FIXPOETRY weiterempfehlen

 


Link: http://www.fixpoetry.com

Autorenbuch Marc Mrosk ROBERT FROST – FIXPOETRY.com

Gewählter Autor: Marc Mrosk

Sollte Ihr Browser kein Flash unterstützen:

ROBERT FROST


Die Sekretärin war verschwunden. Im Empfang von Charlys Büro standen haufenweise Umzugskartons gefüllt mit Büchern und Literaturzeitschriften herum. Ich ging ein wenig auf und ab, schaute hier und dort mal rein. In den Boxen lagen viele Faulkners und Hemingways. Ich trat an Charlys Bürotür heran und klopfte vorsichtig zweimal.   

“Ja?” kam es von drinnen.

Ich trat ins Büro ein. Charly hievte seinen Computermonitor auf den Boden und stellte ihn neben die Umzugskartons, die auch hier zahlreich herumstanden.

“Wo geht’s denn hin?” fragte ich.
“Wir expandieren”, sagte er, “oder…besser gesagt…explodieren.”
Er lachte laut los und hievte mit seinen Händen eine imaginäre Trophäe in die Luft. Sein Hemd war am Rücken vom Schweiß durchnässt und unter seinen Achselhöhlen konnte man schwarze Witwen ersticken. Zappelig, wie ein Geisteskranker, der seine Medizin nicht bekam ging er durch den Raum, hob alles auf, was ihm so zwischen die Finger kam und warf es wahllos in einen Karton.
“Also…” begann er, doch sprach nicht zu Ende. Er nahm sich die kleine Topfpflanze vom Fensterbrett und schmiss sie in einen Karton. Die Erde, die daneben fiel, pflückte er auf und warf sie hinterher. Zerrissene Postkarten oder Fotos, zerknüllte Notizen, leere Dosen oder Flaschen, Kronkorken, Fastfood Tüten, Essensreste, egal was er fand, wanderten in die Kartons. Er griff hinter seinen Schreibtisch, zog eine Mausefalle mit einer toten Maus hervor und gleich darauf flog sie in die Kiste.
“Haben Sie es eilig?” fragte ich und Charly zog einmal kräftig seinen Nasenschleim hoch.
“Hast du den Dichter gefunden, von dem die Zeilen an der Mauer sind?”
Was sollte ich mich noch wundern, was in Charly gefahren war? Kein Smalltalk mehr, keine blöden Fragen, die sowieso unbeantwortet geblieben wären. Er kam nun gleich zur Sache.
“Ja”, antwortete ich.
“Na, dann…lass uns runter nach Downtown fahren.”
„Sie wollen da runter fahren.“
„Ja, wir sollten es uns noch mal zusammen ansehen.“
Ich hatte nichts gegen eine Spritztour in diese Richtung. Er stoppte sein manisches Einpacken und zog sich seine Jacke über. Wie wild kämmte er sich noch einmal mit den Händen durch die Haare und riss die Tür auf.
“Nach dir”, sagte er und trat trotzdem vor mir raus.

Ich war wieder in Downtown. Es war schon eine Weile her, aber ich fand immer wieder eine gewisse seelische Befriedigung, wenn ich durch die zwielichtigen Straßen der überfüllten Innenstadt wanderte. Überall war etwas los. Nicht Aufregendes. Nur ein versmogtes Chaos, das die Menschen ignorieren wollten, aber dennoch in diesem Teil der Stadt brauchten, um es nicht missen zu müssen. Wie der Hund, der mit dem Schwanz wedelt und dir entgegen springt, wenn du nach Hause kommst, auch wenn er vorher im Schlamm gebadet hat. Manchmal war Dreck schöner als Gold. Es dauerte eine Weile bis Charly einen Parkplatz fand, nicht das sich keine Möglichkeiten boten, aber er fuhr, als müsste er heute unbedingt noch eine bestimmte Anzahl von Meilen auf seinem Tachozähler erreichen. Er fuhr eine Runde um den Block, dann noch eine, tippte auf dem Radio herum, doch legte sich nie für einen Sender fest. Zum Glück klingelte sein Handy während der ganzen Fahrt nicht einmal, denn ich hätte mir gut vorgestellt, dass er einfach mit den Knien weitergelenkt hätte. Dann fuhr er auf einen Parkplatz, zahlte die 8 Dollar mit Kleingeld und verließ Schnurstracks den Wagen. Ich zog den Schlüssel für ihn raus, schloss die Türen und holte ihn dann kurz darauf ein.
“Was ist denn los?” fragte ich wieder, auch wenn ich mir geschworen hatte, dass ich den Wahnsinn einfach so ertragen würde ohne irgendwelchen überflüssigen Fragen zu stellen.
“Die sind hinter mir her. Die wollen mich vernichten. Die sind hinter meinem Geld her”, sagte er.
Ich stellte keine Fragen mehr. Charly Fish’s Leben schien mir eine einziges Farce und wenn auch manchmal völlig überdreht, hatte es stets einem enormen Unterhaltungswert.
Ich hätte nichts dagegen gehabt, wenn meine Texte in seiner persönlichen Nervenheilanstalt verlegt werden würden, mal abgesehen von einer möglichen kleinen finanziellen Spritze, die ich mehr als nur nötig hatte.

Wir kamen zu der besagten Wand, an der ich vor Wochen meine Handschrift hinterlassen hatte. Dort hatte er mein Gedicht gelesen, ohne zu wissen, dass es von mir war. Ein Zufall, der sich in unser Theaterspiel eingeschlichen hatte. Wer hätte gedacht, dass ein stupider Dreizeiler an irgendeiner verstaubten Mauer in Downtown Los Angeles mir eine Chance geben würde? Doch ich erkannte meine Handschrift nicht wieder.

“Na?” fragte Charly und zeigte auf die Wörter.
Ich konnte nichts mehr sagen, sondern las nur über die Zeilen.

I shall be telling this with a sigh
Somewhere ages and ages hence
Two roads diverged in a wood, and
I took the one less traveled by
And that has made all the difference

Nein, das hatte ich nicht geschrieben. Mein Gedicht war erst mit Farbe übermalt und dann mit Frosts Worten für immer vernichtet worden. Seine Zeilen waren einfach zu schwer für meine.
“Weißt du wie der Dichter heißt?” fragte er.
Ich antwortete nicht.
„Du weißt es doch, oder?“
Ich schüttelte einfach nur den Kopf.
“Das ist von Robert Frost. The Road Not Taken. Eines der meist zitierten Gedichte der Welt. Jedes Kind weiß es und du hast keine Ahnung?”
Ich hatte nichts mehr zu sagen. Meine Worte lagen irgendwo hinter dem weißen Farbanstrich und würden dort bis in die Ewigkeit verweilen, ohne dass jemand auch nur die geringste Ahnung davon hätte.

“Du hast verschissen, Francis. Tut mir leid”, sagte Charly abschließend und ging davon. Ich schaute nicht hinterher.
„Schon gut“, sagte ich und lächelte.

„Soll ich dich wieder mit zurücknehmen?“ rief er mir zu, doch ich winkte ab.

Er verschwand endgültig und ich machte mich auf den Heimweg. Sechs Dollar waren mir noch geblieben. Zu wenig für ein Besuch in der Jazzkneipe, an der ich vorbei kam, zu wenig für ein saftiges Steak im Restaurant auf der gegenüberliegenden Seite, zu wenig für ein wenig Spaß mit fremden Gesichtern und mexikanischer Mariachi -Musik, die in der Olvera Street spielte. Was wäre denn eigentlich passiert, hätte sich der fallende Speedfreak Charly Fish tatsächlich in meine Texte verliebt? Ich schätze, genau das, was auch immer es war, machte schließlich diesen verschissenen, frostenden Unterschied. Ich suchte die nächste Buchhandlung auf und kaufte mir die „New Enlarged Anthology of Robert Frost’s Poems“ für 5 Dollar und 99 Cents. Dann las ich…

I have been one acquainted with the night.
I have walked out in the rain- and back in the rain.
I have outwalked the furthest city light.

 

weiterempfehlen

zurück

Autorenarchiv

  1. A
  2. B
  3. C
  4. D
  5. E
  6. F
  7. G
  8. H
  9. I
  10. J
  11. K
  12. L
  13. M
  14. N
  15. O
  16. P
  17. Q
  18. R
  19. S
  20. T
  21. U
  22. V
  23. W
  24. X
  25. Y
  26. Z