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Autorenbuch Ulrike Schäfer Ekingg – FIXPOETRY.com

Gewählter Autor: Ulrike Schäfer

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Ekingg


Ich bin zu früh dran.
"Paul!", ruft sie und winkt mir zu, "noch fünf Minuten!"
Ich nicke, und sie dreht sich wieder zum Aufzugschacht und unterhält sich mit einem Bauarbeiter. Der Bauarbeiter macht viele Pausen zwischen den Worten. Ich kann ihn aus dieser Entfernung nicht hören, aber ich sehe, dass seine Lippen sich nur selten öffnen. Vielleicht ist es Köpcke, von dem sie mir erzählt hat: der Schweigsame, Zuverlässige, mit dem sie gern zusammenarbeitet.
Jetzt spricht Lina. Ihr muss ich nicht von den Lippen lesen. Manche Menschen ändern sich bis zur Unkenntlichkeit, wenn sie erwachsen werden. Meine Schwester nicht. Sie ist jetzt Architektin, aber das war sie eigentlich schon immer. Und schon als Kind hat sie so geredet, mit Händen und Füßen und leuchtenden Augen.
Und doch ist da etwas Fremdes. Nein, etwas Altvertrautes, aber fremd an Lina. Etwas, das zu jemand anderem gehört hat. Etwas, das für immer begraben ist.
Dachte ich.

Manche Menschen sind auf dem Land aufgewachsen, andere in der Stadt, in einer großen oder kleinen, alten oder neuen Wohnung oder in einem Haus, in den Sechzigern, Siebzigern oder Achtzigern. Man könnte sagen, Lina und ich wuchsen in einer Altbauwohnung in München Schwabing auf. Aber das trifft es nicht einmal annähernd. Wir wohnten in Hütten aus Mammutknochen in Russland vor vierzigtausend Jahren und wanderten Zwölftausend vor Christus von Sibirien nach Amerika. Man könnte sagen, unser Vater war Professor für Vor- und Frühgeschichte, aber auch das trifft es nicht einmal annähernd. Unser Vater war ein Reisender, ein Spurenleser. Er konnte Bruchstücke von Vergessenem zu Erinnerungen zusammenfügen, und er hat uns die Welt in Geschichten erzählt.
"Schaut mal, was ich da habe!" Wir liefen in sein Arbeitszimmer, vorbei an den aufgestapelten Büchern, den Zeitschriften, dem runden Tischchen mit dem historischen Globus darauf, die Weltmeere ockerfarben, nicht blau. Vater stand am Schreibtisch vornüber gebeugt. Er entfaltete ein großes Blatt und breitete es auf dem Tisch aus. Geometrische Formen, Undeutliches. Ich verstand nicht, was das war. Aber dann deutete er: "Hier haben sie die Vorräte gelagert. Hier haben sie geschlafen." Linas Augen leuchteten, als sie sich über den Grabungsplan beugte.
"Erzähl uns, was sie gebaut haben!".
Und er erzählte: von einem kleinen Jungen Paul, der Schafe und Ziegen hütete. Von seiner großen Schwester Lina, die ein Haus baute aus Schilfrohr und Lehm.
Manchmal ähnelten sich seine Geschichten, obwohl sie zu unterschiedlichen Zeiten spielten.
"Ja, ja", sagte er, als ich ihn danach fragte, mit einer Stimme so fern, als hätte er soeben das Jahrtausend und ein paar Weltmeere durchquert. "Alles kehrt wieder, aber die Dinge wiederholen sich nicht."
Wir verstanden nicht, was er meinte. Aber seine Augen leuchteten wie die von Lina, und er sagte es immer wieder. Es musste eine geheime Wahrheit darin stecken.

Wann ist der Plan durcheinander geraten? Man könnte sagen, es begann, als seine Stimme brüchig wurde. Doch heute weiß ich, es begann vorher, in der Frühgeschichte meiner Kindheit, aus der ich keine Geschichten mitgenommen habe, nur Bruchstücke. Es begann mit einem Bild, in dem Vater neben Mutter steht, vielleicht an einem Geburtstag, denn Mutter ist schön und bunt gekleidet, und da ist Musik. Jetzt sagt sie etwas zu ihm, ihre dunkle Stimme summt in meinem Ohr, und Vaters Oberkörper neigt sich ein wenig nach vorne, sein Kopf wendet sich zur Seite, sein Blick wandert suchend nach oben an Mutters Kopf vorbei, als wolle er ihre Worte von der Decke ablesen. Sein linkes Ohr ist jetzt ganz nah vor ihrem Mund. Es ist das erste Mal, dass ich ihn so stehen sehe, mit nach vorn gebeugtem Oberkörper, den Kopf seitlich nach oben geneigt. Ein Mensch wie ein Fragezeichen.

"Was sagst du, Schatz?"
Wir gewöhnten uns an die Frage, sie begann zu ihm zu gehören wie die Geschichten und Grabungspläne. Ich wiederholte laut, was ich gesagt hatte, in sein linkes Ohr hinein. Lina musste selten wiederholen, denn ihre Stimme war schon immer voller Energie und Kraft, und sie sprach mit Händen und Füßen und leuchtenden Augen.
"Warum bist du wieder ein Baby?", fragte sie streng.
Ich war sieben und machte nachts wieder ins Bett. Ich ahnte nicht, was kommen würde und dass das erst der Anfang war, Teil eines Plans, den wir nicht lesen konnten. Aber etwas lag in der Luft und drückte mir auf die Schultern.
Vater war immer öfter zu Hause. Er lag jetzt meist auf dem Sofa, wenn er uns Geschichten erzählte. Seine weiße Haut war noch weißer als sonst, und seine Stimme war hell und brüchig. Er sah nach oben, als würde er die Geschichten von der Decke ablesen. Als wäre dort ein Grabungsplan eingraviert, den er mit den Augen abtastete. Dann, eines Morgens, wurden die Konturen deutlicher.
"Wo ist Papa?", fragte Lina.
"Im Krankenhaus", sagte Mutter. "Setzt euch mal hin."
Es gebe da etwas, eine Krankheit. Die mache die Ohren schwach. Und die Nieren.
"Die Nieren?", wiederholte Lina und runzelte die Stirn.
"Ja", antwortete Mutter. Sie sagte, dass Vaters Nieren nicht mehr richtig arbeiteten. Ich verstand nicht alles. Aber ich spürte, dass der Plan sich schon wieder änderte.
Abends lagen wir in Linas Bett. Die Straßenlaterne warf Lichtstreifen an die Decke, und wenn ein Auto vorbeifuhr, wanderten die Streifen vom Fenster zur Tür.
"Was ist das noch mal für eine Maschine?", fragte ich.
"Die macht Papas Blut wieder frisch", sagte Lina.
"Dreimal in der Woche", sagte ich, "das ist viel. Kann er am Wochenende Pause machen?"
"Ich glaub schon", sagte sie.
Ich wusste nicht, ob ich fragen sollte. Dann tat ich es doch.
"Und für wie lange?"
"Für immer", sagte Lina und runzelte die Stirn.
Aber ich sah den Zweifel in ihrem Gesicht, also glaubte ich es auch nicht.

Lina hatte keinen Sinn für schlechte Pläne. Sie war schon dabei, ihren eigenen Plan zu entwerfen, einen Lina-Löwenherz-Gegenplan. Vater durfte nicht viel trinken, also musste man mit dem Salz aufpassen. Lina wünschte sich ein Gewürzlexikon zu Weihnachten und brütete über Mutters Kochbüchern. Lina Pfannkuchen-Königin: Sie probierte jedes Wochenende ein neues Rezept. Mit elf Jahren konnte sie mehr Gerichte kochen als Mutter. Das war gut so, denn Mutter arbeitete jetzt und fuhr Vater in die Klinik und holte ihn wieder ab, jeden zweiten Tag. Montag-Mittwoch-Freitag, Samstag-Sonntag frei. So war der neue Plan. Aber der Plan änderte sich immer schneller.
Es ging besser und schlechter und noch schlechter und etwas besser und wieder schlechter. Wir trieben auf einem Floß im Ozean und lernten neue Wörter, Anämie, Kreatinin und Transfusion. Es gab Unglück, das wiederkehrte und solches, das neu dazukam. Ich dachte an Vaters Lieblingssatz: Alles kehrt wieder, aber die Dinge wiederholen sich nicht. Ich verstand allmählich die Bedeutung. Selbst Unglück, das wiederkehrte, wiederholte sich nicht. Immer gab es neue Nuancen, manchmal war es weniger schlimm als das vorige Mal, meistens schlimmer. Für Lina und mich wurde der Satz trotzdem zu einer Zauberformel für Wünsche, für Geschichten, die gut endeten. Lina schrieb ihn auf und las ihn vor: "Alles kehrt wieder, aber die Dinge wiederholen sich nicht."
Ich setzte die Anfangsbuchstaben der Wörter zusammen und las: "AKWADD-WSN".
"Akwadd reicht", sagte Lina, und ich nickte.
Abends, wenn wir in Linas Bett lagen und ich die Augen nicht zubekam, sprach sie die Zauberformel.
"Akwadd", flüsterte sie, bis ich einschlief.

Jemand aus der Klinik rief an, sie hatten eine Niere für Vater, und er wurde operiert. Man könnte sagen, es gab Komplikationen. Aber das trifft es nicht einmal annähernd. Lina und ich durften nicht zu ihm. Seine Stimme war hell und brüchig am Telefon, aber er sagte: "Ich bin voller Zuversicht!", und ich wusste, dass seine Augen dabei leuchteten wie die von Lina, wenn sie sich über die Grabungspläne beugte. Mutter sagte: "Es kann immer noch gut gehen." Da wussten wir, wie schlimm es stand.
In dieser Nacht waren wir allein zu Haus. Mutter war in der Klinik, Vater wurde noch einmal operiert. Lina war jetzt 15, ich 12. Wir konnten nicht mehr in ihrem Bett schlafen, seit Lina Brüste hatte und Pickel im Gesicht und alles so durcheinander war. Aber wir ließen die Tür zwischen unseren Zimmern offen.
"Akwadd", sagte ich in die Dunkelheit.
"Ekingg", antwortete Lina, und ich brauchte nicht lange, bis ich begriff: Es-kann-immer-noch-gut-gehen.
"Ekingg", wiederholte ich wie ein Echo.
"Akwadd", antwortete Lina.
Jetzt hatten wir zwei Zauberformeln.

Sie halfen nicht. Sie halfen doch, aber auf andere, verborgene Weise. Wenige Tage später standen wir auf dem Friedhof und warfen Blumen in ein Grab, und ich verstand nicht, was das mit Vater zu tun haben sollte. Hügelgrab, dachte ich voller Trotz, es sollte ein Hügelgrab sein, und der Stein in meiner Brust begann zu wachsen. Lina drückte meine Hand so fest, dass es weh tat.
"Voller Zuversicht", sagte sie laut, und ihre Stimme zitterte nur wenig.
"Ekingg", antwortete ich. Ich versuchte mir Vater vorzustellen, nur wenige Jahrtausende und ein Weltmeer entfernt. Der Stein in meiner Brust hörte nicht auf zu wachsen, aber vielleicht war es so, dachte ich, dass Geschichten traurig ausgehen und doch gut enden konnten.

Und jetzt steht sie da, Lina, große Schwester, Baumeisterin meiner Kindheit. Sie ist Architektin und steht auf einer Baustelle in Berlin Schöneberg. Am Freitag bin ich angekommen, zu Besuch für drei Tage. Blass ist sie geworden, aber ihre Augen leuchteten, als sie mir ihre Baupläne zeigte. Gleich wird sie mich zum Bahnhof bringen, und ich fahre zurück nach München, in die Stadt unserer Kindheit, die ich nie verlassen habe. Ich bin zu früh dran, sie ist noch nicht fertig, sie redet mit Händen und Füßen wie früher, aber etwas ist anders, etwas, das die ganzen drei Tage schon da war, verschüttet, undeutlich, so dass ich die Spuren nicht lesen konnte. Etwas Altvertrautes, aber fremd an Lina. Etwas, das begraben sein sollte, das nicht hätte wiederkehren dürfen. Köpcke spricht jetzt, und da beugt sie sich vor zu ihm, neigt den Kopf seitlich nach oben, ihr linkes Ohr nahe an seinem Mund. Ihr Blick wandert hinauf, als wolle sie seine Worte vom Himmel ablesen.
Ein Mensch wie ein Fragezeichen.
Ich muss mich umdrehen und Luft holen, damit mich das Bild nicht erdrückt.
"Tut mir leid, Paul!", ruft sie atemlos. "Jetzt aber. Sechzehn Zweiunddreißig, oder? Schaffen wir locker."
Ich weiß nicht, denke ich, und ich bringe den ganzen Weg zum Bahnhof kaum ein Wort heraus.
"Also dann", sagt sie, als wir am Bahnsteig stehen.
"Das mit den Ohren", sage ich endlich. Lina sieht mich fragend an, dann runzelt sie die Stirn.
"Du siehst Gespenster", sagt sie laut und trotzig, und ich weiß, es hat keinen Zweck. Lina hat keinen Sinn für schlechte Pläne. Sie umarmt mich, aber ich kann den Trotz immer noch spüren.
"Lina", sage ich.
"Geh schon", sagt sie. "Sonst fährt er ohne dich."
Ich steige ein und werfe das Gepäck auf den erstbesten Platz. Ich sehe aus dem Fenster, sie steht immer noch am Bahnsteig. Ich will ihr noch etwas sagen, aber ich weiß nicht wie. Der Pfiff ertönt, gleich wird der Zug losfahren. Da male ich mit dem Zeigefinger auf die Scheibe. Ein Zeichen für Lina. Ein E in Spiegelschrift.
Der Zug rollt an, ich sehe noch, wie sie die Lippen zusammenpresst und die Stirn runzelt. Ich entferne mich von ihr, aber da, als ich sie fast schon aus den Augen verloren habe, hebt sie die Hände vor den Oberkörper wie zum Gebet. Jetzt bilden ihre Arme ein Dach, und ich weiß, was das ist: Lina gibt mir ein A.
Lina Löwenherz, Baumeisterin meiner Kindheit, Architektin und Schirmherrin aller Umbauten, aller wieder und wieder geänderten Pläne. Ich lasse sie in Berlin zurück mit etwas, das nicht hätte wiederkehren dürfen. Aber die Dinge wiederholen sich nicht, und es gilt zwischen uns: Akwadd. Ekingg.

 

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