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Autorenbuch Ulrike Schäfer Die Art, wie meine Mutter liebte – FIXPOETRY.com

Gewählter Autor: Ulrike Schäfer

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Die Art, wie meine Mutter liebte


Mein Vater hat das Herz meiner Mutter mit einem verlorenen Fußballspiel gewonnen. Eigentlich hätte er überhaupt nicht spielen dürfen, weil er nicht zur Oberliga gehörte.
"Das ist jetzt ein besonderes Spiel", hat der Schorsch zu meinem Vater gesagt, "das ist nur für die Oberliga". Was stark übertrieben war, denn es gab keine Oberliga, es gab den Schorsch und den Erwin und den Franzl und wer sich sonst noch nachmittags oder abends auf dem Sportplatz rumtrieb. Und "besonders" an dem Spiel war, dass es gegen eine Handvoll Erlbacher ging, das hatte der Schorsch so eingefädelt, "Freundschaftsspiel, denen zeigen wir’s". Sogar den Mädels hatte er Bescheid gegeben, "wegen Publikum".
Dass mein Vater dann doch seine Chance bekam, lag am verstauchten Knöchel vom Erwin, und mein Vater hat innerlich gejubelt, wie der Schorsch aus seinem Tor raustrat und ihn herbeiwinkte, als Ersatzmann für den Erwin, den besten Verteidiger weit und breit. Mit dem Jubeln hatte es dann aber ein Ende, in der vierundachtzigsten Spielminute, und am nächsten Morgen blieb mein Vater im Bett liegen und wollte nie wieder aufstehen. Er wusste an diesem Tag noch nicht, dass er das Herz meiner Mutter gewonnen hatte. Er grub den Kopf unters Kissen, bis er kaum noch Luft bekam, so angefüllt war er mit Scham und Schuld und verpasster Chance. Dabei hatte es sich angefühlt wie ein Triumph, wie der Moment, in dem alles, aber auch alles stimmte.

Das Problem mit den Erlbachern war: Sie waren haushoch überlegen. Ein Tor war noch nicht gefallen, aber das lag allein am Glück und am Erwin, der verteidigt hatte wie ein Berserker. Und selbst der Erwin hatte seine Not gehabt mit dem Erlbacher Mittelstürmer, gegen den mein Vater jetzt antreten musste. Der Stürmer war einen halben Kopf größer und zweimal so stark, und ausgerechnet gegen den hatte mein Vater das Kopfballduell zu bestehen, direkt vor dem Tor der Heimmannschaft. Die Flanke kam von links außen, und sie kam hoch, eine Traumvorlage für den Erlbacher Stürmer. Mein Vater rannte, und der Stürmer rannte, und etwas in meinem Vater ist aufgeplatzt wie eine Kastanienschale, er rannte wie nie zuvor, er erreichte den Ball tatsächlich als erster, so schnell war er.
Nur dass er zu schnell war.
Mein Vater erwischte den Ball nicht mit der Stirn, sondern ein Stück rechts darüber, und wer einmal Fußball gespielt hat, weiß, wie fatal ein falsch getroffener Kopfball sein kann. Der Ball flog in sauberem Bogen über den Schorsch hinweg in die rechte Tor-Ecke.
Mein Vater hat es nicht fassen können. "Schönen Dank", hat der Erlbacher Stürmer gesagt und blöde gelacht. Der Franzl kam gelaufen und wischte meinem Vater übern Kopf. Der Erwin rief von draußen: "Den hast nehmen müssen!", und sogar der Schorsch hat ein "Das hätt jedem passieren können" rausgepresst. Aber mein Vater stand da und konnte es nicht fassen.
Am übernächsten Tag in der Schule hat die Christine ihn mit komischen Augen angesehen und ihm in der Pause einen Lutscher geschenkt. Krankenschwesternaugen, hat mein Vater nur gedacht, überhaupt haben einige der Mädels, die am Samstag beim Spiel waren, das Mitgefühl pfundweise in den Augen gehabt. Nur meine Mutter hatte nichts dergleichen im Blick.

Den Zusammenhang mit meiner Mutter und was in diesem Moment mit ihrem Herzen passiert war, hat mein Vater erst Jahre später begriffen, nach der Geburtstagsfeier vom Erwin. Der Erwin war um einiges älter und wurde als erster volljährig, und weil der Erwin der Sohn vom Gasthaus Negl war, fand die Feier im Negl statt. Es wurde getanzt, und mein Vater hätte auch gern getanzt, aber er traute sich nicht. Und dann war Damenwahl.
Meine Mutter war damals schon eine dünne, hoch gewachsene Person, nicht schön, aber mit einer Geradheit und Stärke im Blick, der sich kaum einer entziehen konnte. Mit diesem Blick hat sie meinem Vater in die Augen geschaut, sehr gerade und beinahe streng. Sie stand vor ihm und hat kein Wort gesagt. Die Musik hat angefangen zu spielen, meine Mutter hat meinem Vater die Hand hingestreckt, und dann haben sie getanzt, mit einem Viertelmeter Luft zwischen seiner Brust und ihrer Brust. Aber dennoch hat mein Vater den Geruch meiner Mutter wahrnehmen können, den Seifengeruch ihres Haars und den eigenartig würzigen Geruch ihres Nackens, und das Herz meines Vaters schlug schneller, er konnte nicht sagen warum. Etwas ist in diesem Moment mit seinem Herzen passiert, und in seinem Kopf bildete sich eine Frage.
Die Frage ist mein Vater erst zwei Wochen später unterm Kastanienbaum losgeworden, drei Jahre nach dem Kopfball und ein paar Sekunden nach dem ersten Kuss. Erst dann hat mein Vater gefragt, verwirrt und seinem Glück nicht trauend: "Warum ich?"
Meine Mutter hat zunächst gar nichts gesagt, sondern meinen Vater nur mit ihrem Blick fixiert, dann zuckte sie die Achseln, und mein Vater hielt das erst für Gleichgültigkeit, aber da kannte er meine Mutter schlecht. Als er schon keine Antwort mehr erwartete und vor Verwirrung und unverstandenem Glück ganz rot im Gesicht wurde, sagte meine Mutter: "Die Art, wie du verloren hast."
Erst da ist meinem Vater der Kopfball wieder eingefallen, und eine Sekunde lang dachte er "Krankenschwester", aber dazu passte der Satz nicht, den meine Mutter gesagt hatte, und der Blick passte noch viel weniger, gerade und ernst und beinahe streng.

Das war unterm Kastanienbaum vor vierundfünfzig Jahren. Den Sportplatz gibt es immer noch, ich stehe am Spielfeldrand und denke an meinen Vater, und ich denke an meine Mutter, die hier, genau an dieser Stelle, gestanden hat und meinen Vater erkannte: an der Art, wie er verloren hat. Ein Junge, schmächtig und mit eingefallener Brust, außer Atem und mit Augen angefüllt von Zweifel. Die hohe Flanke und wie die Augen des Jungen sich weiten, wie ein Ruck durch seinen Körper geht, dass es ihn bald von den Füßen reißt und er zu rennen beginnt, dem Ball entgegen, wie sich alles in diesem Moment in seinem Gesicht zusammenfügt, die Angst und der Zweifel und der Mut und die Zuversicht, wie er rennt, den Blick auf den Ball gerichtet, und springt.
 

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