Lieber Bertram, ich denke, wir wollen nicht über dieselben Dinge reden. Mein Schaumriff war angetreten auf Tristan Marquardt zu antworten und jetzt sitzen wir da und streiten uns über Breygers Gedichte, die ich nicht kenne, soweit sie mir aber im express begegnet sind, für sehr interessant halte (bitte lies dazu meinen allerersten Leser-Kommentar dortselbst), bei denen ich aber Schwierigkeiten in der Rezeption habe. Um das zu zeigen benutzte ich die Picks, die mir der express! anbot. Also: wenn wir uns ganz konkret über YB's Texte streiten wollen, bin ich der falsche – falls du das von mir erwartet hast, dann tut es mir leid, daß ich dir das nicht bieten kann.
Im Schaumriff ging es mir um das “Urteilen” über Gedichte im weitesten Sinne, weil ich das mit TMs Kritik an der Lyrikkritik zusammen bringe und stelle die Frage: wie anders als absolut individuell und persönlich kann ich ein lyrisches Werk beurteilen? Welche Kategorien und Verfahren gäbe es, welches Instrumentarium und welche Näherungsweisen wären adäquat? Da gibt es Teilantworten: es wird gesagt, daß es auf die Leseweise ankommt: “Mache den Text nicht dafür haftbar, dass er deiner Leseweise nicht entgegenkommt”, schreibst du – und Yevgeniy: “ich bin sehr froh, Elke, über deine Lesart des Käfergedichts, die der meinen entspricht. Stefans andere Lesart entspricht ebenso der meinen. Nur ungern würde ich dieser Käferkolonie eine Lesart wegnehmen.”
Wenn wir Lesart und Leseweise kurzerhand derart zusammenbringen können, daß wir darunter das Gleiche verstehen, bin ich dabei. Wenn wir anhand des express! Beispiels nach gelungener oder nicht gelungener Lyrikkritik fragen wollen, stolpere ich sofort über die Rahmengebung, die Yevgeniy setzt, worüber zu sprechen wäre und worüber nicht, die so ausfällt, daß ein Leser das als arrogant empfindet und sich daraus immer mehr Zoff entwickelt. Diese Rahmengebung: “Die Annahme, es gäbe eine sogenannte hermetische Lyrik, die nur szenelesbar oder intelektuell [sic] verklärt, sei und dem gegenüber stehe die andere 'verständliche' Lyrik, ist tatsächlich dermaßen absurd und verklärend, dass ich nicht das Gefühl habe, dafür noch argumentieren zu müssen, das wurde genügend getan.”
Der letzte Satz kann den Diskussionswilligen sagen: darüber rede ich mit euch nicht. Selbst wenn ihr wollt, ich finde das nicht des Diskutierens wert. Also wenn das euer Problem ist, dann brauchen wir hier nicht weiter reden. Ganz unparteiisch, Bertram, es gibt kaum einen schlechteren Einstieg in eine offene Diskussion, in der die Beteiligten gerade anheben ihre Rezeptionsprobleme zu artikulieren. Wenn nämlich das von dir beschriebene Sperren genau das Problem ist, und der Gegenüber sagt, darüber rede ich nicht, dann sperrt sich aus meiner Sicht der Autor und – das ist das clevere – schiebt gleichzeitig eine Absolution für private Lesarten nach, die sagt: ich bin einverstanden mit möglichen Lesarten. Das kann man auf zweierlei Weise sehen: Die bösartige Variante wäre: der Autor schützt seinen Text und will nicht rausrücken mit der richtigen Lesart – das würde derjenige denken, der davon ausgeht, es gäbe eine richtige Lesart. Die gutartige Variante wäre: der Autor verschenkt seinen Text und geht davon aus, daß der Leser auf seine Art und Weise damit etwas anfangen kann und wird.
Vielleicht gibt es noch weitere Sichtweisen, ich will hier nicht zu tief rein, weil es mir nur darauf ankommt, zu zeigen, daß es zu Yevgeniys Aussagen immer ein zunächst unentscheidbares Perspektivenpaket gibt, und zwar leserabhängig. Du betonst immer wieder meine Erwartungen an ein Gedicht, Bertram, ja, die gibt es. Und es gibt auch Erwartungen an die Auskünfte des Autors. Ich möchte zum Beispiel ungern in einem übergaren Bereich umherstochern, wie in einem Schaum, heißt das nun was, oder heißt das nichts, und jedesmal wenn ich mich bewegt habe, antwortet mir das Gedicht: falsch gelaufen, bitte zurück zum Anfang. Und dort steht der Autor und sagt mir: “es ist nicht nötig einen 'Schlüssel' zu finden”. Und dann kommst du Bertram, und verteidigst das Gedicht und sagst: lieber Leser, dein Suchen nach dem Schlüssel ist daran Schuld, daß du mit dem Gedicht nichts anzufangen weißt. Mir persönlich (FM) ist das alles vertraut und ich habe damit keine Probleme (aber darüberhinaus Kritikpunkte, was das Anlegen von Schaum angeht), aber wie soll der Betrachter etwas entschlüsseln, das nicht zu entschlüsseln ist, also Räume betreten, die offenbar beliebig sind. Ich bitte dich noch einen Moment bei der Denkstange und in der Perspektive des Normalverbrauchers zu bleiben: natürlich taucht die Frage der “Beliebigkeit” auf, sie stellt sich, wenn die Textbefragung so strapaziert wird, daß sie ganz ohne Antwort bleibt. Dann wünscht man sich Hilfe vom Autor. Vielleicht bekommt man sie – express! - aber sie wird angereichert mit dem Statement: “Der Witz ist: Diese Beschreibung von mir könnte man nun genauso gut Streichen [sic] und durch eine Gegensätzliche [sic] ersetzen.”
Ich als Normalverbraucher denke mir spätestens jetzt: hier werde ich doch irgendwie verarscht. Dem voran steht das Statement: “Dementsprechend ist es unmöglich hier etwas 'nicht zu verstehen'. Alles liegt offen da.” - Häh? Alles ist klar, nur ich bin zu blöd, spiele ich jetzt mal den unbeleckten Leser, das hilft mir aber jetzt auch nicht weiter. Könnte er nicht wenigstens ein zwei Hinweise zu seinem Schreibprozess geben, die mir zeigen, wie er drauf kommt, und die mir den Zugang vermenschlichen. Auf diese Art und Weise steht vor mir eine Wand und ich komm und komm nicht weiter, und dem Autor ist es offensichtlich egal, ob ich weiterkomme oder nicht. Unbel Eckt, so heißt der Leser, wird nun langsam Gram entwickeln oder sich enttäuscht abwenden und denken: da verschließt sich einer vor mir. Er wird in Kommentaren weiter ungeduldig Fassbares fordern, und nicht damit zurecht kommen, daß sich Yevgeniy “offen und verletzlich Alternativrealitäten” erhofft, die sich jeder selbst erzeugen kann. Unbel Eckt wird sagen: und was ist mit deiner Realität, kannst du mir etwas über die deine sagen? Kannst du mir etwas über dich mitteilen, das für mich Bedeutung annimmt, oder schlüpfst du mir weg, sobald ich mich dir nähere.
Dann wird Unbel Eckt erfahren, daß er mit völlig falschen Voraussetzungen an die Texte seines Gegenübers gegangen ist und nicht das Gedicht, sondern er selbst schuld ist, wenn es nichts wird mit der Lyrik und ihm. Armer Unbel, muß nun ohne Antwort und ohne Gedichte weiter leben.
Ein gespieltes Geschehen? Es ist ganz bestimmt im express! passiert. Ich werte da nichts. Ich stelle nur dar. Ich nehme niemanden in Schutz, greife niemanden an, obgleich ich für Verständnis für die Perspektive von Unbel Eckt werbe. Die Frage “Kann es sein, daß es für literaturtudierte Leute, den Unbel Eckt gar nicht mehr gibt?” spare ich mir, weil sie ein zusätzliches Thema aufmachen würde. ;-)
Momentan reden wir nicht über die Gedichte von Yevgeniy. Wenn ich beispielhaft darauf verwies oder Hinweise darauf benutzte um einige Gedanken von mir aufzuzeigen, dann bitte interpretiere das nicht streng kanalisiert.
Was mich persönlich interessiert, und worauf außer einem Troll niemand wirklich regiert hat, ist ein Zitat, wo ein Lyriker das Gedicht eines anderen Lyrikers beurteilt und schreibt: “das gedicht ist mir zu dumm, um es ordentlich abzuhandeln.” Was bedeutet das? Ich meine nicht die Bewertung an sich, ich meine dieses “ordentlich abzuhandeln”. Kann man ein Gedicht ordentlich abhandeln, sozusagen verhandeln, was es nun auf sich hat mit einem Text. Auf die Spitze zugetrieben: kann man “offene und verletzliche Alternativrealitäten” verhandeln? Sicher nicht. Aber man kann fragen, ob der Text dieser Zielstellung gerecht wird, ob seine Anlage und sein Material dem gerecht wird. Dazu müßte man allerdings die Zielstellung kennen. Ein Gedicht ist ohne seine vermuteten oder gewußten poetologischen Fundamente nicht komplett. Es ist m.E. dann gut, wenn man diese Fundamente herausspürt, wenn man dem Gedicht das ausfühlen kann. Geübte Lyrikprofiler können aus Gedichten nicht nur Lektüren, sondern auch die bevorzugte Schuhtype des Verfassers extrahieren, heißt es.
Ich hatte dich gefragt, Bertram: Gibt es einen benennbaren Grund, eine ursächliche Notwendigkeit Text sperrig anzulegen? Die Frage stammt von Unbel Eckt. Du antwortest dem Milautzcki sehr richtig: “Du weißt doch, dass Umarmungen erdrückend sein können.” Ich möchte trotzdem eine Antwort an Unbel versuchen: Es gibt mehr als einen benennbaren Grund Text sperrig anzulegen:
Da gibt es das Phänomen, daß das Geheimnisvolle uns fesselt, daß wir Fragewesen sind, hinterher kommen wollen und hindurch, dahinter und hinzu. Und wenn wir beim Schreiben merken, daß uns etwas geschieht, das man schon auch Zauber nennen kann, dann gehn wir dem nach und treiben es voran und vielleicht auf die Spitze. Ich würde es den improvisierten Zauber nennen, oder den Raum der Improvisation. Hier passiert sehr viel, von dem ich mehr als ahne, daß andere es nie werden teilen können, aber ich löse mich aus dem Sperrgürtel der Verständlichkeit und öffne mich in einen eigenen Raum. Diese Abgeschlossenheit des eigenen Raums ist sehr wichtig, sie ist das, was andere als hermetisch empfinden, aber sie ist auch das, was den improvisierten Zauber überhaupt ermöglicht.
Dann gibt es das Phänomen, den anderen mit Geheimnisvollem fesseln zu wollen, daß wir das Fragewesen des anderen benutzen, um ihn zu führen, hinterher, hindurch, hinweg. Und wenn wir beim Schreiben bemerken, daß es mit diesem oder jenem Begriff, mit diesem oder jenem Verfahren besonders gut klappen könnte, dann tun wir das. Wir planen und spielen mit der Möglichkeit Entschlüsselung anzubieten, Interesse zu wecken. Das kann sich pervertieren zu einer “sich interessant machenden Schreibweise”, bei dem im klügsten Fall schon das lyrische Personal von Jurys bis zu Lektoren mit bedacht wird. Ich würde das den adressierten Zauber nennen, den ausgestellten Raum. Auch er ist durch sein vorgedachtes Publikum in gewisser Weise abgeschlossen, auch das fühlt sich für Unbel hermetisch an.
Dann gibt es das Phänomen, eine bestimmte Reaktion provozieren zu wollen, quasi die Nervensäge, die bewußt eingesetzt und am Sägen ist, oder der Stressfaktor, der sich zeigen soll, die Ratlosigkeit, keine Ahnung – Sperrigkeit als Stilmittel eingesetzt.
Will sagen, es gibt im Einzelfall wohl gut begründbare Beweggründe in Umarmungen Sperrungen einzubauen, aber die gibt es genauso wohlbegründet in der Rezeption: wenn ich das Gefühl habe, rein als Schauplatz der poetischen Intelligenz eines anderen dienen zu sollen, als Bühne der kalkulierten Admiration, dann fühle ich mich nicht gut und sperre mich. Das trifft auch bei übermomentualisierten Haikus, die mich in ein besonderes Gefühl zwingen wollen, bei inhaltsschweren Schwaden aus inhaltsschweren Worten, bei eloquentem, wortmächtigem Text-Blabla bis zu Schaustellerstücken, die um Aufnahme in den Club der Moderne oder in die Liga buhlen.
Wenn sich etwas gegenseitig sperrt, dann kann der Autor sehr viel dafür tun, den Zugang zu erleichtern, u.a. indem er klarstellt, aus welchen Motivationen bei ihm Texte und als Beispiel gewisse Wortkombinationen entstehen. Gibt es konzeptuelle, kontextuelle oder experimentelle Motivationen. Er kann den Weg zeigen, den er geht. Dann kann auch der Leser sehen, ob er diesen Weg gut geht, mit Talent und Humor und/oder Ernsthaftigkeit (je nachdem). Dem sollte man sich nicht versperren. Und mein Gefühl im express! war, daß sich Yevgeniy dort nicht so offen gezeigt hat, wie es sich manche der Diskutanten gewünscht hätten.
Sehr viel mehr geht heute nicht, es ist wieder Sonntag, wieder 12 Uhr, 12:20 um genau zu sein. Es ist ein Sommertag draußen und ich denke, ich versuchs mit Schwimmen, aber der Main dürfte noch ziemlich kalt sein. Mir ist es recht, Bertram, wenn du vom Tisch aufstehst und wir damit auch die eigentliche Debatte beenden, die eine Verständigung über Lyrikkritik hätte werden sollen.
Lieber Bertram, ich denke, wir wollen nicht über dieselben Dinge reden. Mein Schaumriff war angetreten auf Tristan Marquardt zu antworten und jetzt sitzen wir da und streiten uns über Breygers Gedichte, die ich nicht kenne, soweit sie mir aber im express begegnet sind, für sehr interessant halte (bitte lies dazu meinen allerersten Leser-Kommentar dortselbst), bei denen ich aber Schwierigkeiten in der Rezeption habe. Um das zu zeigen benutzte ich die Picks, die mir der express! anbot. Also: wenn wir uns ganz konkret über YB's Texte streiten wollen, bin ich der falsche – falls du das von mir erwartet hast, dann tut es mir leid, daß ich dir das nicht bieten kann.
Im Schaumriff ging es mir um das “Urteilen” über Gedichte im weitesten Sinne, weil ich das mit TMs Kritik an der Lyrikkritik zusammen bringe und stelle die Frage: wie anders als absolut individuell und persönlich kann ich ein lyrisches Werk beurteilen? Welche Kategorien und Verfahren gäbe es, welches Instrumentarium und welche Näherungsweisen wären adäquat? Da gibt es Teilantworten: es wird gesagt, daß es auf die Leseweise ankommt: “Mache den Text nicht dafür haftbar, dass er deiner Leseweise nicht entgegenkommt”, schreibst du – und Yevgeniy: “ich bin sehr froh, Elke, über deine Lesart des Käfergedichts, die der meinen entspricht. Stefans andere Lesart entspricht ebenso der meinen. Nur ungern würde ich dieser Käferkolonie eine Lesart wegnehmen.”
Wenn wir Lesart und Leseweise kurzerhand derart zusammenbringen können, daß wir darunter das Gleiche verstehen, bin ich dabei. Wenn wir anhand des express! Beispiels nach gelungener oder nicht gelungener Lyrikkritik fragen wollen, stolpere ich sofort über die Rahmengebung, die Yevgeniy setzt, worüber zu sprechen wäre und worüber nicht, die so ausfällt, daß ein Leser das als arrogant empfindet und sich daraus immer mehr Zoff entwickelt. Diese Rahmengebung: “Die Annahme, es gäbe eine sogenannte hermetische Lyrik, die nur szenelesbar oder intelektuell [sic] verklärt, sei und dem gegenüber stehe die andere 'verständliche' Lyrik, ist tatsächlich dermaßen absurd und verklärend, dass ich nicht das Gefühl habe, dafür noch argumentieren zu müssen, das wurde genügend getan.”
Der letzte Satz kann den Diskussionswilligen sagen: darüber rede ich mit euch nicht. Selbst wenn ihr wollt, ich finde das nicht des Diskutierens wert. Also wenn das euer Problem ist, dann brauchen wir hier nicht weiter reden. Ganz unparteiisch, Bertram, es gibt kaum einen schlechteren Einstieg in eine offene Diskussion, in der die Beteiligten gerade anheben ihre Rezeptionsprobleme zu artikulieren. Wenn nämlich das von dir beschriebene Sperren genau das Problem ist, und der Gegenüber sagt, darüber rede ich nicht, dann sperrt sich aus meiner Sicht der Autor und – das ist das clevere – schiebt gleichzeitig eine Absolution für private Lesarten nach, die sagt: ich bin einverstanden mit möglichen Lesarten. Das kann man auf zweierlei Weise sehen: Die bösartige Variante wäre: der Autor schützt seinen Text und will nicht rausrücken mit der richtigen Lesart – das würde derjenige denken, der davon ausgeht, es gäbe eine richtige Lesart. Die gutartige Variante wäre: der Autor verschenkt seinen Text und geht davon aus, daß der Leser auf seine Art und Weise damit etwas anfangen kann und wird.
Vielleicht gibt es noch weitere Sichtweisen, ich will hier nicht zu tief rein, weil es mir nur darauf ankommt, zu zeigen, daß es zu Yevgeniys Aussagen immer ein zunächst unentscheidbares Perspektivenpaket gibt, und zwar leserabhängig. Du betonst immer wieder meine Erwartungen an ein Gedicht, Bertram, ja, die gibt es. Und es gibt auch Erwartungen an die Auskünfte des Autors. Ich möchte zum Beispiel ungern in einem übergaren Bereich umherstochern, wie in einem Schaum, heißt das nun was, oder heißt das nichts, und jedesmal wenn ich mich bewegt habe, antwortet mir das Gedicht: falsch gelaufen, bitte zurück zum Anfang. Und dort steht der Autor und sagt mir: “es ist nicht nötig einen 'Schlüssel' zu finden”. Und dann kommst du Bertram, und verteidigst das Gedicht und sagst: lieber Leser, dein Suchen nach dem Schlüssel ist daran Schuld, daß du mit dem Gedicht nichts anzufangen weißt. Mir persönlich (FM) ist das alles vertraut und ich habe damit keine Probleme (aber darüberhinaus Kritikpunkte, was das Anlegen von Schaum angeht), aber wie soll der Betrachter etwas entschlüsseln, das nicht zu entschlüsseln ist, also Räume betreten, die offenbar beliebig sind. Ich bitte dich noch einen Moment bei der Denkstange und in der Perspektive des Normalverbrauchers zu bleiben: natürlich taucht die Frage der “Beliebigkeit” auf, sie stellt sich, wenn die Textbefragung so strapaziert wird, daß sie ganz ohne Antwort bleibt. Dann wünscht man sich Hilfe vom Autor. Vielleicht bekommt man sie – express! - aber sie wird angereichert mit dem Statement: “Der Witz ist: Diese Beschreibung von mir könnte man nun genauso gut Streichen [sic] und durch eine Gegensätzliche [sic] ersetzen.”
Ich als Normalverbraucher denke mir spätestens jetzt: hier werde ich doch irgendwie verarscht. Dem voran steht das Statement: “Dementsprechend ist es unmöglich hier etwas 'nicht zu verstehen'. Alles liegt offen da.” - Häh? Alles ist klar, nur ich bin zu blöd, spiele ich jetzt mal den unbeleckten Leser, das hilft mir aber jetzt auch nicht weiter. Könnte er nicht wenigstens ein zwei Hinweise zu seinem Schreibprozess geben, die mir zeigen, wie er drauf kommt, und die mir den Zugang vermenschlichen. Auf diese Art und Weise steht vor mir eine Wand und ich komm und komm nicht weiter, und dem Autor ist es offensichtlich egal, ob ich weiterkomme oder nicht. Unbel Eckt, so heißt der Leser, wird nun langsam Gram entwickeln oder sich enttäuscht abwenden und denken: da verschließt sich einer vor mir. Er wird in Kommentaren weiter ungeduldig Fassbares fordern, und nicht damit zurecht kommen, daß sich Yevgeniy “offen und verletzlich Alternativrealitäten” erhofft, die sich jeder selbst erzeugen kann. Unbel Eckt wird sagen: und was ist mit deiner Realität, kannst du mir etwas über die deine sagen? Kannst du mir etwas über dich mitteilen, das für mich Bedeutung annimmt, oder schlüpfst du mir weg, sobald ich mich dir nähere.
Dann wird Unbel Eckt erfahren, daß er mit völlig falschen Voraussetzungen an die Texte seines Gegenübers gegangen ist und nicht das Gedicht, sondern er selbst schuld ist, wenn es nichts wird mit der Lyrik und ihm. Armer Unbel, muß nun ohne Antwort und ohne Gedichte weiter leben.
Ein gespieltes Geschehen? Es ist ganz bestimmt im express! passiert. Ich werte da nichts. Ich stelle nur dar. Ich nehme niemanden in Schutz, greife niemanden an, obgleich ich für Verständnis für die Perspektive von Unbel Eckt werbe. Die Frage “Kann es sein, daß es für literaturtudierte Leute, den Unbel Eckt gar nicht mehr gibt?” spare ich mir, weil sie ein zusätzliches Thema aufmachen würde. ;-)
Momentan reden wir nicht über die Gedichte von Yevgeniy. Wenn ich beispielhaft darauf verwies oder Hinweise darauf benutzte um einige Gedanken von mir aufzuzeigen, dann bitte interpretiere das nicht streng kanalisiert.
Was mich persönlich interessiert, und worauf außer einem Troll niemand wirklich regiert hat, ist ein Zitat, wo ein Lyriker das Gedicht eines anderen Lyrikers beurteilt und schreibt: “das gedicht ist mir zu dumm, um es ordentlich abzuhandeln.” Was bedeutet das? Ich meine nicht die Bewertung an sich, ich meine dieses “ordentlich abzuhandeln”. Kann man ein Gedicht ordentlich abhandeln, sozusagen verhandeln, was es nun auf sich hat mit einem Text. Auf die Spitze zugetrieben: kann man “offene und verletzliche Alternativrealitäten” verhandeln? Sicher nicht. Aber man kann fragen, ob der Text dieser Zielstellung gerecht wird, ob seine Anlage und sein Material dem gerecht wird. Dazu müßte man allerdings die Zielstellung kennen. Ein Gedicht ist ohne seine vermuteten oder gewußten poetologischen Fundamente nicht komplett. Es ist m.E. dann gut, wenn man diese Fundamente herausspürt, wenn man dem Gedicht das ausfühlen kann. Geübte Lyrikprofiler können aus Gedichten nicht nur Lektüren, sondern auch die bevorzugte Schuhtype des Verfassers extrahieren, heißt es.
Ich hatte dich gefragt, Bertram: Gibt es einen benennbaren Grund, eine ursächliche Notwendigkeit Text sperrig anzulegen? Die Frage stammt von Unbel Eckt. Du antwortest dem Milautzcki sehr richtig: “Du weißt doch, dass Umarmungen erdrückend sein können.” Ich möchte trotzdem eine Antwort an Unbel versuchen: Es gibt mehr als einen benennbaren Grund Text sperrig anzulegen:
Da gibt es das Phänomen, daß das Geheimnisvolle uns fesselt, daß wir Fragewesen sind, hinterher kommen wollen und hindurch, dahinter und hinzu. Und wenn wir beim Schreiben merken, daß uns etwas geschieht, das man schon auch Zauber nennen kann, dann gehn wir dem nach und treiben es voran und vielleicht auf die Spitze. Ich würde es den improvisierten Zauber nennen, oder den Raum der Improvisation. Hier passiert sehr viel, von dem ich mehr als ahne, daß andere es nie werden teilen können, aber ich löse mich aus dem Sperrgürtel der Verständlichkeit und öffne mich in einen eigenen Raum. Diese Abgeschlossenheit des eigenen Raums ist sehr wichtig, sie ist das, was andere als hermetisch empfinden, aber sie ist auch das, was den improvisierten Zauber überhaupt ermöglicht.
Dann gibt es das Phänomen, den anderen mit Geheimnisvollem fesseln zu wollen, daß wir das Fragewesen des anderen benutzen, um ihn zu führen, hinterher, hindurch, hinweg. Und wenn wir beim Schreiben bemerken, daß es mit diesem oder jenem Begriff, mit diesem oder jenem Verfahren besonders gut klappen könnte, dann tun wir das. Wir planen und spielen mit der Möglichkeit Entschlüsselung anzubieten, Interesse zu wecken. Das kann sich pervertieren zu einer “sich interessant machenden Schreibweise”, bei dem im klügsten Fall schon das lyrische Personal von Jurys bis zu Lektoren mit bedacht wird. Ich würde das den adressierten Zauber nennen, den ausgestellten Raum. Auch er ist durch sein vorgedachtes Publikum in gewisser Weise abgeschlossen, auch das fühlt sich für Unbel hermetisch an.
Dann gibt es das Phänomen, eine bestimmte Reaktion provozieren zu wollen, quasi die Nervensäge, die bewußt eingesetzt und am Sägen ist, oder der Stressfaktor, der sich zeigen soll, die Ratlosigkeit, keine Ahnung – Sperrigkeit als Stilmittel eingesetzt.
Will sagen, es gibt im Einzelfall wohl gut begründbare Beweggründe in Umarmungen Sperrungen einzubauen, aber die gibt es genauso wohlbegründet in der Rezeption: wenn ich das Gefühl habe, rein als Schauplatz der poetischen Intelligenz eines anderen dienen zu sollen, als Bühne der kalkulierten Admiration, dann fühle ich mich nicht gut und sperre mich. Das trifft auch bei übermomentualisierten Haikus, die mich in ein besonderes Gefühl zwingen wollen, bei inhaltsschweren Schwaden aus inhaltsschweren Worten, bei eloquentem, wortmächtigem Text-Blabla bis zu Schaustellerstücken, die um Aufnahme in den Club der Moderne oder in die Liga buhlen.
Wenn sich etwas gegenseitig sperrt, dann kann der Autor sehr viel dafür tun, den Zugang zu erleichtern, u.a. indem er klarstellt, aus welchen Motivationen bei ihm Texte und als Beispiel gewisse Wortkombinationen entstehen. Gibt es konzeptuelle, kontextuelle oder experimentelle Motivationen. Er kann den Weg zeigen, den er geht. Dann kann auch der Leser sehen, ob er diesen Weg gut geht, mit Talent und Humor und/oder Ernsthaftigkeit (je nachdem). Dem sollte man sich nicht versperren. Und mein Gefühl im express! war, daß sich Yevgeniy dort nicht so offen gezeigt hat, wie es sich manche der Diskutanten gewünscht hätten.
Sehr viel mehr geht heute nicht, es ist wieder Sonntag, wieder 12 Uhr, 12:20 um genau zu sein. Es ist ein Sommertag draußen und ich denke, ich versuchs mit Schwimmen, aber der Main dürfte noch ziemlich kalt sein. Mir ist es recht, Bertram, wenn du vom Tisch aufstehst und wir damit auch die eigentliche Debatte beenden, die eine Verständigung über Lyrikkritik hätte werden sollen.