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Frank Milautzcki,

Bertram, ich muß noch einkaufen, habe aber während einem Tee in der Sonne eine schöne Idee gehabt, wie ich dir antworten könnte und post das, bevor ich verschwinde.

Das Video zu deinem Link macht Spaß. Wenn ich überlege was da passiert, sieht man den Versuch mit einem neuen Verfahren eine alte Art von Musik zu machen, etwas, das als Musik erkannt wird. Und tatsächlich deckt das viele Momente der neuen Lyrik ab, man versucht mit frischen Vorgehensweisen, bisher unbekannten Nutzmustern, Text zu erzeugen und viel von der Begeisterung, die am Resultat entsteht, stammt aus der Be-Wunderung des Konzepts. Zu diesem ganzen Komplex neuer Erzeugungsverfahren und wie das mit Kryptizität und Tiefe zusammengeht, lese bitte meinen Essay „Karten“ in der Spritz (Dez. 2013), dort ist das alles sehr ausführlich dargelegt (immerhin zehn Seiten).

 

Da du mich ja ständig in die unmoderne Ecke jonglieren möchtest, hier ein kleiner Schwank aus meiner Jugend: einer der ersten Lyrikbände, die ich je besaß, war ein Luchterhand-Taschenbuch, der „Tod durch Musen“ von Friederike Mayröcker. Ähnlich wie Oskar Pastior für Ulf Stolterfoht, war der Tod durch Musen ein Initialerlebnis – ich kann etwas lesen und verstehe es nicht und es gefällt und fasziniert mich trotzdem. Fast zeitgleich verlor ich mich in die Hörwelt der „Lamb lies down on broadway“, ein Doppelalbum der frühen Genesis noch mit Peter Gabriel, erschienen im November 1974. Auch hier verstand ich die Handlung nicht, aber sie faszinierte mich.

 

Und hieraus klicke ich dir ein Hörbeispiel an: https://www.youtube.com/watch?v=Lmeyb8bX4Uo

Es ist eine neunminütige improvisierte Life-Version des ansonsten Fünfminüters „The Waiting Room“, gespielt im Empire Theatre am 19.April 1975 in Liverpool. Und zwar auf recht konventionellem Instrumentarium: die Geräusche, die man hört, entstammen handbedienten Instrumenten. Um 4:30 schleichen sich die Drums mit einem Rhythmus ein und der Bass legt eine wiederkehrende Basis, um 6:00 findet die Orgel die eigentlich zugrundliegenden Harmonien, während Peter Gabriel am Mikro beginnt ein verrückter Koyote zu sein. Das alles kocht, sprudelt, flimmert, glitzert, balgt und spritzt herum. Um 7:55 ruft eine Trillerpfeife zur Ordnung und zur Ruhe, die sich ab 8:55 tatsächlich einstellt.

 

Eine mehr durchstrukturierte Version findet sich hier: https://www.youtube.com/watch?v=0uxJFNfn6pA

Was ich hier höre ist Musik im allerfeinsten Sinne, die krummen und schiefen Elemente sind nicht Selbstzweck sondern bewußt eingesetzte Mittel, die am Ende zeigen: hey, ich kriege auch hiermit Spannung und Dynamik erzeugt, das ist nicht wirklich beliebig, sondern es gibt überdachende Struktur und Leben darin und darunter. Um 4:50 herum wechselt der Rhythmus in dem er dem treibenden Bass plötzlich das epische nimmt und zur Maschine macht, Peter Gabriel tanzt in seinem Rabenmannkostüm im Hintergrund, Phil Collins an den Drums wechselt von Achteln auf Viertel und zurück. Es klingt aus und weg.

 

Dem ganzen liegt ein Text zugrunde:

 

"The Waiting Room"

He panics, feels around for a stone and hurls it at the brightest point.
The sound of breaking glass echoes around the cave.
As his vision is restored he catches sight of two golden gloves
about one foot in diameter hovering away down the tunnel.
When they disappear a resounding crack sears across the roof, and it collapses all around him.
Our hero is trapped once again.

"This is it" he thinks, failing to move any of the fallen rocks

 

Man hört diese Handlung, die surreal genug ist. Das war Rockmusik anno 1974 (jaja, alter Kram) ohne jene elektronischen Hilfsmittel, die heute so vieles erleichtern. Und bitte Bertram, sag nicht daß das alter Käse ist. Eine ähnlich gekonnte Umsetzung von zeitgenössischen Ideen und Realitäten würde ich mir in der Lyrik von heute wünschen – und sehe da ganz ganz wenig Potential. Es gibt gute Ansätze, aber längst keine Könnerschaft. Die meisten halten sich immer noch damit auf, erstmal ihre Instrumente zu lernen, um so was spielen zu können. Wenn man beim Bild bleiben will. Viele sind begeistert, was für Töne da rauskommen und halten diese Töne dann schon für ihr Magnum Opus. Oh, da läßt sich Text gewinnen, fein fein – und bislang ist noch keiner auf diese Idee gekommen, noch feiner. Alles gut, aber das darfs dann nicht sein.
Der Aufwand an Könnerschaft hinter den Drohnen ist enorm!

 

Aus dem Essay „Karten“:
„Soweit die Welt mir vertraut ist, hält sie heute andere und komplexere Problemstellungen parat als zu Zeiten des Neopathetischen Cabarets. Wenn sich das „alles schon mal dagewesen“ auf Techniken und Formen bezieht, also auf Erscheinungstypen der Lyrik, dann kann man sicher eine Menge abhaken. Bezieht man die Frage aber auf den möglichen Inhalt von Lyrik, muß man zugeben, daß wir „in einer anderen Welt“ leben, die nicht nur ihre eigene Formen, sondern auch ihre eigenen Inhalte hat. Wie ein heute komponierter Song mit den gleichen Akkordfolgen, die Bob Dylan schon benutzt hat, Inhalte trägt, die zeitgemäß sind, könnte ein Gedicht à la Morgenstern einfach, gut und zeitgemäß sein. Es ist dann die Morgensternsche Art zu reisen – durch die heutige Zeit. Wie es auch Sinn macht Dada zeitgemäß zu wiederholen. Es ist dann die dadaistische Art zu zeisen – mit den Materialien der Zeit. Alle Parolen für oder wider die eine oder andere Art „Lyrik anzubieten“ empfinde ich als unzeitgemäß und dienen meistens nur der Selbstlegitimation und der Positionierung von Pseudo-Modernität, die sich über Abgrenzung aufstellt. Ausdrucksverbote und Formgebote sind kontraproduktiv und haben in einer freien Welt nichts verloren. Wirklich angesagt ist in diesem Sinne Öffnung statt gesteuerte Kanalisierung, Auflassenkönnen statt Gymnastik in Handschellen. Inhalt steuert Form von alleine in neue, angemessene Bereiche hinein. Wenn es überhaupt ein Maß für Modernität gibt, dann ist es dieses: auf welche Weise hat Inhalt in Form gefunden. Darüber wäre zu reflektieren. Was veranstaltet der moderne Lyriker in sich, um zu einem Gedicht zu kommen, das als Form anders rüberkommt als Bisheriges und ist das dann noch Kunst oder im Abseits erzeugte Kuriosität?“

Man möge die Rezension von Helmut Salzinger vom 10.März 1967 in der ZEIT über Mayröckers Tod durch Musen lesen und feststellen – die Positionen und Konflikte sind nicht neu und lassen sich in den schon damals bekundeten Statements wiederfinden. So meinte Eugen Gomringer, daß es sich bei Mayröckers Poesie um  „Poesie handelt, in welcher das Herstellen von Texten das Anwenden von Sprache überwiegt“. Eine brauchbare Analyse finde ich, die, richtig verstanden auch schon das wirklich Neue auf dem Teller hat: Wirklich neue Poesie ist heute eine Poesie, in der das Anwenden von Sprache hergestellt wird, man muß sagen: wieder hergestellt, also die Dekonstruktion überwunden und ein neues Sagen geübt wird. Viele sind noch auf der reinen Herstellerschiene – wer ein Gedicht ordentlich abhandeln will, betrachtet es „hergestellt“. Vor sich hin, auf die Drehplatte.

Bertram, die ganzen Einlassungen, was modern ist und neu und was hunkepus, finde ich lächerlich, dieses ganze Streben nach vorne und verweisen nach hinten und bejammern, daß man nicht verstanden wird etc. Von der Musik kann man lernen, daß man sie macht, wie man sie gerne selber hört und sich wohlfühlt damit, auch wenn sie mal garstig ist. Und wenn man da drin ist, gefällts auch anderen. Wenn man nicht drin ist, sondern drum rum stolpert, dann erreicht das auch niemand.

Also schiebe mir nicht immer Zuetikettierungen rüber, welche heimlichen Altlasten da aus mir sprächen. Das ist nämlich wirklich alt und Schnee von gestern. Das machen nur Leute, die sich nicht auf Augenhöhe unterhalten wollen, bzw. die ihre Perspektive privilegieren.