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Frank Milautzcki,

Mal wieder Sonntag. Früher ging nichts.

In meinem Kopf bin ich in anderen Themen drin, Bertram, ich sehe einen jungen Menschen auf dem Dach eines Parkhauses, wie er sein Lebensscheitern in eine Pistole lädt. Ich sehe das als Ausdruck eines gewaltigen gesellschaftlichen Problems, dem man im Kern näher kommen müßte, um es wirklich zu lösen, dem man aber nicht wirklich näher kommen möchte. Weil man zugeben müßte, daß die Verheißungen, denen  nachzuleben man politisch organisiert, nichts sind als Puff und Bluff. Die moderne Art die Welt zu organisieren, läßt immer mehr immer jüngere Ruinen zurück, die einen Brückenschlag ins Leben nur noch virtuell schaffen. Es tut weh zu sehen, wie wertlos die Werte der alten Moderne machen und wie wichtig es wäre, der neuen Moderne, die es in mancherlei Ansätzen schon gibt, den Resonanzboden zu bieten, die sie braucht, um wirklich nachzuhallen.

Ich bin nicht einverstanden mit deinen Auskünften über Unbel Eckt.
Einverstanden bin ich, daß jeder von uns einmal unbeleckt gewesen war und sich die Welt der Poesie auf eigene Art und Weise mit den Jahren erst erschlossen hat. Deiner Kategorisierung nach, trennt sich dann die nicht mehr unbeleckte Klientel in Normalverbraucher und .... wen? Dein Wort vom Normalverbraucher zementiert, daß es auch einen Spezialverbraucher gibt, einen Verbrauch jenseits des Üblichen, der sich über einen “next step” eine höhere Stufe des Genusses erschließt.

Nur: wie hat dieser next step auszusehen? Wie kommt man dazu “ordentlich” über Gedichte zu reden und sie “ordentlich abzuhandeln”. Gerade darum ging meine Stoßrichtung in der Diskussion über die Lyrikkritik. Darf ich etwas “Gültiges” über Lyrik sagen, wenn ich aus einer völlig anderen Lebensecke komme, wie der Stundent meinetwegen aus Hildesheim. Welche Näherung ist die “ordentliche”. Die Frage ist kein Scheiß – sie wurde von niemandem bislang beantwortet. In dem Moment wo ich unterscheide zwischen ordentlich und unordentlich, möchte ich wissen, wie man das unterscheidet. Und wie denn bitteschön  d i e  adäquate Kritik auszusehen hat, die Tristan Marquardt einfordert.

Für dich als Leipzigprofi stellt sich diese Frage wahrscheinlich nicht, weil du sie aus deiner Studien- und Lehrerfahrung kennst, die “ordentliche” Herangehensweise. Sie ist dir wahrscheinlich so selbstverständlich wie dem Angler seine Spule (die mir ein Rätsel ist). Das Wort Gehensweise könnte man zur Gangart machen und ich könnte es nutzen, auf den individuellen Gang abzuheben, der außer auf Paraden niemals ordentlich ist, sondern in dem sich sehr viel Charakter und Lebenswelt des Einzelnen spiegelt, in dem sich das Erfahrene zeigt und das Begangene.

Für mich stellt sich diese Frage aber jedesmal, wenn ich mich einem Text nähere, weil ich den Fehler begehe zu denken, daß hinter dem Text ein Erzeuger sitzt. Wie gehe ich auf ihn zu? Erreiche ich ihn überhaupt. Ich liebe es, wenn mir derjenige entgegenkommt, wenn wir uns in der Mitte treffen und ein Picknick haben, bevor wir wieder auseinander gehen. Es gibt allerdings auch Erzeuger, die winken dich sich hinterher und weit in den Nebel hinein und schwupps sind sie weg. Aber vielleicht ist das ja gar kein Nebel, sondern Manuel Neuer und er ist gar kein Torwart, sondern eine Vogelscheuche.

Ich hoffe, du verzeihst mir diesen Haken, den ich benutze, um zum eigentlichen Thema zurückzukommen (das bitte nicht Breyger ist!). Also: wasse erwarte Marquardt? Wie geht dem ordentlisch? Sehen wir da die enttäuschte Hoffnung, dort gesehen zu werden, wo man sich selber sieht und einordnet? Ich könnte das verstehen. Wer weiß schon, wo der andere zuhause ist. (Das gehört zum Rätsel des Verstehens übrigens dazu –  Standpunkte erkennen zu können, die auch Bewegungen sein können – wo steht jemand, bewegt sich wie und was gibt er von sich, wo verortet er sich. Der pathetische Trick sich ganz außerhalb des Textes zu sehen und dessen Verortung in Gänze dem Anderen zu überlassen, ist poetologisches Taschenspiel. Natürlich soll der Erzeuger verantwortlich gemacht werden für gerade den möglichen Spielplatz und das ist auch nicht mehr als reell).

Ganz ehrlich, Bertram: ich erwarte nicht und glaube nicht, daß Marquardt, Breyger oder Du mich in meinem “Zuhause” ausmachen könnt, und ich erwarte auch nicht, daß es mir möglich ist Marquardt, Breyger oder Dich dort auszumachen, wo ihr euch seht. Texten ist eine Möglichkeit sich über Aufenthalte auszutauschen, der Textleser muß da manchmal lange Wege gehn, vor allem wenn der Hersteller die Routen komplex erzeugt. Manchmal ist ein Gedicht auch nur ein Lehrstück, auf welche Art und Weise es gelesen werden will oder nicht gelesen werden will.

Ich selbst sehe mich bei meinem Umgang mit Text mit einem Satz des Regisseurs Luca Guadagnino verbandelt. Der sagte in einem Interview zu seinem Film „A Bigger Splash“: „Ich glaube, dass man – wie Renoir das formuliert hat – beim Dreh die Tür zur Realität geöffnet halten muss. Man muss bereit sein, das, was passiert, in dem Moment, in dem es passiert, einzufangen, aufzunehmen. Mir gefällt die Idee, ein Drehbuch zu haben und dieses Drehbuch dann auch wieder zu vergessen. Man kann Improvisation dazu sagen, aber ich würde einfacher formulieren: Man muss intelligent sein.“

Wenn Intelligenz meint, komplexe Ereignisse zuzulassen, oder vielleicht so: Die Komplexität von Ereignissen anzuerkennen und einzubeziehen. Das ist für mein eigenes Schreiben wesentlich geworden, dort würde ich mich verorten wollen und ich frage mich nicht mehr, ob andere das sehen oder verstehen, es ist nicht mehr als ein frozen moment und manchmal a bigger splash.