind lebte ich auf einer nach der anderen. Ich nehme an, damals ist mein Ordnungssinn auf irreversible Weise verletzt worden. Die Räume veränderten sich ständig und wechselten Standort und Funktion. Meine Mutter kochte Kürbis ein, wo das Wohnzimmer gewesen war, das Wohnzimmer wuchs aus dem Abschnitt des Gartens empor, in dem sie zuvor gegen Maulwürfe gekämpft hatte, der Hügel am hinteren Zaun, aus dem wir zwei Fahrräder, einen Kühlschrank und eine Matratze gruben, wurde Kürbisbeet. Provisorien waren die Norm: Böden, über die man nicht gehen, sondern nur in weiten Sätzen springen durfte, Türen, die an vermauerten Eingängen lehnten oder bei Betreten, bzw. Verlassen eines Zimmer beiseite- und wieder zurück gestellt wurden, im Vorgarten aufgebockte Fenster, deren frisch eingesetzte Scheiben ständig aufs Neue zu zerspringen drohten, während das Wetter durch die vergrößerten Öffnungen, die nun wirklich windougen waren, in die Außenwände eindrang, von wo man es später wieder entfernen musste, indem man ihre inneren Verkleidungen niederriss.

Eigentlich lebten meine Mutter und ich in keinem Haus. Wir lebten, ohne einmal umzuziehen, in einer Reihe verschiedener, nie ganz fertig gestellter Häuser, in Entwürfen eines bestimmten Hauses, dem wir uns auf diesem Wege - der trotz gelegentlicher kleinerer Un- und Zwischenfälle gewiss nicht viel unbequemer war als jeder andere - allmählich zu nähern hofften.
Auch mein Vater lebte in keinem Haus, sondern in der Vorstellung von seinem Haus. Genau genommen lebt er bis heute dort. Obwohl die Umbauten, die er vornimmt, geringfügiger geworden sind und man also annehmen könnte, er müsse nun bald in seinem Haus ankommen, habe ich den Verdacht, dass er diese Ankunft absichtlich hinauszögert. Er ist längst Nomade geworden, er liebt die langsamen Bewegungen der Zimmer, in denen er die Vorstellung von seinem Haus umkreist. Er hat seinen Ordnungssinn nicht verloren, bloß verlagert auf die Harmonie seiner Werkzeugkästen. Nähme er die gewissenhaft sortierten Schrauben und Schraubendreher, Hammer, Bohrer, die Blätter der Sägen, die Zangen und Pinsel nicht mehr zur Hand, geriete etwas aus den Fugen.

(Umbaustellen)

03.07.2004 17:40:33 

Bauen mit und ohne Genehmigung


"Das Thema Genehmigungen wird oft als lästige Nebensache empfunden, gleichwohl ist jeder Bauherr gut beraten, sich möglichst frühzeitig damit zu beschäftigen, denn trotz der im folgenden skizzierten Einschränkungen gibt es alternative Verfahrensweisen.

So kann der Bauherr seine Planung den Vorgaben entsprechend gestalten. Hierfür ist es nützlich, sich bereits vor Planungsbeginn in der Nachbarschaft umzusehen. Die meisten Anträge werden nicht aus Gründen der Statik oder der Bausicherheit abgelehnt - die Erfüllung dieser Kriterien dient ohnehin dem berechtigten Eigeninteresse -, sondern aus solchen der Städte- bzw. Siedlungsplanung. Werden Grundriss, Fenstergröße, Giebelhöhe und -gestalt u.s.w. passend zum Gesamtbild der Siedlung entworfen, steht der Bewilligung aussagekräftiger Anträge nichts im Wege.
Komplizierter stellt sich die Situation dar, wird z.B. auf spezielle Materialien Wert gelegt. Auch die Entscheidung für einen autarken Versorgungskreislauf (Bohrung eines eigenen Brunnens, Solaranlagen auf dem Dach o.ä.) kann eine Bewilligung verzögern, wenn nicht verhindern. Nachhaltige Baustoffe und Versorgungsstrategien werden offiziell gewünscht, stoßen bei den zuständigen Stellen jedoch immer wieder auf erheblichen Widerstand. Zwangsabrisse gehören allerdings ins Reich der Legende, dieser Begriff bezeichnet lediglich den vom Bauherrn auf behördlichen Bescheid hin selbst vorgenommenen Abriss oder den Abbruch der eigenmächtigen Bautätigkeit (welchem meistens die genehmigte folgen kann). Doch uneinsichtigen Eigentümern drohen Bußen in mitunter existenzbedrohlicher Höhe.

Überwiegt der Wunsch, auf eigenem Grund eigenmächtig, d.h. von Genehmigungen unabhängig zu bauen, gegenüber der Furcht vor den damit verbundenen Risiken, sollte der Bewilligungsunwillige dünn besiedeltes Gebiet bevorzugen. Die Bereitschaft, auf soziale Umfelder sowie auf die Bequemlichkeiten der gewohnten Infrastruktur zu verzichten, ist allerdings ebenso Bedingung wie die gesundheitliche Stabilität des Bauherrn. Sollten familiäre Bindungen bestehen, versichere man sich des zu erwartenden Rückhalts. Zwar sinkt in infrastrukturell unerschlossenen, meteorologisch gefährdeten oder aus anderen Gründen dünn besiedelten Gebieten die Wahrscheinlichkeit, von Amtsinhabern belästigt zu werden, sollte es aber doch zu Konfrontationen kommen, kann von Zumutbarkeitsgrenzen nicht mehr ausgegangen werden. Der Bauherr sollte auf Belagerung gefasst und vorbereitet sein. Das kann auch bedeuten, Angehörige rechtzeitig in Sicherheit bringen zu lassen.

Bewilligungswillige können dagegen nicht nur die Formalitäten der Antragstellung vermeiden, sondern auch Bauzeit sparen. Ihnen wird ein besonderer Service angeboten: Im Fachhandel sind Bausätze erhältlich, denen die Genehmigung schon beiliegt."

03.09.2004 14:34:33 

Baufälle


1




Gute Gründe


"Das Bauen auf eigenem Grund" - ich weiß nicht. Grundbesitz ist etwas Irritierendes. Gründe sind anfällig für Spekulationen, ihr Wert steigt und fällt, ohne dass ihnen im Vergleichszeitraum ein Berg entwüchse oder sich unversehens ein rauchender Krater auftäte. Die besten sind oft so entlegen, dass niemand Anspruch auf sie erhebt, also billig, bis der Wind umschlägt und plötzlich ein jeder sie haben oder - auch eine Variante - schon seit je gehabt haben will, es gibt Enteignungen, Erbstreitigkeiten, alte Pachtverhältnisse und Gewohnheitsrechte, wer soll sich damit noch auskennen? Wie soll man angesichts kaum durchschaubarer Abhängigkeiten sein Vertrauen noch in Grundbesitz setzen, wie überhaupt davon sprechen?

Irgendwann erfuhr ich, dass wir keineswegs auf eigenem Grund lebten. Mein Vater gestand, jährlich einen sehr kleinen Betrag, eine Art symbolische Pacht, gezahlt zu haben. An wen, blieb unklar, es schien sich um ein gesichtsloses Konsortium zu handeln. Manche Nachbarn glaubten, es sei "die Kirche", ohne angeben zu können, welche genau - was mich eine Zeitlang beunruhigte, besonders nachts, war doch der Legende nach die Kirche unseres Ortes einst in dem See versunken, an dessen Ufer wir nun wohnten. Uns Kindern wurde eingeschärft, auf das Läuten vom Grund des Sees zu achten und im übrigen nicht zu weit hinauszuschwimmen.
Meinen Vater wiederum beunruhigte die zwiespältige Eigentumssituation: das Haus gehörte ihm wohl, doch was nützte ihm das, wenn der Eigentümer des Grundes uns eines Tages vertriebe? Im Lauf der Jahre hatte mein Vater nie eine Nachricht des Eigentümers erhalten, nie war eine Anfrage, die ewigen Umbauten unseres Hauses betreffend, beantwortet worden, die Briefe meines Vaters schienen in einem toten Briefkasten zu landen oder an entfernte, entweder desinteressierte oder nicht zuständige Stellen weitergeleitet zu werden, so dass wir im eigenen, aber letztlich ganz und gar ungenehmigten Haus wie in einem Erdbebengebiet lebten, in dem es zwar lange ruhig geblieben war, wo es jedoch gerade darum bald zu Verschiebungen, Aus- und Umbrüchen kommen konnte.
Von dieser Unsicherheit angetrieben, beschloss mein Vater, zu verkaufen, was ihm gehörte. Aber es fand sich niemand, der den ungewissen Grund mitsamt den ungenehmigt veränderten, bzw. errichteten Gebäuden, dem Wohn- und dem Gartenhaus sowie dem ebenfalls eigenmächtig weit in den See hinaus gezimmerten Badesteg, in Kauf nehmen mochte.
Nach Phasen des Zorns, der Depression und Resignation fasste mein Vater endlich seinen unverrückbaren Entschluss: er würde den Eigentümer ausfindig machen und einen Kaufpreis aushandeln, und wenn ihm das nicht gelänge, würde er Anspruch auf den Grund erheben, öffentlich und persönlich. Er hatte das Gelände kultiviert, bebaut, gepflegt und gegen Überschwemmungen verteidigt, er hatte das Ufer befestigt, die Obstbäume gepflanzt und den Garten angelegt, seit mein Vater sich dieses Grundes angenommen hatte, war ein viel besserer daraus geworden, und er kannte jeden Quadratzentimeter davon, ja zum Teufel, pflegte er zu sagen, dies war längst sein eigener!

Bis heute hat niemand dem Anspruch meines Vaters auf seinen angeeigneten Grund widersprochen. Vielleicht ist er im Recht, oder zumindest in dem, was so unangemessen friedvoll klingend "Gewohnheitsrecht" heißt. Wenn Grundbesitz bedeutet auszuharren, dann gehört ihm sein Grund so gut wie mir meine Gründe, nichts davon erben zu wollen. Bei weitem nicht alles, was er damit angefangen hat, gefällt mir. Ich könnte, zum Beispiel, auf den Steg verzichten.

05.10.2004 00:42:36 

Flugdächer (mit Pferd, Tür und Bogen)


Das Vertrackte am Erben ist, dass immer etwas bleibt: das muss untergebracht werden. Auch ein Erbe, das man ausschlägt, bleibt, als Mangel oder Leerstelle, und die Konstante des Provisorischen mag eines der sperrigen, schwer zu veräußernden Erbstücke sein, die die flugbereite Leichtigkeit eines "Dachs überm Kopf" und die unablässige Veränderung eines Hauses hinterlassen.

Das Wort ist auch sperrig, lässt sich nicht ohne weiteres einordnen in doch halbwegs bewohnbare, wenn auch stets sich in Bewegung befindliche Zimmer, Zimmer wie die, in denen mein Vater unterwegs war: Nomade. Das Wort selbst ist bewohnt und, wo die abenteuerlichen, also romantischen Konnotationen zu enden haben, besetzt.
Doch diesseits der Erfahrungen, die der Sesshafte nicht macht, die ihm erspart oder verschlossen oder versagt bleiben, bedeutet vielleicht Nomadentum zunächst eine gewisse Ausgangslage, eine Ungesichertheit, die nicht auf eigenem Erleben beruhende, sondern sozusagen schon ererbte, nein, erlernte Befürchtung, Häuser und Zelte könnten alles gemein haben außer ihre Gewichte. Vielleicht wird diese Befürchtung erlernt wie eine Sprache, in der jedes Wort die anderen Klänge, die weiteren Bedeutungen in sich trägt, wie in dieser hier, in der der Nomade leichter als vorstellbar zur Monade werden kann (könnte das heißen: zur Utopie? "Monaden haben keine Fenster", mag man sich erinnern und fragen, ob das nun vorteilhaft wäre oder eher neuen Befürchtungen Raum gäbe), wie man also Sprachen lernen kann, in denen man nicht wurzelt, aber Luftwurzeln zu schlagen sucht in die Richtungen, in welche es das "Dach übern Kopf hinwegtragen" wird, einen Ziegel nach dem anderen, bis es Scherben regnet, Bruchstücke, so dass man sie wiederfinden, einsammeln, säubern, sortieren und zusammensetzen muss für ein geflicktes, fragiles, wiederum vorläufiges Dach, ach was, für einen boDen, einen weg, eine tür, ein ragen, einen Kahn, ein ich, für ein Lachen fehlt was, aber wenigstens bliebe in diesem Fall ein pf, also ohne ich, dafür besser ein pferd, das einen tragen könnte, nur nicht über den boDen und ohne weg, dafür womöglich über den See (immerhin wäre da noch der Kahn), oder es ginge durch einen bogen, aber ohne tür, doch angefeuert mit einem hü und so fort, in einer Anagrammatik, die ein Rebus ums andere legt und das dann manchmal aussehen ließe wie eine Wendung, von der, wie man es auch dreht und wendet, ein Rest bleibt.

(Die Baustelle als Anagrammatik)

21.10.2004 16:59:54 

Trittsteine


"Heutzutage bietet sich dem Auge nichts als eine lange, unansehnliche, von Brombeersträuchern und Efeu gesäuberte Grube, in der Teile des Pflasters, Säulensockel und mächtige Fundamente gleich Knochenresten sichtbar sind.
(...) Jetzt aber ist die Ehrfurcht wiedererwacht, allerdings die Ehrfurcht von Grabschändern; die Wissenschaft ist von fieberhafter Neugier erfaßt und erregt sich über Hypothesen, man durchforscht den historischen Boden, in dem die Kulturen in Schichten übereinanderliegen, und schwankt zwischen den fünfzehn bis zwanzig Rekonstruktionen, die man vom Forum entworfen hat und von denen die eine so annehmbar ist wie die andere."

Emile Zola: Rom (1896)


"Im Hintergrund einer breiten mehrspurigen Asphaltstraße stand der Schutthaufen des Kolosseums, lehmig-gelb angeleuchtet und mit den schwarzen Rundbögen, die an Stolleneingänge denken ließen. - Neben mir, zur einen Seite der Via Dei Fori Imperiali, eine tiefergelegene Schrotthalde und eingezäunt.
(...) Über schwarze große Basaltbrocken ging ich dann an dem Trümmerfeld hoch, vielleicht habe ich innerlich gegrinst - aufgerissene Rollbahnen eines Flugplatzes in Vechta - Bombentrichter voll Wasser - eingefallene Hallen - Zementmatten, die aus den Eisengerüsten hängen - grünes Sprühen einer Brandbombe - lautlos abbrennendes Stangenpulver nachmittags - Metallwracks von Flugzeugen - geborstene Plexiglasscheibe der Flugkanzel - kleine schwarze Figuren, die unter geblähten Pilzkappen herunterschweben - Unkraut wuchert das Gelände zu."

Rolf Dieter Brinkmann: Rom, Blicke (1979)

11.01.2005 13:46:31 

counterreferrer