raumgleiter

express!-Rahmenbeitrag
und wer, wer findet mich?
Statement

Liebe Monika Vasik, lieber Timo Brandt,

ganz herzlichen Dank für das Gespräch und den Gedankenaustausch der letzten 10 Tage. „Ein lyrisches Ich, das im Glück staunt und in der Trauer“, liebe Monika Vasik, das bringt die Bewegungen des Bandes nochmals wunderbar auf den Punkt. Und mein Dank gilt auch den LeserInnen-Beiträgen, die uns begleitet und beflügelt und unsere Gedanken und Sinne weiter geschärft haben. Ich bin froh, dabei gewesen zu sein, bin froh, erfahren zu haben, dass das „Wunder“, wie Timo Brandt sagt: „dass ein Mensch den anderen zum Sehen anleiten kann, zu etwas Tieferem“ tatsächlich von dem einen oder anderen Gedicht des Bandes ausgehen könnte. Ich selbst kenne dieses Wunder nur zu gut von Texten anderer Autoren, und bestenfalls werden diese Texte, die uns einmal berührt haben, auch unsere Lebensbegleiter. Und einige wenige Texte werden sogar Raumgleiter, bergpredigende spaceshuttles und friedliebende Viren, die noch in tausend Jahren an andere Herzen und Hirne und Zellen andocken können, weil die Gedanken und Empfindungen, die sie enthalten, von zeitloser Klarheit sind. Und hier zeigt sich meiner Meinung nach auch ein evolutionärer Vorteil, den alle Gedichte „von Geburt“ an gegenüber ihren größeren und dickeren Brüdern und Schwestern haben, gegenüber Erzählungen, Novellen, Romanen und Dramen: sie sind viel kleiner und wendiger und fliegen besser und schneller im Kopf und von Kopf zu Kopf herum. Es gibt Romane, die ich gelesen habe und die mich unfassbar beeindruckt haben, alle paar Seiten ein Wunder, und doch versinken diese Wunder nach ein, zwei Jahren im Ozean eines Kopfes, der sich keine Romane merken kann, der Romane einfach vergisst, so wie er alles vergisst, was zu lang ist und zu viele Worte macht. Das einzige, was hier hilft, ist, den Roman immer und immer wieder zu lesen, das wäre sinnvoll, aber auch langwierig und zeitraubend, und wahrscheinlich auch ermüdend und dem immer wieder neu angestrebten Wunder abträglich. Und dann, auf der anderen Seite, steht ein kleines Gedicht! Ein kleiner Klangkörper, der sich, im Falle einer ersten wundersamen Berührung mit dem Kopf und dem Herzen eines Lesers oder einer Leserin, jederzeit und schnell und unkompliziert wieder abrufen, lesen, reaktivieren lässt, innerhalb von Minuten. Ein Gedicht kann leicht auswendig gelernt werden im Gegensatz zu einem Roman, und je mehr Klangkörper ein Gedicht ist, desto leichter fällt uns das Auswendiglernen. Und jedes Auswendiglernen ist auch eine Entmaterialisierung, denn nirgendwo in unseren Nervenzellen, nirgendwo in den Zellkörpern, Dendriten, Axonen und Endknöpfchen unserer Neurone, gibt es „Gedächtnismoleküle“, gibt es eine materielle Grundlage unserer Erinnerungen. Zumindest hat man sie noch nicht gefunden. Die Neurowissenschaften sagen heute, dass unsere Erinnerungen nur aus elektrischen Schleifen und Schleifchen zwischen unseren Nervenzellen bestehen, aus synaptischen Kreisläufen, um nicht von „Seele“ sprechen zu müssen. Aber zurück zum Gedicht: Ein Gedicht kann demnach im Gegensatz zu einem Roman vollständig entmaterialisiert in unserem Gehirn kreisen und Schleifchen drehen und Funken sprühen und kann auch jederzeit wieder vollständig materialisiert werden, indem wir es leise vor uns hin sprechen und in Schallwellen verwandeln, wenn wir seine Hilfe und Stärkung benötigen. Wir können es auch anderen Menschen aufsagen, wenn wir spüren, dass sie seine Hilfe und Stärkung benötigen, und wir können es letztlich auch jederzeit aus unserem Kopf heraus wieder auf ein einzelnes Stück Papier bringen, auf einen einzelnen Stein oder auf einen einzelnen Bildschirm, wenn wir es sehen und betrachten wollen, wenn wir uns nach seiner Form sehnen wie nach einem auferstandenen Körper ...

Mit besten Grüßen, Carl-Christian Elze