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Bertram Reinecke,

Ich habe nicht das Gefühl, dass wir noch wirklich über Breygers Gedichte reden. Dass Du diese Texte massiv unter Verdacht hast, war mir schon aufgefallen. Aber statt Unterscheidungen aufzunehmen, um sich den Texten gemeinsam zu nähern, streust Du lieber neue Verdächtigungen und führst Deinen Privatfeldzug gegen „Unverständlichkeit“ und dergleichen. Wir sollten wohl aufhören miteinander zu reden
Was haben Breygers Texte zum Beispiel mit dem von Dir diagnostizierten Problematik hoher Geschwindigkeit zu tun, die jene Wahrnehmungen behindert, die man auf langsamen Fahren macht? Außer das seine Texte wie auch viele der klassischen Tradition halt recht „dicht“ sind. Sind Lohenstein oder Hofmannsthal nicht auch Düsenjets? Wie diagnostiziert man es an Breygers Texten? (Ich hatte nur Dein Verkehrsmittelbild aufgenommen, die Tempofrage kommt erst von Dir.)
Ich finde es äußerst unschön von Dir, erst im Express einen ziemlich scharfen Angriff auf Breyger zu führen und dann die Nase zu rümpfen: „Ich fand Yevgeniys Einlassungen im express! nicht immer ganz offen, sondern von vorneherein angesiedelt, was wahrscheinlich notwendig ist, es geht ja auch ums Wappnen.“ Wenn es Merkmale eines Wappnens gäbe, könnte Dein Angriff auf ihn dafür eine Ursache sein? Um ein winziges aber besonders krasses Beispiel aus Deiner Expresssuada zu nennen: Warum tust Du so, als wäre das Konzept der „zärtlichen Freude“ eine besondere Merkwürdigkeit (Idosynkrasie?) von Breyger, wo es das Konzept seit dreihundert Jahren im Deutschen gibt? (u.A. bei Ganghofer, Sulzer, Trautwein usw.)
Ich habe nun nochmals alle Äußerungen Breygers im Express gelesen und finde: So wie er sollte man über Gedichte reden. Es gab eben von vornherein Missverständnisse, das ist nicht seine Schuld, wenns jemands Schuld sein soll (Muss doch nicht sein!). Besonders schön finde ich, dass er sich nicht mit Meinungsfragen aus dem Fenster lehnt. Ich finde, was er zu sagen hat, schildert er klar (Es ließe sich so auch meist über meine und andere Texte sagen) und enthält sich aller Angriffe und dergleichen, wenn man von seinem akribischen Bestehen auf Rechtschreibung absieht. Aber über Rechtschreibung redet ja nicht nur er dort. Und ich kann schon verstehen, dass ein Poet, dem man in verschiedenen Formulierungen mal direkt, mal subtiler Beliebigkeit vorwirft, und der manchmal agrammatisch ist, auf seiner Genauigkeit besteht, um dem Missverständnis vorzubauen, es handele sich im Einzelnen um Flüchtigkeitsfehler oder gar Unwissenheit.
Statt die ungewohnten Distinktionen meines letzten Posts aufzunehmen (dazu hattest Du gesagt, wollest Du die Antwortzeit gebrauchen) pickst Du Dir aus einem lange lange zurückliegenden Post einen schillernden Begriff um erneut Breygers Texte zu verdächtigen. (Wenn Du nicht mit mir redest, kann ich aufhören zu reden.): Der Begriff war „gedichthaftes Meinen“: Ich hatte etwa knapp Folgendes andeuten wollen: Wer in Gedichten einen Begriff wie „Nacht“ „Mond“ „Horizont“ oder „Skyline“ liest, ist oft gehalten, sich eine Nacht, einen Mond etc. besonders zu vergegenwärtigen, in sich schwingen zu lassen, besonders intensiv vorzustellen, sich hineinzufühlen, oder ähnliches damit die Lektüre des Gedichtes gelingt. Das gilt für Gedichte von Uhland genauso, wie für solche von Krolow oder Küchenmeister. Auch bei Breyger kommt man mit solchen Lesegewohnheiten teils ein Stück voran, sehr oft durchkreuzt er sie aber auch. Er benutzt z.B. das Wort Skyline männlich. Da ist sofort diese gedichthafte Emphase durchbrochen. Das Wort wird eher herbeizitiert. (Sollte so etwas wirklich nur meine Linse sehen?) Solche Schachzüge sind unübersehbar häufig und sehr leicht zu verstehen. Auch was den Mond betrifft, braucht man kaum mehr als seinen Alltagsverstand: Wenn einer im Alltag sagt „Ich liebe den Mond“ und wir haben keinen Grund ihm zu misstrauen, dann können wir schließen: Aha, er liebt den Mond. Wenn einer sagt: „Ich liebe nur den Mond“ dann wissen wir im Alltag: Es stimmt etwas nicht, niemand liebt nur das und sonst nichts. Wenn er dann noch fortsetzt „Den Mond, den Mond, den Mond“ dann wissen wir: Was immer er uns sagen wollte: Das ist keine Weise seine Liebe zum Mond auszudrücken, sondern es hat etwas mit Ironie zu tun, oder der Sprecher will uns verunsichern oder er ist sonst irgendwie merkwürdig usw. Ob er den Mond liebt, muss offenbleiben. So hatte ich es gemeint. Ich meine schon: Wenn man genau hinschaut, dann sieht man es leicht, vielleicht hat Elke zufällig, hast Du zufällig kurz nicht richtig hingeschaut und es ist tatsächlich nicht linsenabhängig, sondern einfach ein kleiner Irrtum aus dem nichts weiter folgt. (Es wäre doch recht unfair, diesen Lapsus Breygers „Unverständlichkeit“ in die Schuhe schieben zu wollen.) Mache mir doch daraus nicht gleich den Vorwurf einer Majästetsbeleidigung, dass ich drauf hinweise!
Ansonsten ist Dein „meinen“ (von „meins“) eine Hypostasierung, ein sprachlicher Mythos, der nur aufgeht, wenn man im Hintergrund ein gespensthaftes Ding wie die Meinung vergegenständlicht. Sage einen Satz! Und nun sage diesen Satz und meine ihn auch! Wir sind uns doch einig, dass das keinen Unterschied macht. Wenn man es sagt/schreibt hat, ist sofort das ganze Bedeutungsgeschehen da (egal welche gespensthaften Vorgänge im Kopf ablaufen). Nur wenn man sich die Sprache so gespensthaft von Meinungen begleitet vorstellt, die das Eigentlche wären (eine Art „Subtext“), dann ist Deine Rede plausibel. „Meinen“ ist aber ein Tätigkeitswort um sprachliche Akte aufeinander zu beziehen und wir benötigen dazu keinen Zustand des „Habens von Meinungen“. Man benutzt es dafür, um Missverständnisse zu kären: „Nein ich meinte dies damit“ oder sich aufeinander zu beziehen: „Ich schließe mich der Meinung meines Vorredners an.“ Eine Meinung, die irgendetwas anderes sagt, als die Worte, die man eben sagt, kommt dabei nie zum Vorschein: Was hat man denn, wenn man sagt: „Ich meinte das und das.“ Doch wieder nur eine sprachliche Äußerung. Und wenn man sagt: „Du hast zwar das gesagt, ich glaube aber nicht, dass das Deine ehrliche Meinung ist“ kann man ebensogut sagen: „Du solltest hier das nicht sagen“.
Es gibt damit einen sehr guten Grund gerade nicht auf einem „Meinen“ zu bestehen. (Anders als bei Texten, die verborgene göttliche Botschaften enthalten.) Eine Diskussion, wie die von Express sollte auf Augenhöhe stattfinden. Normaler Weise kann ein Interpret dort immer sagen: „Der Dichter meinte x“ Darauf kann der Dichter aber nie antworten „Nein, ich meinte y“ Entweder würde er sich damit ein Privileg einräumen oder aber man würde ihm sagen: „Und warum steht das nicht im Text“ und man hätte ja immer recht. Deswegen sollte man genau wie Breyger sprechen: „Im Text steht xy“. Alles, was man darüber hinaus vom Dichter verlangt wäre ein ursopatorisches Deuten. Und genauso ist es auch mit dem Subtext. Ich spitze einmal zu. Zunächst liest man den Text und stellt sich dumm. Dann zeigt man seine Klugheit und sagt, was in dem Text „eigentlich“ steht. Das ist ein Einfallstor, Kontexte einzubringen (was man immer muss). Nur bringt man diese Kontexte immer ein, als wären es dann notwendige Kontexte, die sich zwingend aus dem Text ergeben, dabei kann jeder Kontext auch arbiträr sein. Deswegen kann ich die Rückfrage verstehen: „Woran sieht man es am Text, dass da noch mehr anwesend ist?“ Der Subtext muss also schon an der Textoberfläche auffindbar sein, wo er nicht arbriträrer Kontext sein will. (Interessanter Weise ergibt sich im Express um Tim Holland sofort wieder die gleiche Frage.) Breyger baut sich nicht auf, sondern er zieht sich bescheiden auf dasjenige zurück, was man fairerweise gemeinsam auf Augenhöhe klären kann und sonst nichts.
Du fragst: „Wozu braucht man sonst sie Pesonanima“? Wenn Du sie so gebrauchst, sollte man sie gar nicht gebrauchen. Es sieht hier so aus, als bräuchtest Du sie um hinter einem Kleid, das weniger wichtig ist, das Du sozusagen durchstreichst, ein Eigentliches zu finden auf das nur der Deuter Zugriff hat. (Kann es auch sein, dass auch Dich manchmal tiefschürfende begriffliche Konzepte behindern, die Welt zu sehen?) Ist es im Kontext Deiner Breygerkritik nicht pikant, dass Du als dieses Eigentliche etwas ausmachen willst, das aus „Maske“ und „Wind“ zusammengesetzt ist?
Einerseits wirfst Du Breyger vor zu viel eigenen Sprachgebrauch zu haben („Raffen“, Ideosynkrasien?) zum anderen polemisierst Du in diesem Kontext gleichzeitig gegen Konzeptkunst. Das finde ich nicht fair. Je strenger die Konzeptkunst wäre, desto klarer wäre die doch jenseits persönlichen Meinens. (Das genau kritisierst Du doch hier an ihr!)
Ich mag auch nicht von „echtem“ Verstehen im Gegensatz zu unechtem sprechen. Wäre das nicht ganz schön willkürlich, wenn ich meine bevorzugten Leseoperationen verbindlich machen möchte für alle? Auch Leseweisen veralten. Wir können heute dafür abstrakt begrifflich Gründe angeben, warum Schillers „Glocke“ mal ein geschätzter Text war, wir können ihn aber, und wenn wir uns auf den Kopf und wieder gerade stellen nicht mehr ganz unmittelbar als berückenden phantastischen Text, in dem wir ausgedrückt finden, was man sagen sollte, indem wir jedes Wort an seinem Platz empfinden ... usw. Wir können es nicht! (Schon die Schlegels konnten nicht.) Die Leute, die es konnten, mögen sich in der Sache geirrt haben, aber es wäre naseweis zu behaupten, sie hätten falsch gelesen.
Aber Du setzt alle in Verdacht, die Breyger anders lesen als Du. Für mich haben manche Texte den intimen Begegnungscharakter, den Du von Texten forderst (Offenbar kommt es hier und da auch für Elke zu Stande.) . Ich würde es dennoch nicht zu einer Forderung machen, denen jedes Gedicht standhalten sollte. (Es gibt auch andere schöne Dinge, die Texte ermöglichen können.) Mache den Text nicht dafür haftbar, dass er Deiner Leseweise nicht entgegen kommt. Ich kann die Einsicht, das Leseweisen sehr verschieden ausfallen können, nicht überkantidelt finden. Dazu habe ich zu viel Erfahrung mit auch meinen eigenen Lesern.
Unter der Debatte um das Verstehen verstehe ich etwas anderes: Verstehen heißt nicht: Sagen können was man Verstanden hat. Das wäre Interpretation, Kontrollverstehen. Man versteht viel mehr, wenn man nicht in dem Modus versteht, immer dahin zu kommen „Der Text heißt dies und dies“ Echtes Verstehen: Seinen Partner versteht nicht der am Besten, der das elaborierteste Set von (wahren? Psychoanalytischen?) Aussagen über ihn formulieren kann, sondern der, der jederzeit adäquat auf ihn reagieren kann usw. (Da sind Aussagen manchmal eine Hilfe, manchmal stehen sie im Wege.)
„Gibt es einen benennbaren Grund, eine ursächliche Notwendigkeit Text sperrig anzulegen?“ Du weißt doch, dass Umarmungen erdrückend sein können. Erzähle mir doch nicht, dass Du nicht schon gesehen hast, wie Texte missbraucht und instrumentalisiert wurden. Wenn Dirs noch nicht passiert ist (mir schon) dann lese das bei Günther Eich nach. Dein Gesprächsangebot wird mir vergellt: Du fragst nicht: Warum sollte man eine Umarmung / einen Text sperrig anlegen wollen“ Du fragst nach einer „Notwenigkeit“, die dann gleich noch „ursächlich“ sein soll. So ist sichergestellt, dass ich nie zu einer befriedigenden Antwort käme.
Ich finde den Begriff „Umarmung“ treffend, weil Umarmungen deswegen bedeutungsvoll sind, weil sie etwas einerseits Intimes sind (einen Akt der Zuneigung) und andererseits etwas sehr konventionelles bedeuten. (Ein Begrüßungsritual.)
Innere Notwendigkeit: Du hattest im Genesis-Post gefordert, dass die Textteile bei Breyger besser zusammenarbeiten, hattest aber keinen Vorschlag gemacht, wie bzw. keinen Fehler aufgezeigt. Du hattest auf Genesis verwiesen und betont, wie gut Text, Musik und Bühnenshow zusammenarbeiten. Menschen meinen oft, man würde einem Text leicht abspühren, ob die Teile des Werkes gut oder weniger gut zusammenarbeiten. Und kleiden dies Lesegefühl, das sie nicht meinen rechtfertigen zu müssen, in den Begriff „innere Notwendigkeit“. So hatte ich Dich verstanden. Dass das flasch gewesen sein soll, wundert mich, denn Dein Post von Sonntag legt mir an keiner Stelle wirklich nahe, Deine Haltung anders zu sehen.
Zum nächsten Problem: Man kann anders als Du behauptest etwas verpassen. Man kann etwa die Mondstelle verpassen. (Du versuchst ja, daraus, dass Dus verpasstest, ein Argument zu schmieden wider mich.) Du wirst das zumindest zugeben müssen, so lange Du nicht etwas behaupten willst wie: „Alles was ich sehe ist sichtbar, darüber hinaus gibt es aber nichts“ Ob es ein Neues oder bloß Beliebigkeit ist (gar ein prinzipiell Neues), was Du verpasst, darüber sind die Meinungen eben geteilt, so lange sich das, um es neutral zu sagen, ja irgendwie abstoßend wirkende andere Sprechen entfaltet. (Das Du Prinzipiell Neues nicht siehst, zugestanden, das hast Du ja mit anderen Worten bereits dargetan.) Ich habe gestaunt, wie gut ich beim wieder Nachlesen mit dem Breygerschen Tändeln zwischen Sageweisen schon klarkomme. Früher war ich da schwerfälliger, jetzt gehe ich die Lastwechsel recht sicher mit und „verhaue“ mich lesend seltener. Man könnte sich daran gewöhnen.
Ich bin mit Dir sogar einer Meinung, dass ich eine sozusagen romantizistische Avantgarde, eine die sich aus einer subjektivistischen Entgrenzung von Sprache speist, skeptisch beurteile. Ich denke aber, damit ist wenig über Breyger gesagt, der mir viel weniger indeosynkratisch vorkommt. Da fühle ich mich weit besser geleitet.
Ich halte es anders als Du auch für einen Irrweg, die Poesie aus dem Verhältnis der Dinge zueinander zu bestimmen. Ich halte die Sprache für ein Mittel, die Dinge überhaupt erst (als Dinge und Verhältnisse) zu sehen.
Auch Konzeptkunst hat Kontext. Natur können wir nicht erkennen, wo wir sie als gegeben, gar offenbar betrachten, sondern nur, indem wir sie in ihrer Ausformung als geworden und durch die Konventionen unseres Blickes überformt wahrnehmen. Deswegen berührt mich die Bescheidenheit der Konzeptkunst sich als gänzlich hergestellt zu präsentieren, das den Blick trainiert. Ich verstehe nicht, wie Du aus veralteter Konzeptkunst, auf die Du den Blick lenkst, dazu kommst, Konzeptkunst überhaupt anzusehen. Schaue doch neuere an. http://0x0a.li/de/text/glaube-liebe-hoffnung/
Man hat immer gemalt und poetische Geschehnisse zugelassen. In der „großen Zeit des Nichtmalens“ und der Konzeptkunst haben sich einige für Nichtmalen und Konzepte interessiert und ansonsten wurde ringsherum sehr viel gemalt, sehr viel poetisiert. Schau allein die Lesebücher dieser Zeit durch. Du willst hier ständig der Kunst eine Entwicklung unterschieben, denkst aber ich täte das. Konzeptkunst (besonders die im engen Sinne) war und ist heute etwas für wenige. Das liegt aber nicht in der Sache, sondern an Moden. Am Mokumentary-Trend sieht man, dass es potentiell auch eine Sache für viele geht. (Besonders: wo die Mittler sich nicht verweigern.) Baumann habe ich nicht gelesen. (Auch schön: https://www.youtube.com/watch?v=Z40Er_--5rQ)
Hübsch ist Deine Parade auf meine Zitate. Du weißt aber hoffentlich, dass ich niemals über den Wert und Unwert von Menschen reden würde „ist nicht wert in den Vorhof“ ? Ich denke, ich war mit meinen Zitaten näher an Dir dran, sie waren weniger aus der Hüfte geschossen? Allerdings gebe ich zu, dass der erste Teil des George-Satzes mir heute noch valide erscheint. Leider versteht man George so, als hätte er eine absolute Kunst gefordert, die sich der Wirklichkeitsaussagen enthält. Du weißt ja aus den „Nagelproben“ von mir spätestens, dass ich das für unmöglich halte, und das Georges Gedichte nicht gerade danach aussehen, als wollten sie nichts sagen, sondern sehr bestimmte, auch politische Botschaften tragen. In Deinem Zitat geht es, und diese Lesart finde ich interessanter, um ein Suchtverhalten. Die Sucht, in jedem Text eine Botschaft aufzufinden, wie das Kind sein Osterei, halte ich tatsächlich für eine Art Sucht, die in den Schulen geprägt wird. Sie schadet allerdings der Ausübung wie der Rezeption von Kunst!
Ich glaube nicht, dass Du recht hast, dass Georges Satz schon die Unterscheidung zwischen Herstellen und Anwenden spiegelt. Gomringers Unterscheidung gehört ja zum Werkzeugkasten einer Theorie, die nicht zuletzt GEGEN George antrat. Meinst Du nicht, Gomringer würde George weitgehend als angewandten Wortgebrauch betrachten, gegen den sich die konkrete Poesie deutlich abheben ließe? Irrt er sich? Irrte sich George über sich selbst? Viel eher ist es doch so: George sagt lediglich: Der entstandene Sinn ist kein Kriterium für die Beurteilung einer Kunst als Kunst, ansonsten würde er für sich in Anspruch nehmen, seine Wörter wohl angemessen/ausgewogen/artifiziell angewandt zu haben. Wenn Du George, Gomringer, mich (Stolterfoht, Breyger) hier in einen Topf packst, dann doch nur wegen unserer gemeinsamen Intuition, dass es gut sein könnte, lieber etwas länger auf den Text einer Dichtung zu schauen, wenn man etwas über Dichtung wissen will, bevor man zu anderen Fragen übergeht. Das ähnelt mir zu sehr dem Formalismusvorwurf, wie ich ihn aus dem neuen Deutschland kenne, als das ich das irgendwie ernst nehmen könnte. (Manches, was Du über Georges Weltbild andeutest, könnte natürlich trotzdem stimmen.)
Ich sehe es umgekehrt wie Du. Arge Zuspitzung: Seit 150 Jahren gibt es einen aniformalistischen Impuls der zu den Sachen selbst will und immer wieder „Tabula Rasa“ ruft. Als Gründe wählt man die, die eben da sind: Not der Arbeiterschaft, Kriegs- und Zivilisationskatastrophen, politische Missstände, Einbeziehung neuer Klassen. Auch einige konkrete Poeten haben diesen Reflex ja. Der Kunst hat es auf die Dauer wenig geholfen. Und sie ist auch nirgends angekommen, obwohl doch so viele Dichter, Philosophen und Lehrer diesen Anspruch verfochten. Was gibt es für einen Grund, das weiter als Allheilmittel zu preisen? Statt dessen geht uns die Komplexität derś Barock oder von Novalis verloren. (Selbst Brechts gegenrhytmische Technik kann man nicht mehr hören, wenn die Muster gegen die er anarbeitet, nicht mehr gegenwärtig sind.) Wie stark konnten sich Dichter darauf verlassen, welche Strophenform welche Aussagerichtung bei, sagen wir, Novalis performt. (Es ist ja nur ein Beispiel, wenn es um ausgestorbenes geht, muss man in Kauf nehmen, dass das Mittel als abgestanden gilt.) Da setzte leider selbst die Uni aus. Nur weil man die Komplexität alter Dichtung unterschätzt, fordert man von der Heutigen oft zu wenig und unterschätzt die „normalen Leser“ vergangener Zeiten. Novalis gibt eben mehr her, als selbst manche meiner akademischen Lehrer glaubten (und allemal mehr als symbolistische Nachstimmungen). Wer liest heute noch Wilhelm Arendt, Kuba oder Weirauch? Haltbarer geblieben sind allemal die Kunstfertigeren: Rilke, Brecht, Eich oder Celan. Das hat seinen Grund: Nur wenn das Gedicht viele technische Kniffe kennt, die der Leser mitvollzieht, kann es einige, der sehr hohen Ansprüche, die so viele Leser an die Leistung dieser Textform stellen, erfüllen. Anders geht es leider nicht. Selbst Dichter, die wir heute auch für ihre klare politische Haltung schätzen, wurden ihrerzeit wegen zu großer inhaltlicher Schwammigkeit angegriffen. (Etwa Heine und Tuchholski.) Das ist ein Ostinato, was man lieber wegblenden sollte.
Ich bestreite natürlich nicht, dass ein guter Text heute einfach sein kann. Es gibt geniale Würfe, ich mag z.B. „Erhabenes für Gerhard Falkner“ von Mara Genschel sehr.
Der Rest Deines Textes ist mir zu unkonkret, als das ich Stellung nehmen wollte. Ich hatte den Express eher so gesehen, dass Breyger bei einigen öffentlichen Lesern auf eine Wand aus Unverständnis traf, und ich denke nach wie vor, dass Du einfach Dein Desinteresse nicht zu seinem Problem machen willst.