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Autorenbuch Simone Trieder Start in Quedlinburg – FIXPOETRY.com

Gewählter Autor: Simone Trieder

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Start in Quedlinburg


Von Gernrode aus, wo ich wohnte, als meine Quedlinburger Zeit war, kam mir Quedlinburg groß vor. Das Zentrum von Gernrode war das Lichtspieltheater, dort kam die Welt in Form von französischen, italienischen und amerikanischen Filmen an. Damit konnte Quedlinburg natürlich nicht mithalten. Aber die Stadt war ja auch kein Film. Dort gab es das Theater mit richtigen Schauspielern, die wir auch außerhalb ihrer Rollen kennenlernten und mit denen wir beim Bier übers Leben philosophierten, es gab den Schlossberg, von dem aus noch ein Stück Welt mehr sichtbar war, es gab die vielen winkligen Gassen mit den kleinen schiefen Häusern, die nach Geschichten rochen. Und es gab das Kopfsteinpflaster, in das wir unsere Träume traten und unsere Angst. Meine Quedlinburger Zeit war die des Abiturs.
Es gab ein kleines Vorspiel als Geigenschülerin. Die unglaublich hoch gelegene Türklinke des Hauses Grünhagen, in dem sich die Musikschule damals befand, schien ein Symbol zu sein für meine Vermessenheit mich an die Geige zu wagen. Ich beendete den Unterricht bei dem über meinen Anstrengungen bekümmerten Fräulein Schulze, nachdem ich zwei lebendige Geiger Bachs Doppelkonzert spielen gehört hatte. Sie kamen nicht aus Gernrode und auch nicht aus Quedlinburg und sie waren jünger als ich.
Ich war siebzehn, als ich mich täglich mit dem Zug Quedlinburg näherte. Im Abteil zwischen den Karten spielenden Arbeitern hatte ich die beiden Mitschüler im Blick, die den Lateinkurs besuchten, was sie auch nicht verbargen, sie warfen sich lateinische Brocken zu. Neben mir, über ihre Hausaufgaben gebeugt, versuchte die Freundin, pragmatischer als ich, sich   die beiden Lateiner nackt vorzustellen.
Quedlinburg war die Zwischenstation ins Leben. Die Startrampe. In den zwei Jahren des Abiturs übten wir schon mal. Während wir im kleinen Park am Bahnhof noch eine Zigarette vor der Schule rauchten und von der Weltrevolution träumten, war eine Mitschülerin schon schwanger, ein Mitschüler hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten, wurden zwei Mitschüler von der Staatssicherheit abgeholt. Manchmal lag mittags eine schwere Stille in der Stadt und ich staunte, dass ich den Himmel noch über mir sah. Ein Schüler probte den Aufstand und lernte Volker Brauns Gedicht „Die Mauer“, wo es „scheißt drauf“ heißt. „Scheißt drauf“, sagte er im FDJ-Hemd in der Aula vor der versammelten Schülerschaft und dem Lehrerkollegium. Er verschwand nicht von der Schule und wurde auch nicht von der Staatssicherheit verhört. Ein Schüler verkaufte auf dem Schulhof kleine Plaste-Tütchen mit einem weißen Pulver drin und experimentelle Fotos, die er als Aufnahmen von Ufos ausgab. Auch er bekam seinen Studienplatz. Es gab Freistunden, die wir zigarettenrauchend im Tagescafé am Mathildenbrunnen verbrachten, wo wir die PPdKQ gründeten – wir hatten Udo Lindenberg im Ohr – die Panikpartei des Kreises Quedlinburg. Oder im Café Vogel, dort träumten wir von Kommunen, in denen wir leben würden, wir sagten uns tränenreich die Wahrheit über unser Äußeres und Inneres, wir träumten von einem Sinn, von der Liebe. Nachts träumten wir weiter und ich verpasste den letzten Zug nach Gernrode. Glücklich lief ich mit bloßen Füßen an den unsichtbaren Russen vorbei im frischen Nieselregen die acht Kilometer nach Gernrode. Nein, es musste die richtige Liebe sein: frei sein. Nie würden wir heiraten. Dazu wussten wir schon zuviel. Wir hatten Bücher gelesen. Max Frisch: Stiller. Noch vor den Prüfungen kaufte der erste von uns seine schwarzglänzenden Hochzeitsschuhe. Und wir hatten gedacht, wir üben noch. Wir träumen noch. Wer ist eigentlich auf die Idee gekommen, dem Wort Jugend das Wort Unschuld beizugesellen. Wir haben Glück gehabt, andere hatten es nicht. Träumen ist keine Entschuldigung. Im Gegenteil. Wir haben Glück, dass wir den Schlossberg weiter besteigen dürfen durch die Gassen mit den kleinen schiefen, nun restaurierten Häusern. Deren dürre Geschichten wir, irgendwo in Deutschland, nun selbst erlebt haben. Auch das Kopfsteinpflaster ist noch da, wir hatten es vergessen,  wie die Angst und die Träume.
 

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