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alles ist erleuchtet
„gehet aufeinander zu,
das sei eure bestimmung.“
Endlich ist der Weg erleuchtet, dank der Erläuterungen von Kollege Schmitzer zum Aufbau des Buches. Ein zahlenmystischer Aufbau, in den man allerlei hineininterpretieren könnte. Dazu vielleicht später.
Halten wir für den Moment fest, das da immer noch dieselben Gedichte liegen. Selbstredend unverändert. Verändert aber hat sich mein Blick auf sie.
Kein Subtext, keine Notwendigkeit nach Schlüsseln zu suchen, betont Yevgeniy. Alles liegt offen da. Die inszenierte Intimität ebenso wie das Spiel mit den Mythen, die Bewegungen der Gedichte von innen nach außen, vom Individuellen ins Großeganze.
Mehrfach erwähnt worden ist der hohe Ton der Gedichte, der im Gegensatz steht zu deren Inhalt, indem sich Ton und Inhalt in verschiedene Richtungen bewegen, wie Ebbe und Flut in etwa, um in den Bildern des Bandes zu bleiben. Die ja auch zusammengehören, trotz aller Gegensätzlichkeit, und die sich abhängig vom Mond auf ihre je eigene Weise bewegen. So wie auch diese Gedichte sich immerzu in Bewegung zu befinden scheinen, zwischen innen und außen, Individuum und Gesellschaft. An Grenzen gehend (so sieht es Verena). Was dem Dichter gefällt. Weil mir diese Aussage von den Grenzen der Sprache eher nichtssagend erscheint, gehe ich noch einmal zurück zum einzelnen Gedicht, bzw. zu zwei aufeinander folgenden Gedichten, und formuliere ein vorläufiges Verständnis und eine Frage.
Im Kapitel Pfanzenfamilien, in dem u.a. Glauben und Definitionsmacht verhandelt werden, steht folgendes Gedicht:
aus den wässrigen untiefen einer sphäre erheben sich
fünf käfer, jung noch,
wackeln mit ihrem chitin.1 ein ruhiger fideler freund,
2 trist im körperbau, hat hunger,
3,4 und 5 wie 1.1,3,4,5 spucken giftige ladungen in einen abguss,
scheuen den konflikt.2 breitet seine fühler aus in richtung der pole,
zitiert, was ihm einfällt, erfindet dazu:
ich komme aus dem wald, wo kälte eine währung ist.
das wesen der krankheit ist dort unklar,
entspricht dem gegenteil von hunger, also europa.
da kommt man um vor bergen.
1,3,4,5 befeuern 2 mit giftigster galle,
2 zieht zurück.
Hier werden die angedeuteten Ursprungsgeschichten konkret: fünf Käfer erblicken das Licht der Welt. 4 von ihnen ähneln einander, einer ist anders und hat zudem noch Hunger.
Die einander gleichenden tun gewissenlos Dinge, deren Folgen sie nicht kümmern. Spätestens hier werden die Käfer für mich europäische (wenn nicht explizit deutsche) Käfer (Stichwort Globalisierung, Ausbeutung rohstoffreicher Länder, Waffenexporte, ganz besonders natürlich die ausdrücklich erwähnte Scheu vor Konflikten).
2, der andersartige, hungrige, also noch nicht bis zur Verblödung mit Wohlstandsmüll gesättigte, Käfer, hat seinen Auftritt. Er zitiert urdeutsche Symbole (Wald) und definiert das Klima dieses Herkunftsortes so klar und pointiert, dass es keiner weiteren Worte bedarf. Die Kälte als Währung, ergänzt durch das unklare Wesen der Krankheit als Gegenteil von Hunger, fängt die ganze momentane Stimmungslage in einem wohlstandsgesättigten Land ein, dessen Bürger kürzlich besorgniserregende Wahlergebnisse verantwortet haben. Die konfliktscheuen, nationalistischen Käfer reagieren auf diese Rede, wie sie zu handeln gewohnt sind; sie verspritzen Gift.
So weit, so gut. Wirklich sehr gut, weil auf kleinstem Raum hochkomplexe Problemberge (da kommt man um vor bergen) verdichtet werden.
Yevgeniy hat in seinem letzten Statement die Frage nach der "Möglichkeit, überhaupt politisch zu sprechen" gestellt. Eine Frage, die andersherum genauso gut funktioniert, als Unmöglichkeit nicht politisch zu sprechen, so dass ein Gedicht über Käfer von einer Leserin mit politischen Deutungen aufgeladen wird. Das ist vielleicht wirklich weniger verstehen als Dynamik, Bewegung. Da sollten wir weitermachen.
Obwohl das ein schöner Schluss wäre, ist da noch meine eingangs erwähnte Frage. Sie beginnt mit dem Gedicht, das unmittelbar auf das Käfergedicht folgt:
blumen feiern hochzeit vor meinem fenster.
ich liege wach und kann nicht weinen.
wo sind die einsamen geblieben? wo
mein batteriebetriebener toaster? wo
die skelette der abgeschossenen mücken?ich sehe sie nur noch bekleidet im traum.
die atmosphäre besteht aus aussortierten nebeln,
aus mündigen verbrechern, geficktem motorstaub.ich will ein tretschwan sein, um zumindest einen see zu kennen.
früher dachte ich, die stärke der planeten triebe mich voran.
sie war müdes kreisen.
die planeten schoben sich ineinander,
einsamkeit kam auf, zog vorbei.
Ohne dieses Gedicht, hätte ich Verena in diesem Statement die Hand gereicht und gesagt: Ja, dieser Dichter ist groß. Dieses Buch ist ein Trost.
Aber so? Was soll das? Gegenbewegung von außen zurück ins Innen? Widerspruch? Bruch? Oder die Einlösung von Stefans Versprechen, dass das Gespräch über die Gedichte kompliziert bleiben wird? Das soll kein Qualitätsurteil sein, das soll nicht einmal bedeuten, dass ich wieder auf das alte Nichtverständnis zurückfalle. Es geht darum, dass "flüchtige monde" ein tatsächlich klug montierter Band ist, von dem Zahlenaufbau, den Stefan kundig erschlossen hat, bis zu den sinnhaften Fäden, die sich durch den Band ziehen. Vielerorts erkenne ich das. Gerade darum irritiert mich dieser "Zusammenstoß" der Gedichte. Und mit dem Etikett "naiv" versehen, das mir ein Leser verpasst hat und das ich mir bereitwillig auf die Stirn klebe, gebe ich zu: Hier tappe ich aller Erleuchtung zum Trotz, erneut im Dunklen.