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Bertram Reinecke,

Sprechen wir deutsch? Ich meine Sie schon ganz recht verstanden zu haben, da Sie in einem Sinne fortsetzen, den ich kaum anders erwartete. Ich weiß ungefähr, wie ihre Begriffsverwendungen aufeinander aufbauen.
Auch wenn ich ahne, dass Sie es vielleicht pejorativ meinen, dass ich Ihre Gedanken auf den Kopf stelle, vielleicht ist es so: Maler drehen ein Bild gern um, um es zu prüfen. Sie gehen davon aus, dass ein Werk gelungen ist, wenn die Komposition auch kopfstehend aufgeht. Vulgo: Ich denke an Beispiele und Folgerungen, die nicht gerade die Paradefälle dessen sind, was Ihnen Ihre Gedanken so plausibel macht.
Verzeihen Sie mir, wenn ich im Gegensatz zu Ihnen Ihren Stil schwallig finde. Sie hämmern ja immer wieder dasselbe ein „Wortdeckchen häkeln“ „Ignoraz, Oberflächlichkeit“
Natürlich gibt es das. Haben Sie meinen Text auf Lyrikzeitung gelesen? Ich schlage vor, Argumentationsfiguren aus dem Feld der Lyrik/kritik ins Politische zu übersetzen. Ich tue es nun mit Ihrem Argument, warum Lyrik und ihre Kritik nicht ankommt: „Leute Wie Trump und Petry zeigen, dass es keine Politiker gibt, denen man zuhören sollte.“ Sie nehmen einen möglichen Verdacht, den man oft berechtigter Weise hat, für die Sache selbst. Das zeugt von wenig Anerkennung für die guten Beispiele, um die es doch eigentlich allein nur gehen kann.
Zum Beispiel ignorieren Sie Pohlmann, Reimann, Othmann. (es sind drei von vielen). Wenn Themen relevant sind dann doch deren Themen, hie die Signaturen gesellschaftlichen Verhängnisses in (Menschen)landschaften (anknüpfend etwa an Hilbig), dort Erfahrungen mit Verfolgung und Schwulsein und gesellschaftlichen Umbrüchen, dort Erfahrungen mit Krieg und Migration, alles in einem Stil jeweils, der auf je verschiedene Weise durchaus State of the Art ist, (Man wäre jedenfalls in der Beweispflicht, wenn man es bestreiten wollte!)
Vielleicht haben Sie oberflächlich hingesehen oder sind ignorant, wenn Sie es tatsächlich den Dichtern in die Schuhe schieben wollten, dass sie gesellschaftlich wenig bedeutsam sind? Andere geben Winke, warum es so sein könnte: https://lyrikzeitung.com/2016/05/02/zwischenruf-zur-lyrikdebatte/
Sie tun so, als würde es nur einen Typ Leser geben, den man irgendwo abholen könnte. Diesen Idealleser halte ich für eine akademistische Fehlkonstruktion. (Der braucht dann auch nur einen Typ Gedicht? Mir ist sehr klar, dass die Lyrik ein Raum für unendlich verschiedene Anliegen sein kann!) Das sollte die Lyrikkritik endlich lernen, wenn sie wirksam sein möchte. Mario Osterland stellt seine Rezension explizit in den Rahmen einer Fachdebatte. Auch Fachdebatten müssen Beispiele bringen dürfen. (Auch Sie schlagen ja Beispiele vor.)
Meinen Sie denn, dass Sie irgendwen abholen, wenn Sie Ihrem Idealleser jeweils mehrfach einhämmern (nachdem Joana Orleanu stereotyp das Gleiche tat und ich mich langweilte, weil ich alle Diskursfiguren schon da kannte), alle seien ignorant oberflächlich und inzestuös und bezögen sich auf Wortgeklingel? Natürlich, diese Frage ist deswegen kindisch, weil Ihr Text ebenfalls sich an Leute wendet, die sich eine große Vorbildung zutrauen. Es setzte ja eigentlich sehr viel Leseerfahrung voraus, Ihr Raunen von „Postmoderne“ „Romantizismus“ „Badewanne“ etc. überhaupt auf einzelne Texte bzw. Lyriker zu beziehen. „Es gilt, besser zu werden. Wieder und wieder.“ Wahrlich!
Ich habe gar nicht die Erwartung, die Gesellschaft solle „irgendwie anders auf Lyrik reagieren“.Sie missverstehen mich. Wie Osterland proklamiere ich nicht, dass die Realität sich meinen Wünschen füge, sondern versuche Konsens darüber herzustellen, was man berechtigter Weise voneinander erwarten sollte: Ich habe die Erwartung, dass Leute, die aus einer Position der Informiertheit schreiben wie Sie und Joana Orleanu, dann auch informiert sind und sich auf ihre Gegenstände einlassen. Ich halte diese Erwartung einfach für berechtigt. Sie sollten auch Fachdebatten von Leserwerbung unterscheiden können. Das ist so leicht, dass ich jedem Kritiker, der dies nicht tut, ein ursupatorisches Anliegen unterstellen muss: Dass er mit Lautstärke andere mundtot machen will.

PS: Ich finde Ihre letzte Frage fast offenbarend: „Warum hat eigentlich noch niemand die neuen Lyrikbände von Gerrit Wustmann und José F. A. Oliver in Augenschein genommen? Sie werden ja anscheinend von „der“ Gesellschaft nicht einfach schweigend übergangen.“ Ist doch fein, wenn die nicht übergangen werden? Dann habe ich als Vermittler ja nichts mehr zu tun! Soll Kritik selbst sortierende Leistungen vollbringen oder sich an einen gesicherten Dichter dranhängen? Ich lese in der Zeit anderes. Gestern wars zufällig u.A. Poschmann.
Natürlich, ich hab nichts dagegen, wenn für Sie dieser Bericht im Regionalteil einer Zeitung die Art Relevanz abbildet, die Sie erstreben, dass nämlich Lyrik über ein Trittbrett in die Aufmerksamkeit kommt. (War ja auch bei Böhmermann und Grass nicht anders, als Verleger hat man es natürlich lieber im Kulturteil). Was mich an dem Beispiel freut ist, dass die Autorin offenbar versucht hat, dennoch so viel wie möglich über die Machart der Texte noch unterzubringen. Ich schätze auch z.B. Thomas Gärtner von der DNN sehr, dass er den Regionalteil seines Blattes für kundige Aussagen zur Poesie zu nutzen versteht.