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Autorenbuch Ulrike Schäfer Tanzen – FIXPOETRY.com

Gewählter Autor: Ulrike Schäfer

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Tanzen


Ich hasste Roland dafür. Die finnische Hütte war unser Zufluchtsort, und in diesem Juni hatten wir Zuflucht nötiger denn je. Zwei Wochen allein in den Wäldern: Es würde sein wie ein einziger, langer Tag, denn die Sonne duckt sich um diese Jahreszeit nur kurz hinter die Wipfel auf der anderen Seite des Sees, lichten Dämmer hinterlassend, dann erhebt sie sich wieder. Ein ewiger Tag nur für uns, ein Tag, der zurückbringen sollte, was uns im Alltag abhanden gekommen war. So dachte ich.
Rolands Erklärungen – spontan, beim Bier, Bernd habe "Norwegen" gesagt, die große Tour, zurück über Finnland, daraufhin er: Mensch, Finnland, Zufall, komm doch vorbei auf ein paar Tage - diese Erklärungen machten mich noch wütender. Wir stritten heftig und uferlos, ich lag dann lange wach und schürte meine Wut. Malte mir aus, wie Bernd in unsere finnische Zweisamkeit einbrechen, die Tage vor seiner Ankunft abgezählt sein würden, die Tage danach. Die Saunagänge zu dritt: Roland kannte meine Prüderie, hätte sie kennen müssen, doch wahrscheinlich, ganz sicher, hatte er sich nicht den kleinsten Gedanken darum gemacht, und wenn ich ihn darauf anspräche, erfände er irgendeine fadenscheinige Lösung: Bernd könne unterdessen angeln, wir müssten nicht gemeinsam in die Sauna gehen. Dergleichen. Für Roland war nichts ein Problem, er verstand nicht, dass ich weder mich selbst zur Schau stellen wollte noch meine Prüderie. Roland ist in diesen Dingen so, er nennt es unkompliziert, ich nenne es gedankenlos, ignorant, rücksichtslos. Es ist Quell der meisten Streitereien zwischen uns und der heftigsten, weil wir uns dann so fremd sind, wie zwei Menschen einander nur sein können.
Es waren dann doch schöne Tage, die Tage vor Bernds Ankunft. Draußen an der Feuerstelle saßen Roland und ich beinahe eng beieinander, und unser Schweigen erwärmte sich langsam. Einmal legte Roland die Hand auf mein Knie, behutsam, wir waren Berührungen nicht mehr gewohnt, so weit hatten wir uns voneinander entfernt. So weit. Ich schob meine Hand in seine, und wir beobachteten einen Schwan, der unter Wehklagen über die Wipfel flog und an der Westseite des Sees landete. Traurig war das und schön. Nachts, in unserer Schlafkoje hinter der Küche, glaubte ich Rolands Kuss auf meiner Haut zu spüren. Langsam und tastend kehrte die Nähe zurück.
Vielleicht, weil die Tage nicht abgezählt waren, weil Roland alles falsch verstanden oder nicht richtig hingehört, geradezu Entwarnung gegeben hatte: Bernd komme die letzten drei Tage. Dabei hatte Bernd gesagt (ich kann es nur vermuten), sie kämen für drei Tage oder ihre letzten drei Tage, und: sie, nicht er. Auch das hatte Roland überhört, dieses kleine, alles verändernde Detail.
Ich lief meine üblichen Runden, viermal den Schotterweg von der Hütte zur Kehre, wo der Weg sich verbreitert, und wieder zurück. Weiter traute ich mich nicht in den finnischen Wald. In der Hütte lagen Prospekte mit Abbildungen von Bären und Wölfen aus, und wenn ich mich zu weit entfernte, schimmerte das Weiß der Birken gespenstisch vor der dunklen Tiefe, näherten sich die Schatten, erwachten die bemoosten Felsbrocken zu Leben, verschmolzen meine Schritte mit dem Geräusch sich anpirschender Tatzen. So machte ich an der Kehre halt, dehnte und streckte mich und lief dann wieder zurück. Als ich an diesem Nachmittag die dritte Runde lief, hörte ich ein Rauschen wie von einer Brise, dann schwoll das an zu Motorsummen. An der Biegung erschien ein blauer Wagen.
Ich erwartete, der Fahrer würde kehrtmachen, denn der Weg führte nur zu unserer Hütte. Doch er fuhr weiter, und als er näherkam, erkannte ich Bernd am Steuer. Neben ihm saß eine Frau. Sie hatte kurzes blondes Haar und ein scharf geschnittenes Gesicht, jedoch mit weichen Zügen. Ich war so fassungslos, dass ich nur dastand mit hängenden Armen, schwitzend und schnaufend, und durch die Windschutzscheibe in den Wagen starrte.
Bernd sprang heraus und umarmte mich, das nass geschwitzte T-Shirt gegen meinen Rücken pressend. Die Frau blieb sitzen, nickte mir lächelnd zu. Da seien sie aber froh, rief Bernd, Rolands Wegbeschreibung sei etwas konfus gewesen, und als ich immer noch schwieg: Einfach geradeaus? Ich nickte. Ob ich einsteigen wolle? Ich schüttelte den Kopf und lief los, Tränen der Wut in den Augen. Die letzten drei Tage, hatte Roland gesagt. Die letzten drei Tage. Ich vergaß meine Furcht vor der finnischen Wildnis und lief bis weit über die Kehre hinaus.
Die Männer standen am Ufer und diskutierten, als ich zurückkehrte, jeder mit einer Dose Bier in der Hand. Aus dem Schlot des Saunahäuschens stieg senkrecht der Rauch. Die fremde Frau stand auf unserem Steg und blickte über den See.
Roland lief mir entgegen, Bier schwappte über und rann seine Hand hinunter. Es fehlt noch Brot, rief er atemlos, wir machen es so: Bernd und ich fahren einkaufen, du und Katja, ihr geht inzwischen in die Sauna. Erwartungsvoll sah er mich an. In seinem Blick lag diese wilde, kindliche Euphorie, für die ich ihn liebe und für die ich ihn manchmal hasse.
Ich will das nicht, sagte ich so knapp, wie es irgend ging. Roland öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Ich schwieg. Mein Schweigen füllte den Raum zwischen uns, dieses kleine Stück Universum von einem Menschen zum andern. Es erzeugte eine Enge wie kurz vorm Zerspringen. Dass Katja zu uns getreten war, bemerkten wir erst, als sie zu sprechen begann.
Bernd und ich, sagte sie. Beinahe gleichzeitig wandten wir die Köpfe zu ihr. Keine Diskussion, sagte sie leichthin, Bernd und ich kaufen ein. Sie ging zu Bernd hinüber, nahm ihn an der Hand, lachend jetzt, zog ihn hinter sich her zum Auto, und sie fuhren.
In der Sauna schwitzten Roland und ich unter der Glut des Holzfeuers und dem anhaltenden Schweigen. Ich kämpfte mit einer Scham, die mich noch verletzlicher, wütender machte: durchschaut von einer fremden Frau, bloßgestellt von ihrer Rücksichtnahme. Das Thermometer stieg gegen neunzig Grad.
Seit wann sind sie überhaupt zusammen: Irgendwann durchschnitt ich die Hitze mit dieser Frage, die keine war, vielmehr ein Vorwurf, mehr gepresst als gesprochen.
Sie sind nicht zusammen, antwortete Roland. Katja ist seine Schwester.
Der Satz schlug ein und traf etwas Empfindliches. Er beschwor das Bild dieser Frau herauf: Katja, auf unserem Steg, die Gliedmaßen schlank und kräftig, das scharf geschnittene Profil, das leise Lächeln um ihren Mund. Eine Frau unterwegs mit ihrem Bruder: Eine Frau, die frei war. Die unkompliziert, unbeschwert, die alles war, was ich nicht war – und frei. Es gab keinen Anlass zu Eifersucht. Sie keimte in der Hitze der Sauna, wuchs, trieb Blüten, noch bevor es irgendeinen Anlass gab.
Eine Frau, die erzählen konnte, beim Grillen am offenen Feuer. Deren Grübchen beim Lachen sich vertieften. Katja war Tänzerin. Ich hatte über die Tanzwerkstatt schon gelesen, in der sie arbeitete. Tatsächlich hatte ich mehrmals erwogen, an einem der Kurse teilzunehmen, hatte mich jedoch nie getraut. Ich stellte mir das Tanzen dort wie Ballett vor, zu dem mein schwerer Körper nicht passte. Eine Tänzerin, dachte ich, und mein Mund schloss sich noch fester.
Eine Frau, die schweigen konnte, in die Stille der lichten finnischen Nacht hinein. Von der Wärme des Feuers leuchtete ihr Gesicht. Verstohlen sah ich zu Roland hinüber und forschte in seinen Blicken nach Spuren. Er sah Katja nicht länger an als Bernd oder mich. Sah er sie anders an? Die Öffnung des Mundes anders, der Kopf geneigter, ihr zugewandter? Mein eigenes Gesicht verkrampfte sich vor Anstrengung. Dann hörte ich es.
Es kam von Süden, von dort, wo am vorigen Abend der Schwan über den Wipfeln erschienen war. Unwillkürlich suchte ich ihn. Er verharrte still am gegenüberliegenden Ufer, schien zu lauschen wie ich, seinen langen Hals in die Richtung geneigt, aus der die Töne kamen.
Ich stand auf und ging zum Ufer. Die Männer verstummten, und wir konnten den anschwellenden Gesang nun deutlich hören: ein dreimal wiederholter Ton, wie wenn ein Kind kurzatmig in eine Blockflöte stieß. Dann erhob auch der Schwan am gegenüberliegenden Ufer die Stimme und schwamm in die Richtung, aus der das Singen kam. Dicht über dem Wald erschien der zweite Schwan.
Oh weh, sagte Roland, das gibt Ärger.
Der Schwan flog auf den anderen zu, tiefer sinkend, bis seine Flügel aufs Wasser schlugen, und landete dicht vor ihm.
Kämpfen Sie? Fragte Bernd.
Das Singen dehnte sich zu langen Klagetönen, die über den See hallten und ihr Echo zurückwarfen. In diesem Echo glaubte ich die Weite des Landes zu hören, die Tiefe der sich abermals und abermals wiederholenden Landschaft, der ineinander verästelnden Seen, der Wälder, von der Seenplatte über die Hügel im Osten bis hinauf nach Lappland.
Die beiden Schwäne zogen aufeinander zu und sangen, sie umkreisten einander und sangen, sie neigten ihre Hälse einander zu, sie hörten nicht auf zu singen. Ich schüttelte langsam den Kopf.
Sie lieben, sagte ich. Ich sagte es sehr leise, mir war in diesem Moment nicht bewusst, dass ich es überhaupt ausgesprochen hatte.
Bernd erwiderte etwas, Roland kicherte, und sie witzelten: Wie treiben es eigentlich Schwäne, machen sie das immer um Mitternacht? Etwas berührte mich leicht an der Hüfte. Ich fühlte diese Berührung, noch bevor ich begriff, dass sie neben mich getreten war, und ich staunte über die Leichtigkeit dieser Geste, Katjas Hand kaum spürbar auf meiner Hüfte.
Danke, dass wir hier sein dürfen, sagte sie. Wir schwiegen dann und beobachteten die Schwäne, die umeinander schwammen, einander betörten und noch lang in die Tiefe der finnischen Wälder sangen.
Nicht alles war anders nach dieser Nacht. Doch mein Groll gegen Katja - gegen das, was sie verkörperte, was ich sie verkörpern ließ -, er war nicht mehr heraufzubeschwören. Nicht am nächsten Morgen, als ich auf dem Steg saß und Katja aus der zweiten Schlafhütte trat, mir stumm zunickte und dann ihre Morgenübungen machte, eine Mischung aus Gymnastik und Tanz, die ich, hätte ich nur gewollt, als affektiert hätte abtun können, vielleicht sogar als Show, als Aufführung vor einem imaginären (oder gar nicht so imaginären) Publikum: nicht einmal, als ich zur Hütte hinübersah und Rolands Gesicht hinter der Scheibe wahrnahm, das Haar zerzaust, der Blick schlaftrunken, versonnen zu Katja hin, die am Ufer stand und sich drehte, sich neigte und wieder erhob.
Nicht einmal, als Rolands Gesicht vom Fenster verschwand, nachdem unsere Augen sich getroffen hatten: Roland, ertappt beim Betrachten Katjas, der Schönen. Denn schön war sie, auf eine sehr menschliche, nicht ätherische Art, schön waren ihre schlanken und doch kräftigen Glieder, ihre drahtige und zugleich weiche Statur. So anders als meine, die ich in einem Körper stecke, gegen den ich seit der Pubertät erfolglos ankämpfe, mit dem ich hadere, den schweren Brüsten, den vollen Hüften, den gerundeten, gegeneinander drückenden Oberschenkeln. Katja war nicht mein Idealbild, das einer Knabenfigur glich, dem Körper eines Neutrums. Sie war unverkennbar Frau, doch anders genug als ich und so ganz und gar eins mit sich und ihrem Körper, dass der Groll hätte mühelos sein sollen. Er stellte sich nicht mehr ein. Nicht einmal bei Rolands verräterischem Blick an diesem Morgen. Nicht einmal an diesem Nachmittag, als ich neben ihm in der Sauna saß, über Eck mit Bernd und Katja. Als ich mit meiner Scham kämpfte und nicht hätte sagen können, vor wem ich mich mehr schämte, vor Bernd, Katja oder gar Roland. Nicht einmal beim Anblick von Katjas ruhiger Natürlichkeit, auch jetzt, gerade jetzt: nackt. Beim Anblick ihrer muskulösen Schenkel, ihrer kleinen, festen Brüste, dem schmalen Hof ihrer Brustwarzen, ihrer hellen, den Spalt nicht verdeckenden Schamhaare.
Nicht in der Kühle des Sees, aus dem ihr Kopf herausragte, Wellenringe vor sich herschiebend, als sie rief, von der Kälte überwältigt: Schön, schön! Und ich ihr nachschwamm, lachend, Wasser schluckend, weit hinaus wie nie.
Schon gar nicht an jenem frühen Abend, als ich erwachte von dem kurzen, schweren Schlaf, in den ich oft nach der Sauna fiel. Die Männer hatten die Angeln aufgepackt und waren im Boot davongerudert, ich sah es am nördlichen Ende des Sees dahintreiben, die Ruten als dünne Striche gegen den Wald gezeichnet, und auf dem Steg, im Gegenlicht: sie, Katja. Sie tanzte. Einen langsamen, verhalten rhythmischen Tanz mit fließend sanften Bewegungen.
Ich ging hinunter. Sie erschrak nicht, als sie mich sah. Sie hielt nicht inne, sondern tanzte weiter, ließ in der Drehung den Blick auf mich gerichtet, lächelnd. Sie sagte: Linker Fuß.
Ich zögerte, kämpfte mit mir. Dann setzte ich langsam den Fuß vor. Sie drehte sich. Ich tat es ihr gleich. Sie sagte: tan-dadam in einem Sprechgesang, gab den Rhythmus vor, sie setzte den Fuß und sagte: Von vorn, und wir wiederholten die Schrittfolge ein paar Mal, nahmen die Arme hinzu, und jedes Mal wurde ich sicherer. Katja blieb stehen und streckte die Hand aus. Zusammen, sagte sie.
Ich trat auf den Steg und ging langsam auf sie zu, ergriff ihre ausgestreckte Hand, unsicher wie eine Blinde. Sie setzte den Fuß, ich sah nach unten, Katja berührte mit dem Zeigefinger mein Kinn und führte leicht meinen Kopf nach oben, bis unsere Blicke sich trafen. Du brauchst jetzt nicht mehr nach unten zu sehen, sagte sie. Bei diesem Tanz sieht man sich in die Augen.
Wir bewegten uns umeinander in synchronen Schritten. Wir tanzten zu Katjas tam-dadam, dann ebbte das ab, und da war nur noch das leise Knarren der Balken unter unseren Schritten, unter unseren Körpern, die sich umeinander neigten und drehten in einem Gleichtakt, der jetzt von innen kam. Die ganze Zeit über sah sie mir in die Augen, und ich hielt ihren Blick, nahm ihn auf, ließ ihn in mich hinabsinken, ihn spiegelnd, erwidernd, in ihn eintauchend.
An diesem Abend ging ich bald zu Bett. Ich lag in der Koje und sah aus dem schmalen Fenster in die Birken hinaus, die hell im Dämmerlicht standen. Tan-dadam, flüsterte ich. Nur immer tan-dadam, bis ich einschlief.
Sie fuhren am nächsten Tag. Ich war enttäuscht und erleichtert zugleich. Ich verabschiedete mich schon, während sie packten: Ich wolle noch laufen. Umarmte Bernd und dann Katja, kurz und fest. Sie hielt mich länger als ich sie, gab mich dann aber frei. Ein Blick, und ich lief los. Weit nach der Kehre fuhren sie an mir vorbei. Sie winkten, Katja den Kopf zu mir zurückgewandt. Ich sah ihr nach, atemlos laufend, bis ihre Konturen in einer Wolke aus Staub verschwanden.
Am Nachmittag kam der Regen. Der Himmel zog sich zu, Wind trieb zitternde Wellen über das Wasser zum leeren Steg hin. Roland und ich liefen nackt zum Saunahäuschen, blieben lange darin, einander betrachtend, scheu, als hätten wir uns gerade entdeckt. Schwammen kurz und fröstelnd, wärmten uns in der Hütte, berührten uns. Liebten uns dann. Der Regen hielt tagelang an, und wir verbrachten die Regentage in der Sauna und wuschen einander, als der See zu kalt wurde, lagen eng beieinander in der Koje, schliefen, liebten uns, aßen, schliefen und wussten wieder, warum wir einander gewählt hatten, erstaunt und erregt und matt. Einmal, als der Regen nachließ, wollte Roland mit mir auf dem Steg tanzen: Ich solle ihm die Schrittfolge zeigen. Er musste uns vom Boot aus beobachtet haben. Ich erschrak und lachte dann, den Tanz hätte ich längst vergessen. Ich zog ihn vom Steg und umarmte ihn lang. Es lag nichts Falsches in dieser Umarmung, obwohl sie aus Verlegenheit geschah und um etwas sehr Zartes zu schützen.
Einmal habe ich sie wiedergesehen. In der Buchhandlung lagen Werbezettel aus mit den Zeiten, zu denen sie Kurse gab. Ich fuhr zur Tanzschule. Ich achtete darauf, den Vorraum erst zu betreten, als ihre Stunde schon begonnen hatte. Ich stahl mich hinein wie ein Dieb, wie jemand, der etwas, sehr viel, zu verbergen hat. Da standen Schülerinnen, junge Frauen und ältere, und warteten auf den Beginn der nächsten Stunde. Ich trat zur Glastür, niemand beachtete mich. Drinnen stand Katja mit dem Rücken zur Spiegelwand. Sie trug Ballettschuhe. Sie sprach gerade, ich konnte durch die Scheibe nichts hören und hörte doch ihre Stimme, den warmen, ruhigen Ton. Sie hob die Arme und drehte sich langsam um die eigene Achse, neigte sich zur einen, zur anderen Seite, und als ihr Gesicht sich der Glastür näherte, trat ich zurück und verschwand dann schnell, mit klopfendem Herzen. Abends, allein in der Wohnung, tanzte ich unseren Tanz, summte das tan-dadam, bis ich verstummte und nur noch Stille war und die Bewegung des Fußes und das Wiegen des Körpers, und ich genoss die Wehmut, die der Tanz wie Flügel über mich breitete.
Das andere Leben träumen: Am Fenster stehen, und ein anderer, der nicht Roland ist, tritt neben mich, berührt meine Schulter. Ein anderer liegt neben mir, ein anderer empfängt mich, wenn ich den Schlüssel im Schloss drehe, und alles ist neu und verzaubert. Das andere Leben träumen: Ich habe es oft getan. Mit Katja war das nie. Immer nur habe ich sie auf dem Steg gesehen, sehe sie, uns, noch heute. Nirgendwo sonst. Immer nur stehe ich am See, beobachte die Schwäne am westlichen Ufer einander umkreisen, betören. Bernd fragt: Kämpfen Sie? Und ich, jedes Mal mit dem gleichen Staunen, immer aufs Neue überwältigt, ich antworte: Sie lieben.
 

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