Da muß ich wiederum Marcello
Da muß ich wiederum Marcello beim Erbsenzählen unterstützen. Der Filmschnitt ist mir im Moment zu blumig. Während die Leute von der Arbeit kommen und nachschauen was es neues auf fixpoetry gibt.
Noch mal zurück: Marcellos Einwürfe weiter oben finde ich durchaus diskutabel, allein die Form war überzogen. Wenn man aber bedenkt, wie YB bisweilen so vom leder zieht („In Wagners Welt des Gedichts existieren das Ding und das Karma des Dings. Dieser substantielle Trottel glaubt, es würde ausreichen, die Seife fallen zu lassen, ohne sich zu bücken.“), kann man den härteren Anpack eben auch als Echo verstehen.
So ist bspw. Marcellos Einwand richtig, daß YB am liebsten die Perspektiven vorgeben möchte, aus denen zu betrachten wäre, aber leider dabei andere Perspektiven zum steinzeitlichen Ullugullu entwertet. Ich verstehe es so, daß „Verstehen“ heute kein Maßstab mehr ist, den man einem Text anlegen dürfte. YB verschweigt uns aber, welche anderen Kriterien dann in Betracht kommen sollen. Im Prinzip darf man alles mit dem Text machen, Hauptsache man ist offen und findet ihn gut. Wer ihn nicht gut findet, ist einfach nicht offen genug und weiß nichts mit modernen Texten anzufangen. Das ist mir alles viel zu einfach geformelt: Ein cooler Leser ist, wer in einen Text hineinlesen oder herauslesen kann, was er will. Der Text ist ein Geschenk, wenn der Leser nicht mit ihm zurechtkommt, dann weil der Leser nicht mit ihm zurechtkommt.
Ich mache Vorschläge, was mir dennoch an Kriterien für eine mögliche Kritik einfällt.
Für mich essentiell wichtig ist der Begriff „Stimmigkeit“: Pfeffer ist nicht süß – ist er nicht? Nein? Pardon, der Pfeffer des Diskutierens kann schon süß sein. Aber dann ist er es in seinem Kontext und kein Akt der Nachlässigkeit oder Willkür. Ein Schein, der einen anderen durchbohrt, ist einfach nachlässig durchdacht hingeschrieben.
Ein anderer Begriff wäre „Originalität“, mit dem ich sofort Schwierigkeiten habe, weil ein Text herrlich eigen sein kann und trotzdem noch kein Gedicht. „Auf bestimmten schöpferischen Einfällen, eigenständigen Gedanken beruhende Besonderheit“, weiß der Duden. Originalität ist recht leicht zu erzielen, indem man abweicht vom Üblichen. Was aber oft eine Scheinoriginalität, nämlich ein herbeigesuchtes Abweichen ist. Ein richtiges Original drückt aus, was und wie nur es ausdrücken kann.
„Handwerkliche Ausführung“ wäre ein dritter Begriff – wie ist das Gedicht gemacht? Das Machen braucht schließlich ein echtes Können.
Tja und schließlich noch eine zweite Art von Können, aber im Sinne von „Verstehen“ – aber nicht das Verstehen aus der Steinzeit, sondern versteht der Autor eine Poetologie zu transportieren, dafür einzustehen, oder scheitert er dabei. Bei YB „geht es um den Versuch, das eigene Maximum (maximale Dynamik?) aus der Sprache herauszuholen und lebendige multidimensionale Gebilde zu entwickeln, die in alle Richtungen weisen und dennoch auf einen gemeinsamen Fluchtpunkt im Inneren hinauslaufen. (Ein eingerollter Igel.) Der Witz ist: Diese Beschreibung von mir könnte man nun genauso gut Streichen und durch eine Gegensätzliche ersetzen.“ Also geht es nirgendwo hin außer in den Text. Der soll so beschaffen sein, daß er vielerlei Bewegung möglich macht, einlädt zu maximaler Dynamik.
Das sehe ich in den Beispieltexten nicht. Im Gegenteil – es passiert für meinen Geschmack viel zu wenig in ihnen, die Texte leben ein Leben weit weg von Prärie und Offenheit und Landschaft, fühlen sich an wie Zimmerchen oder Adventskalendertürchen. Was YB versteht mir anzubieten an Dynamik und Eigenleben ist ein „gefickter motorstaub“ und ein „batteriebetriebener toaster“, enge Bilder ohne Sprengkraft, denen man noch dazu das Ringen um Originalität ansieht.
Bei diesem „Verstehen“ wäre das Poetische gemeint, die Dimensionsfreudigkeit, der Lenkungscharakter, also schon auch ein Können, aber eben kein rein handwerkliches, sondern ein perspektivisches – sagen wir einfach „das poetische Moment“.
Jetzt wären vier Kategorien im Angebot, nach denen man YBs Gedichte betrachten kann:
Und wenn es nach mir geht, käme noch eine fünfte dazu: der Inhalt.
Also schon wieder „Verstehen“, „Begreifen“, all das, was Sprache üblicherweise herausfordert, und zwar nicht, weil man aus der Steinzeit stammt, sondern, weil Sprache ganz üblicherweise genau dafür benutzt wird. Es gibt genug Inhalte auch in der neuesten Neuzeit, die man sprachlich gestalten kann/könnte/sollte, wenn man wollte. YB tut das übrigens auch, tut aber gleichzeitig so, als täte er es nicht.
Eine weitverbreitete Besonderheit in der aktuellen Lyrik ist ja auch die List. Vor dem Hirn des Lesers steht so manches trojanische Pferd, das er zunächst für ein Geschenk hält und das aber in strategischen Überlegungen geboren wurde. Nachzuweisen ist das schwer, sobald das Pferd sich im Innern leert, geht sein Inhalt in die Verantwortung des Lesers über …
Also:
Stimmigkeit, Originalität, Handwerk, Poesie, Inhalt – das wären meine Kandidaten um ein Gedicht zu beurteilen.
Eine weitere Bewertungskategorie liest sich aktuell aus so mancher Kritik, die überrascht vor Texten steht, die der Rezensent so bislang nicht kennt: die Neuheit. Dorothea von Törne bspw. zeigte sich ganz überwältigt von Daniel Falbs Band CEK, weil: "CEK" sprengt alle traditionellen Erwartungen an Lyrik. In welche Rolle das sprechende Ich auch schlüpft, immer zelebriert es zeitgenössisches Lebensgefühl im schnellen Wechsel von Ort und Zeit. und zwar unter der Überschrift: Novalis war gestern: Daniel Falbs Geo-Lyrik fährt mit Google Earth vor.
Das hört sich an wie: Steinzeit war gestern! – eine kaum überraschende Neuigkeit. Natürlich ist Novalis gestern und natürlich darf man von Daniel Falb Lyrik auf Höhe der Zeit – also zeitgenössische Lyrik erwarten. Wenn nicht seine Generation, welche dann sollte sie schreiben. Neu kann die Art der Stimmigkeit sein, neu der Inhalt, neu die Originalität, neu auch die poetische Spannkraft, wenn man das zeitgenössisch durchlebt, aber es wären dann immer noch die Kategorien von oben, zu denen das Attribut „neu“ passt.
Und wenn wir nicht von Verstehen sprechen dürfen, so scheint es ein oberster Lyrikrat beschlossen zu haben, so schlage ich vor, man prüft ein Gedicht auf Belang. Ist es belanglos oder hat es was, das meinetwegen nur Oberfläche ist, aber in eine bestimmte Richtung hin reaktiv. Wenn es Inhalt durch poetologische Panzerung von sich aus verweigert, so hat es wenigstens Oberfläche, die man beprüfen kann. Der Partner zum Inhalt wäre also Oberflächlichkeit, beide sind zu prüfen auf ihr Kontaktangebot, der strukturellen Offen- oder Verschlossenheit. Das Kriterium könnte sein Ambiguität, je weiter Bildentscheidungen reichen, umso größer ist die Ambiguität und damit das Eigenleben oder Innenleben des Gedichts. Umso genauer hat sein Erzeuger darauf geachtet Geschehnisse in spezielle Tiefen weggleiten lassen zu können, was mit Willkür nicht zu verwechseln ist.
Und wenn YB in seiner Poetologie betont Unterschiede der Modernität macht, darf man seine Texte auch darauf untersuchen, ob sie bewußt „modern“ sind. Es scheint ihm ein Thema zu sein nur ja nichts so zu sagen, wie es bereits andere gesagt haben, also Vermeidungsstrategien zu fahren, aus denen dann so unglückliche Konstellationen wie „gefickter Motorstaub“ entstehen. Sprechweisen anzuwenden, die sich aus der Vermeidung erzeugen. Wirklich cool wird das erst, wenn daraus die Ratlosigkeit verschwindet und gelungene poetische Komplexe übernehmen. Ich würde diesen poetologischen Aspekt mit gelungenem Umsetzen der Strategie benennen, oder sagen wir dazu: Verwirklichungsabsicht.
Weiß jemand andere Kriterien, die anders stimmige Ansichten liefern?