Romane im Frühjahr : Auf der Jagd nach einem Phantom
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Bild: Graf Verlag
Von Göttern und Gegenwart, Eigenbrötlern und Exempeln: bei Autoren wie Mathias Gatza und Péter Nadás geht es in diesem Frühjahr um die großen kosmischen Zusammenhänge. Eine Auswahl aus unserer Literaturbeilage zur Leipziger Buchmesse.
Von Göttern und Gegenwart, Eigenbrötlern und Exempeln: bei Autoren wie Mathias Gatza und Péter Nadás geht es in diesem Frühjahr um die großen kosmischen Zusammenhänge. Eine Auswahl aus unserer Literaturbeilage zur Leipziger Buchmesse.
Was für eine Welt! Das Wissen explodiert, die Grenzen zwischen den Disziplinen verwischen, der Fortschritt ist schneller als die Einsicht, und China droht mit seinen Erfindungen und seiner Produktivität die alte Welt noch älter aussehen zu lassen, wie überhaupt der Globus beängstigend zusammenrückt. Es ist noch nicht lange her, da hat ein verheerender Krieg Europa in Trümmer gelegt, und die Erinnerung daran bleibt eine Wunde, auch wenn diejenigen, die diese Barbarei noch selbst erlebt haben, immer weniger werden. Die großen Städte sind gigantische Baustellen, wo die etablierten Marken mit Residenzen ihr Revier abstecken. Es ist eine Epoche der Selbstinszenierung, der Wissensrevolution und der ständigen Reizüberflutung. Wer die Kunst dieser Zeit betrachtet, sieht Blumen, Früchte und Totenschädel; wer aus den Bildern in die Welt schaut, entdeckt Prachtentfaltung und Barbarei - und eine so ansteckende wie gefährliche Illusionsbegeisterung.
Was ein Porträt unserer Zeit sein könnte, ist tatsächlich ein Panorama des Barocks. Diesen Blickwechsel wagt nicht zufällig jetzt Mathias Gatza, der schon früher im scheinbar Entlegenen das überraschend Zeitgemäße hervorholte. Gatza ist neunundvierzig Jahre alt und hat die Literatur und ihren Betrieb über zwei Jahrzehnte als Leser, Lektor, Verleger und Schriftsteller aus ebenso vielen Perspektiven erkundet wie jetzt seinen historischen Romanstoff. Seine geistige und sinnliche Zeitreise in die Blüte des Dresdner Barock unternimmt er dezidiert aus der Gegenwart heraus - und das macht seinen Kunst-Liebes-Philosophie-Krimi „Der Augentäuscher“ von einem schmissig-eleganten Mantel-und-Degen-Roman zu einer faszinierenden Folie unserer Gegenwart.
Briefroman, Thriller, Wissenschaftsfarce - Gatza jongliert mit beängstigend vielen Genres zugleich. Dabei ist ihm die Wahrscheinlichkeit der Handlung mit barocker Nonchalance im Grunde gar nicht so wichtig. Ähnlich wie in seinem erstaunlichen Debütroman „Im Schatten der Tiere“ von 2008 legt er zwar auch hier für Trüffelsucher alle möglichen Fährten aus, doch ist diesmal nicht allein ein neugieriger Intellektueller und hochversierter Rechercheur am Werk, sondern vor allem ein lustvoller Erzähler. Und noch dazu einer mit Humor.
Frühen Zeitgeist weiterspinnen
Präsentiert wird die aktionsgeladene Reflexion über unsere Sehgewohnheiten in einem dreifach gebrochenen Plot. Das Buch tritt uns auf den ersten Seiten entgegen als unentgeltlicher Download von der Internetseite eines namenlos bleibenden Herausgebers, der ohne Verlag, ohne Fürsprecher und ohne höhere akademische Weihen selbstbewusst verkündet, mit seinem Dokument „das Bild des deutschen Barocks, die gesamte Bildgeschichte und die Kunstgeschichte überhaupt“ neu schreiben zu wollen. Die Mischung aus Größenwahn, erschreckender Offenheit - die Bemerkungen zu seiner Selbsteinschätzung, seinen Zwangshandlungen und seinem Kommunikationsverhalten sind geeignet, an jeder zweiten Biegung Scharen von Therapeuten auf den Plan zu rufen - und stolzer Skrupellosigkeit bei der Verfolgung seiner Mission nimmt der vermeintlich wissenschaftlichen Abhandlung alle Erdenschwere. Zwar geht es um nicht weniger als die Frage danach, was und wie wir sehen - aber das Nachdenken darüber führt vom Atelier des Goldenen Zeitalters bis zu den Promibildchen der „Gala“, vom vatikanischen Archiv (kleiner Gruß an Dan Brown) zum zerwühlten Liebeslager.