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Autorenbuch Ulrike Schäfer Reparaturen – FIXPOETRY.com

Gewählter Autor: Ulrike Schäfer

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Reparaturen


Das Ereignis löste endlose Diskussionen aus, im Lehrerzimmer und in der ganzen Stadt: Ursachen, Prävention, haben die Lehrer versagt, die Eltern, die Gesellschaft, all das. Ich diskutierte mit, hier und da, eher lustlos, aus Pflichtgefühl. Auf meiner privaten, heimlichen Seite der Welt aber hatte die Zerstörung der Schulräume stattgefunden, damit Gruber, der Vater, etwas zu reparieren hatte und ich ihn kennenlernen, mich später an ihn erinnern konnte.
Das alles begann am Morgen nach der Zerstörung, einem Tag Ende Juni, und es begann mit Klaus Gruber, dem Sohn. Die Polizisten waren wieder fort, die Kollegen hatten nacheinander den Raum verlassen, telefonierten mit dem Landratsamt, änderten die Stundenpläne, machten die Durchsage für die Schüler. Ich stand noch immer im Klassenzimmer der 6c, ein aufgeweichtes Buch in der Hand, und betrachtete die Schlangenlinien in schwarzer Sprayfarbe, die von der Wand und den Fenstern bis quer über die Tafel liefen, und als ich den Linien weiter folgte bis zum Waschbecken, sah ich Klaus in der Tür stehen. In seiner rechten Hand hielt er einen Rhabarberstängel, der in Blüte stand und dessen blassgelbe Rispen weit über seinen Kopf bis fast an den Türrahmen ragten. Sein Blick irrte durch den Raum und spiegelte das Chaos, die umgeworfenen Stühle und Tische, die heruntergerissenen Vorhänge, den gewellten und an den Fugen aufstehenden Linoleumboden. Er stand da und schwieg, sein Blick noch besorgter als sonst.
"Klaus, hast du das Schild nicht gesehen? Bio fällt heute aus. Wir müssen hier erst einmal aufräumen."
Ich legte das Buch aufs Lehrerpult und begann die Böden des Regals einzusammeln. Nach einer Weile merkte ich, dass Klaus noch immer da war.
"Brauchen Sie Hilfe?", fragte er. In seinen Jeans, dem roten Spiderman-Pulli, mit der bunt gemusterten Büchertasche auf dem Rücken und dem riesigen Blütenstängel in der Hand wirkte er beruhigend heil und ganz.
"Später vielleicht", sagte ich, und er ging davon, der Blütenstängel wippte mit jedem Schritt.
Klaus, der Schweigsame. Im Lehrerzimmer hatte er bisher nur einmal Gesprächsstoff abgegeben, vor zehn Monaten, zu Beginn des Schuljahrs. Während der Sommerferien war seine Mutter gestorben. Einige hatten es in der Zeitung gelesen, von der Familie kam keine Benachrichtigung. Man vermutete Krebs, doch niemand wusste etwas Genaues.
Der Tag nach der Zerstörung war ein Tag nicht wie jeder andere. Einige Stunden fielen aus, wenige konnten in andere Räume verlegt werden, die Freistunden verbrachten wir in den verwüsteten Zimmern, um zu retten, was zu retten war, und auf den Fluren begegneten wir uns kopfschüttelnd und fragten einander: "Gibt es schon etwas Neues?". Erst am Abend kehrte Ruhe ein, ich war die letzte und musste absperren. Beim Gang durch das Schulhaus blieb ich im Zimmer der 6a hängen: Wie ein rätselhaftes Zeichen standen genau in der Mitte des Raumes ein Tisch und ein Stuhl, die vollständig unberührt geblieben waren. Ich setzte mich und lauschte eine Weile der Stille, und in diese Stille hinein hörte ich ihn rufen.
"Hallo?" Seine Schritte kamen näher, er klopfte an die offen stehende Tür, bevor er eintrat.
Es war seine Stimme, die mir als erstes an ihm auffiel. Er sprach sanft, behutsam, als wolle er beim Sprechen achtgeben, nicht zu fest aufzutreten, die Stille nicht zu verscheuchen mit einem zu lauten Wort.
"Entschuldigung, Gruber mein Name. Mein Sohn sagte, Sie könnten vielleicht Hilfe brauchen."
Gruber, der Vater. Ich konnte keine Ähnlichkeit feststellen. Klaus hatte ein rundes Gesicht, braune Haare und eine Haut, die im Sommer dunkel wurde. Der Vater war groß und fast dünn, das Gesicht schmal und blass. Aber dann sah ich doch etwas in seinen Augen aufschimmern, das ich schon kannte: braune Augen mit einem ruhigen und ein wenig besorgten Blick.
Ich wollte ihn schon abwimmeln und auf den Hausmeister verweisen, auf das Landratsamt, das in solchen Fällen zuständig war, da sagte er, und es klang wie eine Entschuldigung: "Ich repariere gern."
Ich sah ihn an, studierte lange sein Gesicht.
"Herr Gruber", antwortete ich schließlich, "dann sind Sie hier genau richtig." Er nickte lächelnd.
An diesem Abend, als ich nach Hause kam in meine leere Wohnung, machte ich kein Licht. Ich wollte die Dunkelheit nicht stören, ich trat ans Küchenfenster und sah ins Schwarz hinaus, auf dem sich langsam der noch schwärzere Streifen des Waldrands abhob, und lauschte dem Klang seiner Worte nach: Ich repariere gern.

Ich konnte die Schulleitung davon überzeugen, die Reparaturen in Eigenregie durchzuführen. Vom Landratsamt war ohnehin weniger als das Nötigste zu erwarten, auch die längst fällige Renovierung wurde seit Jahren schon hinausgeschoben. Es ging auf die Sommerferien zu, und so bildeten wir Gruppen von Schülern, die bei den Arbeiten halfen. Sie säuberten die Tafeln, strichen später die Wände. Einige Kollegen waren skeptisch, doch dann, als sie die Euphorie der Schüler bemerkten, lobten sie die gute Idee. Sie sprachen von dem pädagogischen Effekt: was man selbst geschaffen hatte, damit ging man sorgsamer um. All das. Ich aber, auf meiner privaten Seite der Welt, hatte einen Ort geschaffen, an dem Gruber, der Vater, etwas zu reparieren hatte.
Noch heute, wenn ich die Augen schließe und in meine dunkle Küche hineinlausche, kann ich das Geräusch des Spachtels wahrnehmen. Gruber, wie er mich zu sich hinüber winkte und auf ein Viereck am Boden deutete, aus dem er das Linoleum herausgeschnitten hatte. Eine Schicht aus Schwarzem, das wie Gummi aussah, das Schaben des Spachtels darauf und die Farbe und Struktur von Holz, das langsam darunter sichtbar wurde. Die Stimme Grubers neben mir: "Holzdielen". Ich sah ihn von der Seite an, und er, wie eine Antwort auf meinen Blick: "Das kriegen wir hin." Der Anblick von Gruber, wie er bei offenen Fenstern mit Brille und Mundschutz die Dielen abschliff, in einem dichten Nebel aus Holzstaub langsam, sehr langsam seine Bahnen zog.
Mein Nachdenken über Gruber, nachts in der dunklen Küche, wenn sich allmählich der schwarze Streifen des Waldrands abhob. Über die Familie Gruber, die jetzt, als ich Vater und Sohn kannte, so unvollständig, amputiert wirkte.
Der Samstagmorgen, an dem Gruber, der Vater, schon auf den Stufen vor dem Schulhaus saß, als ich mit den Schlüsseln kam, eine halbe Stunde vor der vereinbarten Zeit, und wie unendlich verlassen das aussah, Gruber auf den Stufen hockend, die Ellbogen auf die Schenkel gestützt, die Hände gefaltet, der Blick geradeaus, reglos. Seine Erklärung, die abermals klang wie eine Entschuldigung: "Ich habe Klaus schon um sechs zu seinem Onkel gebracht, sie gehen zusammen angeln. Dann hat es sich nicht mehr gelohnt nach Hause zu fahren."
Wieder hallten seine Worte nach: nicht mehr gelohnt, und wie er das Wort "gelohnt" aussprach. Ich fragte mich unwillkürlich, ob das schon immer so war oder ob es eine Zeit gegeben hatte, in der es sich gelohnt hätte, nach Hause zu fahren. Nach Hause.
"Ihr Sohn ist sehr naturverbunden, das habe ich schon gemerkt."
Er nickte und sagte: "Ja, das hat er von seiner Mutter", und für einen Moment kam es mir so vor, als erschrecke er über seine Worte. Als seien sie ihm unbedacht herausgerutscht und könnten Schaden anrichten.
Frag nicht, dachte ich. "Angelt Ihre Frau auch gern?"
Er schwieg, und ich biss mir auf die Lippen.
Dann sagte er: "Sie kannte alle Süßwasserfische, aber geangelt hat sie nicht. Sie war mehr fürs Beobachten."
Ich schloss die Tür auf und sah ihn verstohlen von der Seite an, als er vor mir ins Schulhaus ging, und für einen Augenblick beneidete ich ihn um die Größe seiner Trauer.

Dies ist eine kleine Stadt, etwas vergleichbar Spektakuläres wie die Zerstörung der Schulzimmer hat hier seit Jahren nicht stattgefunden, und noch heute, fünf Monate später, flackert die Erinnerung daran immer wieder auf in der lokalen Presse, in den Gasthäusern, auf den Straßen. Gewalt an der Schule ist ein dankbares Thema geworden, überregionale Ereignisse werden im Spiegel dieses lokalen Rätsels berichtet. Das Geschehen war umso beunruhigender, als die Täter nie gefasst wurden. Es schien, als seien Wesen aus fremden Galaxien in unsere kleine Welt eingedrungen, hätten verwüstet, woran ihnen nicht lag, und seien wieder verschwunden.
Auf meiner privaten, heimlichen Seite der Welt aber, in der ich mir das Leben vorstellte wie einen Film, wie eine Geschichte, in der die Dinge nicht einfach geschahen, sondern auf wundersame Weise eingefädelt wurden, auf dieser Seite der Welt waren die Täter nicht wichtig. Wichtig war nur, was eingefädelt worden war. Die Frau, die nicht mehr lebte, war das Rätsel, das blieb. Das Geheimnis, die unbeantwortete Frage, die sich abhob wie der Wald vor dem Fenster meiner dunklen Küche, Schwarz auf Schwarz, wenn es Nacht wurde.
Schließlich, gegen Ende der Reparaturarbeiten, der Sonntagabend, Gruber und ich an einem Tisch im Zimmer der 6a sitzend, das reparierte Regal vor den frisch gestrichenen Wänden, die noch nach Farbe rochen. Ich hatte Gruber zu einem Bier überreden können.
Wir sprachen von den wenigen noch verbleibenden Arbeiten und wann die Klassenzimmer wieder benutzt werden konnten. Wie gut es gewesen war, die Reparaturen in Eigenregie anzugehen, nachdem das Landratsamt gerade einmal den Boden in einem einzigen Raum hatte ersetzen lassen, nicht die zerstörten Regale, zu schweigen von den verschmierten Wänden, und wie ich es bewunderte, dass er, Gruber, sich mit fast allen notwendigen Reparaturarbeiten auskannte. Er erzählte von dem Hof, den sie gekauft hatten, "wir", sagte er, "wir haben den Hof gekauft", und dass alles fast vollständig hatte umgebaut werden müssen, Wände einreißen und neu hochziehen, das Dach abdecken und neu decken, das Dach der Scheune, die Böden abschleifen, Decken einziehen. Er sprach von den Arbeiten, die er noch im letzten Jahr in Angriff genommen hatte, und in diesem Zusammenhang erwähnte er ein einziges Mal seine Frau, wenn auch nur in einem Halbsatz, "im Sommer, als meine Frau noch lebte", habe er das und das noch am Haus repariert, eine Zeitangabe, leise und hastig gesprochen wie in großer Eile.
Er hatte nicht viel getrunken, aber als er an diesem Abend ging, schwankte er leicht auf den Stufen vor der Schule, nicht sehr, doch genug für die Gewissheit, dass er nicht gewohnt war zu trinken. Ich sah ihm lange nach. Ich versuchte mir vorzustellen, wie ich neben ihm ginge, seinen Arm hielte, doch es gelang mir nicht. Ich fragte mich, wie seine Frau wohl ausgesehen haben mochte. Ich dachte an Klaus und versuchte seinem Bild weibliche Züge zu geben. Ich stellte sie mir vor, diese Frau, braunhaarig, dunkelhäutig, an einem See, schräg hinter ihr stehend Gruber, der Vater und Ehemann, neben ihr Klaus, ein Kind, das noch eine Mutter hatte. Ich dachte sie mir in blauem Kleid, ins Wasser deutend, gebeugt und die Wange an Klaus' Wange gedrückt, "schau, ein Goldbarsch." Ich folgte ihrem ausgestreckten Arm, dem Deuten ihres Zeigefingers, sah noch die rot gezackte Rückenflosse im Wasser aufschimmern, bis der Fisch eine schnelle Kehrtwendung machte und, von einem Moment auf den anderen, im dunklen Grün ver
 

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