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unter bienen.
1. cirque de versteh:
ich lese nochmal unsere ganze bisherige auseinandersetzung mit "flüchtige monde" und miteinander, und ich stelle fest, wir haben mehr zeit mit den bedingungen des lesens-selber verbracht als mit dem konkret zu lesenden dings. dass ein text anlass gibt, erstmal über grundätzliches klarheit zu kriegen, sagt nicht das schlechteste über ihn.
ich stelle ausserdem fest, mein versuch vorhin, das thema aussen vor zu halten mittels extraabsatz ("protokollarisches") ward mißverstanden als (feindselige?) reaktion auf elkes spezielle lesart / leseweise. da muß ich was falsch gemacht haben. die idee dort war, konziliant zu sein: individuelle versteh- und nichtversteh-konzepte müssen ja nicht, können ja gar nicht gegeneinander ins feld geführt werden, da doch die entscheidung über ihre allfällige richtigkeit (besser: angemessenheit) ganz anderswo fällt, nämlich eben siehe oben, techniksoziologie, aufschreibemodelle, reproduktionszusammenhänge von text, von wissen. daran dann multipel festgemacht ist die frage: "was ist die objektive gesellschaftliche funktion von solchem und solchem geschriebenen?" (was natürlich nichts zu tun hat mit der sehr subjektiven funktion von text fürn einzelnen autor / leser; ein unterschied, der, siehe wieder oben, in den bildendenkunst-diskursen längst durchgekauet ist, und an dessen undurchgekautheit die dichtung diutiscer zunge seit jahrzehnten laboriert).
das zweite mißverständnis (wie gesagt: ich gehe davon aus, dass ich vorhin einfach zu unkonzise war) wäre dann, dass, wenn die entscheidung übers verstehen anderswo falle, eh schon egal wär, ob das zeug im text (gebärvögel und so) einem sinnvoll / sinnlos vorkomme. elke schreibt:
Das scheint mir zielführender, als anzunehmen, dass "verstehen"ohnehin in andere wissenschaftliche Bereiche gehört, und es deshalb auch egal ist, ob Vögel gebären, statt Eier zu legen, (...)
(...)
Vielleicht sollten wir uns auf die Flugbahn konzentrieren. Die Flugbahn als unsere individuelle Leseerfahrung mit dem Buch. Wenn wir uns darauf beschränken, diese Flugbahn sehr genau zu beobachten (...)
und zu dieser individuellen leseweise, über die wir uns dann sinnvoll austauschen können, gehört mmn dazu, dass zeug im text mit unserem verständnis von welt zusammenpasst (eier) oder nicht zusammenpasst (lebendgeburt), und welche produktiven reibungen das ggf. macht.
2. kommentarkommentar:
frank half uns wortreich auf diverse sprünge, breitete kriterien aus in seinem langen kommentar zu yevgeniy. und dann kommt leser florian und fordert forsch:
Wer soll das denn alles lesen? Mich wundert langsam nicht mehr, dass keiner Lyrikkritik liest, das ermüdet. Mein Prof. würde sagen, fass das mal zusammen, was du da sagen willst in max. 12 Sätzen.
daran ließe sich ein exkurs über den veränderten bildungsbegriff, die veränderte rolle der professoren, das veränderte selbstverständnis der studierenden anschließen; eventuell unterfüttert durch den hinweis, es sei objektiv unrichtig, dass
keiner Lyrikkritik
liest (man hat als fixpoetry-mitarbeiter den luxus, zugriffszahlen und verweildauer-pro-artikel einzusehen). natürlich ist es ein nischenprogramm, was wir hier treiben, und durchaus ließe sich monieren, dass die schnittmenge zwischen lyrikproduzentinnen, -leserinnen, -rezensentinnen und -rezensionsleserinnen sehr groß ist, aber: und? erstens ist die nische nicht sooo klein, paartausend leutchen immerhin, und zweitens:
gerade weil's ein nischenprogramm ist, darf ohne rücksicht auf verluste dem nischenvergnügen gefrönt werden, text text text immer her damit (weniges geht mir mehr auf die nerven als lesungen, bei denen nach einer stunde schon schluß ist, mit rücksicht auf die delikate aufnahmefähigkeit des publikums - da sitze ich und will die volle dröhnung, und kaum bin ich warm geworden mit dem mir gebotenen, is' schluss). es handelt sich bei einer debatte auf fixpoetry nicht um ein proseminar, nicht um eine (sammlung von) wissenschaftliche(n) arbeit(en), noch auch um einen wikipedia-edit-war über zb "flüchtige monde". dieser hinweis dázu. so.
3. AHS freakshow:
yevgeniy führt american horror story ein, mit bowies "life on mars", gesungen von jessica lange als marlene-dietrich-stand-in, in einer freakshow mit defekten körpern; verweist dabei auch noch aufs nichtfunktionale ... neben den körpern die kaputten geräte ... verweist auf die poeise, die die gerätschaft macht (ggf im maschinenraum der sprache selbst) (zb die [b]a[tt]e[r]i[eb]e[tr]i[eb]e[n]e toaster), wenn man sie lässt, und zuhört. man könnte da manches entpacken: den kontext, mehrererlei übersetzungen (bowie-lange-dietrich), die auf diesen kontext weisen, und das ästhetische programm, dass sich für yevgeniy daraus ableitet. könnte man entpacken; kann der geneigte leser gerne selber tun; muss aber nicht gerade hier an dieser stelle sein – materialschlachten, zitatwürste aus wikipediaartikeln wären unser lohn.
4. zur sache. zu monden. zum haupttext: "magma, staat"
viel weiter oben schreibt yevgenij:
Bisher nicht erwähnt: Eines der Kapitel beispielsweise ist ein direkt politisches szenisches Langgedicht, in dem Flucht, Staatenlosigkeit, Russland/Ukraine-Konflikt behandelt werden, in dem es vor allem um die Möglichkeit, überhaupt politisch zu sprechen geht.
und es ist auch bis jetzt nicht weiter erwähnt worden. wohlan. das kapitel "sich umdrehen auf der flucht" besteht aus einem einzelnen gedicht, und dieses gedicht ist betitelt "magma, staat". es beginnt mit einer aufzählung von figuren –
camille
nadja
josh
enzo
ichan meinem küchentisch, sitzecke im winter, schnee fliegt durchs offene fenster ins innere, wir frieren.
– und gewitzigt, wie ich durch yevgeniys zitierte anmerkung bin, vermute ich referentielles in den namen, google sie; oje oje, das erste suchergebnis ist die "List of The Vampire Diaries Characters - Wikipedia ...", das zweite "Vornamenstatistik - Babygalerie"; also: es sind vermutlich "bloß leute", die da sitzen, kein in wahrheit eingeknastetes maidan-aktionskomitee o.ä. (wär auch zu einfach gewesen).
das gespräch zwischen diesen fünfen in diesem kalten zimmer, in dem es um die relative richtigkeit von verschiedenen (wieder mal - schau an!) insektenmetaphern für fluchtgeschehen, kriegsgeschehen, kriegerische ideologien geht, nebst der frage, wer warum das fenster geschlossen bzw geöffnet hat –
josh öffnet das fenster.
ich konzentriere mich auf die innere landschaft des zimmers.
die tischgarnitur, das wieder offene fenster
aus welchem frieren und orgienbedarf resultieren.ich schließe das fenster NICHT.
ich bin KEINE ameise!ich
schließe
es
nicht.
DU HAST ABER.ich bin eine biene, die niemals eine pollenallergie vermied.
DU HAST ABER.
ich
schließe
es
nicht.ich epileptischer falter in friedensgebieten werde
dieses fenster nicht schließen.
– es beinhaltet auch ein paar konkrete ortsangaben, krimhafen, wo sich schiffe "im bienenmuster" stapeln, den deutschen boden (er "besteht aus boden") – das gespräch also, surreal genug, dem auch die nachvollziehbaren motivationen der sprecher zu ihren konflikten untereinander völlig fehlen (womit nochmal doppeldeutlich unterstrichen ist, dass wir einen schlüsseltext lesen, bloß, was wär der schlüssel?), dient als aufhänger, um politische konzepte abzugleichen und über konkrete handlungsspielräume zu reden.
das schwierige daran - yevgeniy wird mir widersprechen – ist, dass auch die gebrochene naturmetapher naturgegebenheit des metaphorisch dargestellten impliziert; wenn in einer
rechnung:
ein flüchtlingsstrom von fliegen
in einen aversiven bienenstock
eindringt, kann das noch so sehr figurenrede sein, und poetisch gebrochen, und obendrein nicht unwdersprochen stehenbleiben – es ähnelt trotzdem frappant dem rassisten-meme von der ratte, die im pferdestall geboren wird und deswegen noch lange kein pferd ist ...
klar kann man genau solche "memes" (ich verwende den begriff, um dergleichen nicht zum "gedanken" oder gar zur "idee" adeln zu müssen) angehen, sie im gedicht, in veränderter form rekontextualisieren; klar lässt sich auch denken, dass einer im raum, da so geredet wird, solche "memes" mit hereingetragen hat; insofern geht yevgeniys text auf. man kann noch reden, "wer redet, ist nicht tot", dies gilt ganz unabhängig davon, was draussen, jenseits des (geöffneten? geschlossenen?) fensters geschieht.
rettung vor dieser optischen täuschung des naturgegeben richtigen verspricht in "magma, staat" erneut die objektiv unrichtige biologie der geschöpfe:
(...) ameisen bilden hervorragende
schneidezähne aus, (...)
rettung verspricht auch der schluss, der es schafft, die zwei stränge – suche nach (a) handlungsoptionen für die subjekte und (b) passenden metaphern für die vor sich gehenden sozialen katastrophen – in eins zu kippen, wenn die im text mehrmals an-kokettierte "orgie" endlich stattfindet:
ich: ich.
enzo: ich.
camille: ich.
josh: ich.
nadja: ich
ah. was anfangs getrennt im raum herumstand, fällt (dank dem gespräch? gemeinsamem essen?) in eins, gehört zusammen; ist das noch empathie, oder schon telepathie bzw. interpenetration? – es geht noch weiter und beantwortet die frage:
wir ziehen uns aus.
unsere körper verbiegen sich:
als sanfteste plastiken,
denn es beliebt uns,
einander zu greifen.
wie kernspintomografien des flüchtlings,
der bienen verschluckt hat,
beim trinken natürlich
von wasser.
problematisch an dieser rettung bleibt, wie abrupt sie passiert. es hätte genausogut halbsoviel, oder doppelt so viel, text zwischen der vorstellung des personals und seiner entkleidung verstreichen können. und in diesem verstreichen liegt ja die crux: was ist auf jenem schiff im krimhafen? was ist, wenn jemand das fenster von aussen zerdeppert? unproblematisch, erfreulich-ambivalent, unbedingt stehenzulassen ist die biene als bild, und was sie impliziert, von "deutschem fleiß" bis zu mandevilles "bienenfabel" (und ihren folgen fürs zeitgenössische denken, up to and including die invisible hand of the market).