FIXPOETRY weiterempfehlen

 


Link: http://www.fixpoetry.com

Autorenbuch Marc Mrosk WO DIE STEINE AUCH BLUMEN SIND – FIXPOETRY.com

Gewählter Autor: Marc Mrosk

Sollte Ihr Browser kein Flash unterstützen:

WO DIE STEINE AUCH BLUMEN SIND

von Marc Mrosk

An einem Mittwochmorgen kam Manechs Brief an. Ich riss ihn beim Treppensteigen auf und las über die ersten Zeilen. Er schrieb mir, dass er sich sehr über meinen Brief gefreut hatte und hoffte, seiner würde mich bei bester Gesundheit erreichen. Er schrieb mir außerdem, dass er an einem kleinen Filmprojekt arbeitet und hofft, noch in diesem Jahr damit fertig zu werden. Wir hatten August. Des Weiteren erzählte er mir von seinen Geschichten und Manuskripten, die er bis dato geschrieben hatte und von denen mal gerade ein Zehntel, wenn es hoch kam, an eine Leserschaft ging. Der Rest vermoderte in seinen Holzregalen. Er schrieb mir von New York und wie das Leben dort so ist. Er schien begeistert von Brooklyn zu sein, der Heimat von Paul Auster und Hubert Selby, jr. Dort, wo Woody Allen seine Inspirationen sammelte und Al Capone das Licht der Welt erblickte. Brooklyn war so vollgestopft mit Menschen, schrieb er mir, und seinen Zeilen zu urteilen, wollte er sie alle umarmen. New York schien ihm gut zu tun.
Sein nächster Brief, der nur drei Tage später eintraf, klang etwas besorgter. Er hatte neuerdings Probleme mit dem Einschlafen. Seine Inspiration ginge dabei flöten, schrieb er mir. Er aβ dann immer zwei Schalen Müsli und schaute sich einen Alfred Hitchcock Film an. “Noch immer kein Erfolg«, las die letzte Zeile seines zweiten Briefes und dann das mickrige “M” in der Ecke des Blattes. Ich schrieb ihm von Los Angeles und meiner Zeit zwischen den Lastern dieser Welt, die sich alle hier versammelt hatten und den Palmen, die von der roten Sonne angestrahlt wurden und immer grauer zu werden schienen. Im nächsten Brief schrieb er von seinem kurzen aber eindrucksvollen Besuch im Süden Deutschlands im Juli 2006 und wie ihn die Hitze um den Verstand gebracht hatte. Er erzählte in seinem Brief von der heiβen Luft, die wie ein unsichtbares Feuer die Menschen an die Brunnenplätze trieb. Dies war sein letzter Aufenthalt in Europa, bevor er die neue Welt besuchte. Nach einer gewissen Zeit kamen seine Briefe in regelmäßigen Abständen, so auch seine Depressionen und Selbstzweifel. Manech zerbrach an jedem Wort, das er auf Papier brachte, ein Stück mehr. Er begann mit verschiedenen Vorsätzen, als er merkte, dass ihn die Lethargie gepackt hatte. Er versprach, mehr zu lesen und mehr zu schreiben. Er wollte mehr Ideen entwickeln, seine alte Kamera umschnallen, um dann durch den Central Park kurz vor Einbruch der Dunkelheit zu wandern und dabei wundervolle Bilder schießen.
Seinen nächsten Brief schrieb er auf einer kleinen Holzbank im Park, die ihm für eine kurze Zeit als Inspirationsquelle dienen sollte. Dorthin nahm er seine Bücher und verschlang eines nach dem anderen. Er ging von Jack Kerouac über zu Garcia Marquez und landete am Ende bei Dumas. Es stimmte ihn fröhlich, wie er mir schrieb, ein so reichen Wortschatz zu absorbieren, aber seine Laune war schon beim darauf folgenden Brief wieder dahin. Seinen Film erwähnte er nicht mehr und wie seine einst gelesenen Bücher wechselten, wurde nun aus einem Glas Bier eine Flasche Wein und aus einer Flasche Wein zwei Flaschen Cognac. Als die Drogen dazu kamen, wurden aus seinen Briefen bald Postkarten. Meine Briefe hingegen bestanden zum Groβteil nur noch daraus, ihn an die wahre Bedeutung seines Aufenthalts in diesem Land zu erinnern. Er sprach einst von Schöpfung und dem Verlangen immer mehr zu kreieren, bis jegliche Ressourcen ausgeschöpft waren, um dann als seniler alter Greis dem Tod entgegen zu lächeln. Jetzt standen nie mehr als neun oder zehn Wörter auf seinen Postkarten, die immer den Times Square zeigten. Jede Postkarte aus einer anderen Perspektive und zu einer anderen Tageszeit. So teilte er mir seine Bewegungsabläufe binnen 24 Stunden mit. Die alte Holzbank schien ihn in keinster Weise mehr zu inspirieren. Nur eine Postkarte sollte die Brooklyn Bridge zeigen. In jener teilte er mir mit, dass er sich verliebt hatte und schon bald wurden aus den Postkarten wieder Briefe. Er lieβ vom Alkohol und den Drogen ab und widmete sich einem kleinen Film über eine junge Tänzerin, die mit unglaublichem Lampenfieber zu kämpfen hatte. Doch er war bankrott. Das Casting, das er für seinen eigentlichen Film vor Wochen arrangiert hatte, fiel aus und so stand er da, mit nicht ausreichendem Equipment und einer Idee, die mal gerade für ein Gedicht reichte. Es wurde November, und wie der trübsinnigste aller Monate einkehrte, kamen Manechs Depressionen zurück. So viel wie in ihm, sah ich auch in mir. Die Ereignisse, die in Los Angeles, auf meiner Seite, und in New York, auf seiner Seite, parallel verliefen, schafften einen starken Bund zwischen uns und obwohl wir uns nie trafen, gab es keine Zweifel, dass wir oft die selben Wege gegangen waren. Ich arbeitete seit nun mehr drei Monaten nachts in einem 24-Stunden-Parkhaus. Die Luft war stickig und die Aussicht aus meinem kleinen Kassierhäuschen war beschränkt auf eine in grau gestrichene Wand. Als Manech mit seinen Dreharbeiten zu seinem dezenten romantischen Melodrama begann, hatte er nichts auβer seiner Kamera und die Vision einer jungen Frau, die er Tag für Tag aus seinem Fenster beobachtete und schüchtern auf der Straβe begrüβte.
Seine Briefe wurden weniger und mein Schreibfluss zur Überraschung ein wenig intensiver. Ich machte mir Sorgen, dass der Schriftverkehr vielleicht sogar abrechen könnte und schickte ihm jede Woche drei Briefe. Er fühlte sich geschmeichelt und schöpfte aus unserer Freundschaft und seiner Liebe zu einer entfernten Nachbarin groβen kreativen Ansporn. »Wie neugeboren« beschrieb er in einem kurzen Brief seine wieder gefundenen visionären Fähigkeiten. So wie es ihn traf, musste es dann auch mich getroffen haben. Als ich auf der Suche nach einem zweiten Job im Süden Los Angeles’ die Stellung eines Babysitters bekam, sah ich die kleine Gestalt eines mexikanischen Mädchens, dass für jeden ein Lächeln übrig hatte. Ich erahnte ihre offenherzige Persönlichkeit, verlief mich allerdings in ihrer unglaublichen Sensibilität. Wie könnte ich sie dazu bringen mit mir glücklich zu werden? Wahrscheinlich würde es nie passieren. Manech hingegen bat mich darum, seiner Angebeteten einen Brief mit einem Gedicht zu schicken. Er war mit seinem Film beschäftigt, den er in bester No-Budget-Manier vollkommen alleine fertig gestellt hatte. Er schnitt, komponierte, schrieb, führte Regie und spielte beide Hauptrollen. Ihre und seine.
»Schreib ihr Gedichte. Etwas, dass sie um den Schlaf bringt«, bat er mich in seinem Brief, aber ich hatte selbst auf meiner Seite genügend damit zu kämpfen, ein Mädchen zu begeistern. Mein Verlangen nach ihrer Liebe und den traurigen Worten meines Freundes machten es etwas leichter, meinen Gedichten eine eindrucksvolle Tiefe zu verleihen.
“Befinden wir uns noch in so einer Zeit?« schrieb ich ihm in meinem Brief, in dem er eigentlich einige Liebesgedichte von mir erwartet hatte. »Denkst du, dass den Mädchen heutzutage ein Gedicht reicht, um sie an deine Liebe glauben zu lassen? Was ist überhaupt mit der “Liebe”? Kann man dieses Wort noch getrost in den Mund legen, ohne sich die Zunge zu verbrennen?«
Seine Antwort kam so trocken, wie der Sommer hier in Los Angeles. »Schreib mir ein verdammtes Gedicht.« Der nächste Brief, den ich ihm schrieb, barg nichts auβer Gedichten. ›Schön‹ wären sie, wie er mir schrieb, aber er hätte auch genauso gut vom Sonnenuntergang sprechen können. »Schön« war es bestimmt, aber war es wirklich etwas Besonderes? Ich denke nicht. Ich schrieb derweilen weiter an meinen Texten und sammelte die Absagen zahlreicher Verlagshäuser. »Wie schön, dass sie sich die ganzen Nächte um die Ohren geschlagen haben, um dieses Manuskript zu schreiben, aber für unser Haus ist es nicht geeignet.«
»Oh…okay. Sicher, das verstehe ich, und jetzt fahrt zur Hölle!«
Jeden Abend trank ich und ging dann betrunken ins Bett. Hier und da mal ein dezenter Joint aus der Spendiertasche meines sterbenden Nachbarn. Wenn aus mir noch ein anständiger Schriftsteller werden würde und aus Manech ein bedeutender Filmemacher, konnte man schon von einem Wunder sprechen. Unsere Mädchen verloren sich in die Arme anderer Männer, und wir waren gespalten zwischen der Hölle und dem unbestimmten Abgrund. Ich verlor meine Jobs, unser beider Geld ging aus und unsere Wohnungen verloren mehr an Glanz und Möbeln. Man musste sich schon an den hässlichen Dingen ergötzen, wollte man überhaupt noch an etwas Freude haben. Zum Glück war mir das Sofa geblieben und ein paar Cents um mir ein billiges Bier und Spaghettis aus der Dose zu kaufen. »Ist bestimmt bald vorbei«, sagte ich mir und schrieb ein paar Zeilen auf die Rückseite des Kassenbons vom Supermarkt:
Mein lieber Freund Manech. Das meiste was ich besitze findest du auf diesem Papier. Ich hoffe, es geht dir gut und du hast etwas zugenommen. Seit deinem letzten Brief mach ich mir etwas Sorgen. Gut, mehr Platz habe ich leider nicht zum Schreiben. Den Rest behielt ich in Gedanken. Ich rauchte meine letzte Zigarette, legte mich aufs Sofa und deckte mich mit meiner Jacke zu.
Oh, mein lieber Manech, dieses Leben hätte anders verlaufen sollen.

 

weiterempfehlen

zurück

Autorenarchiv

  1. A
  2. B
  3. C
  4. D
  5. E
  6. F
  7. G
  8. H
  9. I
  10. J
  11. K
  12. L
  13. M
  14. N
  15. O
  16. P
  17. Q
  18. R
  19. S
  20. T
  21. U
  22. V
  23. W
  24. X
  25. Y
  26. Z