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Hebbel, der vergessene Jubilar Der allergrößte Schreckensmann

 ·  In der Reihe der großen Jubilare dieses Jahres wird einer meistens übersehen. Warum der Lyriker, Dramatiker und Intellektuelle Friedrich Hebbel nicht vergessen werden darf.

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© dpa Vergrößern Ein Autor von dunkler Faszination: Friedrich Hebbel

Ein Lehrjunge in Hamburg“, notiert Friedrich Hebbel im Mai 1839 in sein Tagebuch, „träumt, er werde auf dem Wege nach Bergedorf ermordet, und erzählt seinem Meister den Traum. ,Sonderbar ist es‘, sagt dieser, ,dass du eben heute mit Geld nach Bergedorf musst.‘“ Der Junge ängstigt sich furchtbar und bittet auf dem unheimlichen Weg einen Dorfschulzen, ihm jemanden zur Begleitung mitzugeben, der gibt ihm seinen Knecht, dem erzählt der Junge unterwegs von seinem Traum - „und der Knecht ermordet ihn“.

Unter allen deutschen Schriftstellern des neunzehnten Jahrhunderts war Friedrich Hebbel vielleicht der ungemütlichste, schonungsloseste. Seine Trauerspiele hat man „Menschenfallen“ genannt, seine Gedichte streben Illusionslosigkeit in allen menschlichen Beziehungen an: „,Du höhnst mich noch? Ich schlag dich, Hund!‘“ geht ein Balladendialog zwischen Vater und Sohn, „,Schlag zu, mir tut’s nicht weh! / ,Ich trete dich!‘ Das ist gesund! / Juchhe! Juchhe! Juchhe!“ Wie es den Individuen in der Welt ergehe, schrieb Hebbel einmal, sei gleichgültig, für das Unglück, das sie erlitten, bedürfe es keiner Entschuldigung, so wenig wie es Trost für die gibt, die als Gute leiden. In diesem Bewusstsein der Trostlosigkeit fand er sich in seiner Zeit isoliert: „Wenn ist das deutscheste aller deutschen Worte.“

In seinem Tagebuch, das er von 1835, als er zweiundzwanzig war, bis zu seinem Tod 1863 führt, hält er diese Gleichgültigkeit und dass keine Hoffnung ist, sondern allenfalls ab und an ein Aufatmen, immer wieder in solchen Moritaten wie der vom Bergedorfer Knaben fest. Und in Anekdoten, die wie Brühwürfel für künftige Novellen oder Dramen wirken. 1848 beispielsweise, der Kriminalroman ist noch nicht erfunden, diese: „Einer wird ermordet. Er lebt noch, wie man ihn findet, er sagt aus, daß er den Mörder gekannt, will ihn aber nicht nennen, weil er nicht will, daß seinetwegen jemand sterben soll. Das wird anders ausgelegt nach seinem Tode, man glaubt, es sei einer seiner Freunde pp gewesen, Nebenumstände häufen sich und ein Unschuldiger muß sterben.“ Aus den wenigsten dieser Kürzestgeschichten hat Hebbel selbst längere gemacht. Seine Tagebücher sind ein wahres Rezeptbuch für Schriftsteller, die unter Stoffmangel leiden.

Genauer: Sie könnten es sein. Denn Hebbel ist fast vergessen. 1813 geboren wie Büchner, Kierkegaard, Verdi und Wagner, hat er in diesem Jubiläumsjahr keine einzige Biographie erhalten. Und das, obwohl die einzige ausführliche von seinem Freund Emil Kuh schon 1877 vorgelegt wurde und seitdem fast nichts mehr kam. Der Kreis seiner Bewunderer ist sehr überschaubar, nicht nur, weil Bewunderung so ziemlich die unangemessenste Haltung gegenüber einem Autor ist, mit dem verglichen Schopenhauer heiter wirkt. Die kritische Edition von Hebbels Tagebüchern konnte, dem Vernehmen nach, nicht abgeschlossen werden, weil die Deutsche Forschungsgemeinschaft den Druckkostenzuschuss (noch) nicht bewilligt hat. An den Theatern werden manchmal noch die „Nibelungen“ oder die Triebtragödie „Judith“ aufgeführt. Aber auch die Zeit, in der in den Gymnasien an „Maria Magdalena“, dem ersten deutschen Stück mit einem Personal aus Tischlern, Kassierern und Sekretären, brav die Gattungsgrenze des bürgerlichen Trauerspiels abgeschritten wurde, ist lange vorbei. Es blieb kein farbiger Mythos an diesem Schriftsteller haften, der es schon zu Lebzeiten niemandem recht machen wollte.

Als Hebbel 1839 jene Geschichte des ermordeten Jungen festhielt, war er gerade in Hamburg angekommen - von München, in einem gewaltigen Fußmarsch, halbverhungert und mit zerrissenen Stiefeln. Seit seiner Kindheit in Dithmarschen lebte er in bitterarmen, in „ängstlichen“ Verhältnissen, wie er schreibt, die einen Weg zur Literatur nicht vorsahen. Zu den „Schreckensmännern“, wie Arno Schmidt einst diejenigen Dichter bezeichnet hat, deren Phantasie feindlichsten Lebensumständen abgetrotzt wurde, zählt Hebbel mehr als jeder andere. „Schlag zu, mir tut’s nicht weh!“ - Hebbel wusste, wovon er sprach, und kam immer wieder darauf zurück, was Härte und beispielsweise väterlicher Hass für Kinder bedeutet, die nicht verstehen, was sie erleiden müssen. Für manche von ihnen: die Unfähigkeit, sich selbst leiden zu können. „Für meinen Nächsten würde oft wenig dabei herauskommen, wenn ich ihn liebte wie mich selbst.“

Aufstand des Eigensinns

Kinder bevölkern die Gedichte und Reflexionen Hebbels. Kinder, die im Traum fliegen und sich, erwacht, aus dem Fenster werfen, weil es doch soeben noch ging mit dem Fliegen. Kinder, die ihren Eltern pädagogische Bücher mit der Aufforderung bringen, sie danach zu erziehen. Kinder, die von ihren Vätern mit ins Wirtshaus genommen werden, damit sie, die Kinder, ihnen ein gutes Beispiel geben. Hebbel war ein gequälter Mensch, der selbst erstaunt gewesen sein mag, wie sich der gute Wille durch die Härte der Umstände hindurch erhielt. „Mein Leben ist eine langsame Hinrichtung meines innern Menschen. Seis drum.“ Unerträglich war es für den seiner Begabung Gewissen, jahrzehntelang der Bittsteller von Leuten sein zu müssen, die ihm Danksagungen „bis zum jüngsten Tag“ abverlangten. Eine noch schwerere Tugend, schreibt er, als die Dankbarkeit sei es, „die Ansprüche auf Dank nicht zu übertreiben“.

Doch die Hindernisse, die er sich in den Weg gelegt sah, waren noch andere. Er fühlte sich nicht imstande, so zu dichten, wie er wollte. Selbst als der Theaterautor eine Weile vom Erfolg verwöhnt wurde, täuschte ihn das nicht über die Luft zwischen Anspruch und Verwirklichung: „Nicht alles ist möglich, aber der Schein von allem.“ Die Tagebücher sind auch deshalb voller unausgeführter Pläne. Zu einem der größten Exemplare dieser Gattung machen sie seine Beobachtungen, die er im Stil der französischen Moralisten in einer Zeit macht, von der er schrieb, sie sei die Parodie aller vorhergehenden. Er ist Zeitgenosse von Marx und Wagner und Flaubert. Aber es gibt nicht viele historische Beispiele für einen Intellektuellen, der sich so wie er keiner „Weltanschauung“ und keiner Ästhetik überließ, obwohl er im Gefühl lebte, dass alle überlieferten Moralen, Religionen, Philosophien an den Verhältnissen und am Aufstand des Eigensinns gegen die Tradition vorbeigreifen: „Ihering erzählt mir heute, ihn habe, als er Theologie studieren wollte, immer die Vorstellung verfolgt, Gott und Maria -.“

So stand er durch Eigensinn seiner Nachwirkung im Weg. Aber nicht in seinen Gedichten. Von dem Knaben auf der Landstraße nach Bergedorf heißt es wenig später in den Tagebüchern, er zeige ein „Bild der Ewigkeit“, und zwar „ein lächerliches“. Warum? Nun, was immer in dieser Geschichte geschieht, hat keine Auswirkung auf ihr Ende - also kennt die Geschichte keine Zeit, also ist sie eine Parodie auf die Ewigkeit. So dialektisch dachte Hebbel, sein Geist spürte aus allem das Maximum an Bitterkeit heraus: Selbst das Ende zu kennen nützt dir nichts, der Idealismus hat recht, nur anders, als du meinst, denn es kommt genau so, wie es dir träumt.

Der deutschen Literatur hat das eines ihrer unheimlichsten und ergreifendsten Gedichte beschert: „Der Heideknabe“, den Robert Schumann (op. 122 Nr. 2) vertonte. „Und fragt ihr, wie’s weiter gekommen sei? / So fragt zwei Vögel, sie saßen dabei, / der Rabe verweilte gar heiter, / die Taube konnte nicht weiter! / Der Rabe erzählt, was der Böse noch tat, / und auch, wie’s der Henker gerochen hat; / die Taube erzählt, wie der Knabe / geweint und gebetet habe.“ Es ist nicht in Ordnung, dass Friedrich Hebbel, der diese Verse schrieb und Rabe und Taube in einer Person war, vergessen wurde.

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Jahrgang 1962, stellvertretender Leiter des Feuilleton.

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