Mir gefällt Dein Ton ja inzwischen. Habe aber doch noch einige Anmerkungen. Der Fabrikarbeiter mag ein schöner Prototyp des nicht Vorgebildeten sein. (Aber stimmt das? In der Schule war er und Freizeit hat er auch.) Aber dennoch, auch Angestellte kann man hinzufügen: Ich kenne eine Briefzustellerin, die liest Miron Białoszewski und Titus Meyer, eine Rechtsanwaltsfachangestellte, die liest Lothar Klünner. Und wieso nur so schauen: Ich finde, ein Betriebswirtschaftsstudent, der Stoltherfoht liest oder ein quer eingestiegener Informatiker, der Monika Rinck schätzt, gehören jetzt, wo jeder Zweite Abitur macht, ebenso dazu. Und es gibt auch Leute, die Schwierigkeiten mit Arbeitengehen haben, weil sie z.B. psychisch krank sind, und stattdessen z.B. Johanna Schwedes lesen. So viel um Dein Tableau an lesenden Nichtschreibern zu vervollständigen.
Merkwürdig scheint mir, dass „Lyrikpolizei“ hier in einem Atemzug mit Tristan und mit Lyrikzeitung steht. Tristan und die Lyrikzeitung verfolgen ausweislich Tristans Text sicher andere Ziele und haben andere diskursive Arbeitsweisen. So weit es sich um die von Dir erwähnte Lyrikzeitung handelt, werden da doch Regionalzeitungsautoren dann mit scharfer Kritik bedacht, wenn sie in der von Dir angegriffenen Art auf herkömmlicher Weise generell urteilen wollen und z.B. sich dadurch anmaßen, dass sie DAFÜR wenig Kompetenz besitzen. Da sind Deine Anliegen denen der Lyrikzeitung sehr ähnlich.
Ich denke, unterschiedlicher Sicht könnte man sein in der Frage, ob die vollständige Subjektivität des öffentlichen Kritikers das Allheilmittel gegen die Probleme der Kritik sein könnte. Im Moment habe ich da eher eine andere Diagnose. Ich beobachte eher, dass sich Kritiker immer mehr von den Rechten einverleiben, die früher Dichtern zugestanden wurden. (Danke für die schöne Anekdote von der Messe!) Dazu gehört eben auch jenes, nicht mehr rechtfertigen zu müssen, was sie tun, sondern es ihrer Inspiration anheimzugeben. Da die bekannten Kritiker (anders als viele Blogger) in einem Medium arbeiten, dass gewisse Relevanzansprüche behauptet, in eine Breite wirken will etc. sehen sie sich oft bemüßigt, nicht nur ihre Lesegeschichten zu erzählen (die sie oft nur luschig anskizzieren, dass sie kaum nachvollziehbar werden, es sei denn, man teilt zufällig dieselben Lesegewissheiten). Sie behaupten zudem, ihre eigene Lesart wäre außer für sie noch für jemanden relevant. Bzw. noch schlimmer: Wenn sie glückt oder scheitert heischen sie mit rethorischen Manipulationen darum, dass der Leser nicht mit der Schulter über diesen mehrv oder minder merkwürdigen Leser zuckt, sondern dies im Guten oder Schlechten dann doch für eine irgendwie objektive Wirkung des Textes halten. Sonst müsste man doch Sätze wie: „Das Interessiert mich nicht“ öfter von Rezensenten lesen. Meist steht da aber doch: x [Name des Textes oder gar Autors!] ist [„scheint“ wäre in diesem Zusammenhang ja fast genauso verfänglich] so und so.
Lesegeschichten sind einfach sehr, sehr, sehr verschieden und lassen oft kaum Schlüsse zu. Schlüsse lassen sie erst zu, wenn der Rezensent einerseits hinreichend sorgfältig beobachtet und zweitens nach gewissen Merkmalen schaut, die sich auch andere zu eigen machen können. Michael Gratz beteiligt sich gern an der Suche nach solchen Merkmalen und hat (jüngst z.B. bei Ames) die Subjektivität, die sich auf Lektürebeschreibung unter Nennung von Lesekriterien stützt, verteidigt.
Um auf Breyger zu kommen: Ich wundere mich: Eigentlich hatte Breyger wie Du vor zu schnellen Urteilen gewarnt. Er hatte doch gerade wie Du seine Lesegschichten offenlegen wollen, z.B. anhand einer Stelle bei Hefter. Mir wurde da etwas klar! (Du misstraust ihm gerade deswegen.) Und wenn er sagt: „Lest doch wie ihr wollt“, dann ist doch das ebenfalls die Zurücknahme des offziellen Urteils in dem Bewusstsein, dass der Autor eines Textes sich keine Autorität über seinen Text anmaßen sollte.
Wo Breyger apodiktischer klang, „seit der Steinzeit klar“ etc. verwies er auf Merkmale eines öffentlichen Gesprächs. Es gab offenbar Fragen an seinen Text, die er lange nicht mehr gehört hatte (z.B. seit seiner Schulzeit) auf die seine Texte deswegen keine Rücksicht nahmen. (Wie ich mal etwas merkwürdig berührt war, als ein Beitrittskandidat zu dem Literaturverein, in dem ich damals noch Mitglied war, von Altmitgliedern scharf um Rechtfertigungen angegangen wurde, warum seine Texte weder Metrum noch Reim trügen. (Stichwort: Unverbindlichkeit, das hatte ich wiederum lange nicht gehört und hab dem jungen Autoren ausgeholfen.)
Vielleicht ist es eher das Multiperspektivische, dass Breygers Texte (wie Hefters) so merkwürdig macht. Er hatte ja spätestens in seinem Studium ständig Leute mit verschiedenen Ansichten über Literatur, verschiedenen Herkünften etc. in seiner Umgebung. Er ist vielleicht mehr als andere daran gewöhnt, dass Proklamationen bestimmter Lektüreerfahrungen oft ein Prozess gemeinsamen Forschens an einem Text vorausgeht. (Warsen schreibt für mich, als wäre es bei ihr nicht anders). Das hat nicht jene Begrenzungen, die Du in Bezug auf Juryentscheidungen knapp und plastisch schilderst. Der Unterschied: In diesen gesprächszusammenhängen gibt es keine faulen Kompromisse, weil eine gemeinsame Entscheidung gar nicht ansteht.
Breyger ist vielleicht auch ein Schlitzohr, ich wills nicht bestreiten, er beweist es in seinen Texten, ob seine Gedichte „letztlich“ interessantere Lektüren ermöglichten, wenn sie verbindlicher wären, darüber sei hier ausdrücklich nicht geredet. (Ich bin froh zu wissen, welche Leser ich um Hilfe bitten müsste, wenn ichs allein mit Hilfe der öffentlichen Breygerphillologie und dem Buch nicht klären könnte.) Nur so viel: Wenn „Raumschiff“ der einsame Tisch sein sollte, dann passt Breyger nicht in Dein Bild. Schade, dass Dein schönes Fazit „Wenn es die Fähigkeit zur prinzipiellen Offenheit gäbe (und ich weiß, die gibt es), gepaart mit der Eigenschaft, am Tisch zu bleiben, wenn es ernst wird, dann wäre auch eine andere Kritik möglich, denn dann wäre ein Fehler kein zu proklamierender Makel, sondern die Chance zu einer gemeinsamen Annäherung an „die Wahrheit“ (die auch der Diskurs an sich sein kann, das Berichten der Perspektive).“ durch dieses unpassende Beispiel etwas an Glaubwürdigkeit verliert.
PS: Michael Gratz bespricht immer wieder mal selbst Dichter. Dazu gehören ebenso Barockdichter, avancierte (Papenfuß, Lange oder Genschel), genau wie vergleichsweise gemäßigte (Braun-Biermann- und letzte DDR Generation) selbst Nazibarden (und andere. Ich schrieb die hin, die mir sofort einfallen.) Möchtest Du diese proofs mal lesen?
Von Rudolph und Lange hab ich auch schon Kritisches gelesen. Vielleicht hindert bei Manchem auch der zu akribische Anspruch vor zu vielen solcher Arbeiten? Duraj hat z.B. auf FB wohl wenig Angst um Likeverluste. Deinen plausiblen Verdacht hege ich allerdings manchmal ebenfalls bei anderen Leuten. „Man wird sterblich.“ davor haben Leute Angst, die dennoch nicht unsterblich sind.
PPS: Stolterfoths Diktum verwaltet einen veralteten Verstehensbegriff: Welches Diktum? Das vom Teufel? Der das Verstehen „gesehen“ hat? Welchen Verstehensbegriff? Kann man es so genau sagen? Inwiefern? Waren nicht eher in die Feststellungen, wie der Dichter es verstanden haben muss, recht rustikale Verstehensweisen involviert? Vielleicht verwaltet das Diktum nichts sondern war mehr Rock'n Roll? Ich habe Frage, besonders weil Ulfs Reisebeschreibungen durch den von mir geschätzen Wittgenstein mir einsichtiger sind.
Mir gefällt Dein Ton ja inzwischen. Habe aber doch noch einige Anmerkungen. Der Fabrikarbeiter mag ein schöner Prototyp des nicht Vorgebildeten sein. (Aber stimmt das? In der Schule war er und Freizeit hat er auch.) Aber dennoch, auch Angestellte kann man hinzufügen: Ich kenne eine Briefzustellerin, die liest Miron Białoszewski und Titus Meyer, eine Rechtsanwaltsfachangestellte, die liest Lothar Klünner. Und wieso nur so schauen: Ich finde, ein Betriebswirtschaftsstudent, der Stoltherfoht liest oder ein quer eingestiegener Informatiker, der Monika Rinck schätzt, gehören jetzt, wo jeder Zweite Abitur macht, ebenso dazu. Und es gibt auch Leute, die Schwierigkeiten mit Arbeitengehen haben, weil sie z.B. psychisch krank sind, und stattdessen z.B. Johanna Schwedes lesen. So viel um Dein Tableau an lesenden Nichtschreibern zu vervollständigen.
Merkwürdig scheint mir, dass „Lyrikpolizei“ hier in einem Atemzug mit Tristan und mit Lyrikzeitung steht. Tristan und die Lyrikzeitung verfolgen ausweislich Tristans Text sicher andere Ziele und haben andere diskursive Arbeitsweisen. So weit es sich um die von Dir erwähnte Lyrikzeitung handelt, werden da doch Regionalzeitungsautoren dann mit scharfer Kritik bedacht, wenn sie in der von Dir angegriffenen Art auf herkömmlicher Weise generell urteilen wollen und z.B. sich dadurch anmaßen, dass sie DAFÜR wenig Kompetenz besitzen. Da sind Deine Anliegen denen der Lyrikzeitung sehr ähnlich.
Ich denke, unterschiedlicher Sicht könnte man sein in der Frage, ob die vollständige Subjektivität des öffentlichen Kritikers das Allheilmittel gegen die Probleme der Kritik sein könnte. Im Moment habe ich da eher eine andere Diagnose. Ich beobachte eher, dass sich Kritiker immer mehr von den Rechten einverleiben, die früher Dichtern zugestanden wurden. (Danke für die schöne Anekdote von der Messe!) Dazu gehört eben auch jenes, nicht mehr rechtfertigen zu müssen, was sie tun, sondern es ihrer Inspiration anheimzugeben. Da die bekannten Kritiker (anders als viele Blogger) in einem Medium arbeiten, dass gewisse Relevanzansprüche behauptet, in eine Breite wirken will etc. sehen sie sich oft bemüßigt, nicht nur ihre Lesegeschichten zu erzählen (die sie oft nur luschig anskizzieren, dass sie kaum nachvollziehbar werden, es sei denn, man teilt zufällig dieselben Lesegewissheiten). Sie behaupten zudem, ihre eigene Lesart wäre außer für sie noch für jemanden relevant. Bzw. noch schlimmer: Wenn sie glückt oder scheitert heischen sie mit rethorischen Manipulationen darum, dass der Leser nicht mit der Schulter über diesen mehrv oder minder merkwürdigen Leser zuckt, sondern dies im Guten oder Schlechten dann doch für eine irgendwie objektive Wirkung des Textes halten. Sonst müsste man doch Sätze wie: „Das Interessiert mich nicht“ öfter von Rezensenten lesen. Meist steht da aber doch: x [Name des Textes oder gar Autors!] ist [„scheint“ wäre in diesem Zusammenhang ja fast genauso verfänglich] so und so.
Lesegeschichten sind einfach sehr, sehr, sehr verschieden und lassen oft kaum Schlüsse zu. Schlüsse lassen sie erst zu, wenn der Rezensent einerseits hinreichend sorgfältig beobachtet und zweitens nach gewissen Merkmalen schaut, die sich auch andere zu eigen machen können. Michael Gratz beteiligt sich gern an der Suche nach solchen Merkmalen und hat (jüngst z.B. bei Ames) die Subjektivität, die sich auf Lektürebeschreibung unter Nennung von Lesekriterien stützt, verteidigt.
Um auf Breyger zu kommen: Ich wundere mich: Eigentlich hatte Breyger wie Du vor zu schnellen Urteilen gewarnt. Er hatte doch gerade wie Du seine Lesegschichten offenlegen wollen, z.B. anhand einer Stelle bei Hefter. Mir wurde da etwas klar! (Du misstraust ihm gerade deswegen.) Und wenn er sagt: „Lest doch wie ihr wollt“, dann ist doch das ebenfalls die Zurücknahme des offziellen Urteils in dem Bewusstsein, dass der Autor eines Textes sich keine Autorität über seinen Text anmaßen sollte.
Wo Breyger apodiktischer klang, „seit der Steinzeit klar“ etc. verwies er auf Merkmale eines öffentlichen Gesprächs. Es gab offenbar Fragen an seinen Text, die er lange nicht mehr gehört hatte (z.B. seit seiner Schulzeit) auf die seine Texte deswegen keine Rücksicht nahmen. (Wie ich mal etwas merkwürdig berührt war, als ein Beitrittskandidat zu dem Literaturverein, in dem ich damals noch Mitglied war, von Altmitgliedern scharf um Rechtfertigungen angegangen wurde, warum seine Texte weder Metrum noch Reim trügen. (Stichwort: Unverbindlichkeit, das hatte ich wiederum lange nicht gehört und hab dem jungen Autoren ausgeholfen.)
Vielleicht ist es eher das Multiperspektivische, dass Breygers Texte (wie Hefters) so merkwürdig macht. Er hatte ja spätestens in seinem Studium ständig Leute mit verschiedenen Ansichten über Literatur, verschiedenen Herkünften etc. in seiner Umgebung. Er ist vielleicht mehr als andere daran gewöhnt, dass Proklamationen bestimmter Lektüreerfahrungen oft ein Prozess gemeinsamen Forschens an einem Text vorausgeht. (Warsen schreibt für mich, als wäre es bei ihr nicht anders). Das hat nicht jene Begrenzungen, die Du in Bezug auf Juryentscheidungen knapp und plastisch schilderst. Der Unterschied: In diesen gesprächszusammenhängen gibt es keine faulen Kompromisse, weil eine gemeinsame Entscheidung gar nicht ansteht.
Breyger ist vielleicht auch ein Schlitzohr, ich wills nicht bestreiten, er beweist es in seinen Texten, ob seine Gedichte „letztlich“ interessantere Lektüren ermöglichten, wenn sie verbindlicher wären, darüber sei hier ausdrücklich nicht geredet. (Ich bin froh zu wissen, welche Leser ich um Hilfe bitten müsste, wenn ichs allein mit Hilfe der öffentlichen Breygerphillologie und dem Buch nicht klären könnte.) Nur so viel: Wenn „Raumschiff“ der einsame Tisch sein sollte, dann passt Breyger nicht in Dein Bild. Schade, dass Dein schönes Fazit „Wenn es die Fähigkeit zur prinzipiellen Offenheit gäbe (und ich weiß, die gibt es), gepaart mit der Eigenschaft, am Tisch zu bleiben, wenn es ernst wird, dann wäre auch eine andere Kritik möglich, denn dann wäre ein Fehler kein zu proklamierender Makel, sondern die Chance zu einer gemeinsamen Annäherung an „die Wahrheit“ (die auch der Diskurs an sich sein kann, das Berichten der Perspektive).“ durch dieses unpassende Beispiel etwas an Glaubwürdigkeit verliert.
PS: Michael Gratz bespricht immer wieder mal selbst Dichter. Dazu gehören ebenso Barockdichter, avancierte (Papenfuß, Lange oder Genschel), genau wie vergleichsweise gemäßigte (Braun-Biermann- und letzte DDR Generation) selbst Nazibarden (und andere. Ich schrieb die hin, die mir sofort einfallen.) Möchtest Du diese proofs mal lesen?
Von Rudolph und Lange hab ich auch schon Kritisches gelesen. Vielleicht hindert bei Manchem auch der zu akribische Anspruch vor zu vielen solcher Arbeiten? Duraj hat z.B. auf FB wohl wenig Angst um Likeverluste. Deinen plausiblen Verdacht hege ich allerdings manchmal ebenfalls bei anderen Leuten. „Man wird sterblich.“ davor haben Leute Angst, die dennoch nicht unsterblich sind.
PPS: Stolterfoths Diktum verwaltet einen veralteten Verstehensbegriff: Welches Diktum? Das vom Teufel? Der das Verstehen „gesehen“ hat? Welchen Verstehensbegriff? Kann man es so genau sagen? Inwiefern? Waren nicht eher in die Feststellungen, wie der Dichter es verstanden haben muss, recht rustikale Verstehensweisen involviert? Vielleicht verwaltet das Diktum nichts sondern war mehr Rock'n Roll? Ich habe Frage, besonders weil Ulfs Reisebeschreibungen durch den von mir geschätzen Wittgenstein mir einsichtiger sind.