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Frank Milautzcki,

Ich habe längere Zeit überlegt, ob ich nochmal etwas antworten/schreiben soll, denn im Grunde habe ich vieles gesagt gefragt, was ich zum Thema habe fragen sagen wollen. Da wir hier mittlerweile alleine am Tisch sitzen, könnte man auch dazu übergehen, sich darüber auszutauschen, warum wir hier alleine sitzen.

Es mag vielleicht u.a. daran liegen, daß man merkt, daß uns oftmals das gegenseitige Verständnis fehlt ( auch weil wir doch sehr in Vermutungen unterwegs sind), und daß wir aneinander vorbei spielen, wahrscheinlich zwei verschiedene Spiele.

Ich habe das Gefühl, Bertram, daß Du mich gerne verstehen würdest, aber nicht unbedingt in der Sache. Daß  dein Interesse psychologisierend Hintergründe in meinen Gedanken sucht, Verhaltenslagen, die ein Bild von mir bieten, das du von mir hast. Das ist mir schon sehr oft aufgefallen, daß du Leuten Motivationen unterschiebst, die du vermutest oder für real hälst. Auf der einen Seite gelingt dir das zum Beispiel in deinem Essay „Gruppendynamik“ oft sehr gut und du entlarvst dabei viele Reaktionsprinzipien und Absorbtionsprozesse, die beim Lesen eines Textes wie Sperrmechanismen des Textes wirken, aber persönliche Chemie betreffen. Auf der anderen Seite aber ist mir dein Denken zu oft kategorial und nicht wirklich dynamisch.

Und es ist zu stark an mir orientiert, statt an meinen „Sachen“. Es beschäftigt sich mit möglichen Prozessen in mir, also einem DU, das du in mir vermutest. Zum Beispiel findet sich in deiner letzten Erwiderung vom Zentrumsrand das Wort „Du“ 35mal. In meinem Text „Orden“, auf den er Bezug nimmt und der nur etwa dreiviertel so lang ist, taucht das Wort „Du“ nur 2mal auf.

Ich möchte hier nicht über mich sprechen. Ich fühle mich dabei meist umfassend falsch wahrgenommen und kategorisiert. Auch bist Du für mich wie eine Wand, von der das, was ich sage, völlig verändert zurückkommt. Das ist kein Beinbruch, aber irgendwie hinkt es.

Nur ein kleines Beispiel: ich stelle im Schaumriff klar in Frage, und da gäbe es zig zig Zitate, ob es denn wirklich „textentsprechende Urteile“ gäbe: „Aus meiner Sicht ist das Urteil eines Spargelstechers prinzipiell nicht falscher, als das eines Litprofs, nämlich ihm entprechend.“ oder: „Der Bericht über das Lesen eines Buches ist ein Reisebericht.“ Wenn man das alles nur halbwegs konsequent weiterdenkt, kann man dahinter eine Meinung entdecken, die sagt, die Begegnung mit der Lyrik/Literatur ist eine hochspezielle und hochindividuelle, sie ist persönlich.
Betrachtet man dazu die Aussage, es gibt „sehr verschiedene Leserkreise und Gruppen, verschiedene Hallräume für verschiedene Lyriken und es wäre anmaßend, bei allen mitreden zu wollen und zu meinen, man könnte alle gleichmäßig beurteilen“ (und dieser Satz stammt von dir), so stellt man fest, daß unser beider Sichtweisen zusammen sehr wohl geignet sind, Marquardts Begehren (Achtung: du schreibst ihn ohne Abschluß-t – ich wurde für so eine Falschschreibung von Yevgeniy abgemahnt!) nach „fachgerechter Rezension“ in seiner wirklichen Problematik darzustellen. Eigentlich sagen wir beide: es gibt nicht „das Urteil“ und es gibt nicht „das Maß“, es gibt also auch nicht „das Gültige“. (Das stellst du selbst nochmal klar heraus, und willst es mir aber gerne zurück- und unterschieben, als wäre ich der konservative Knochen.) Man kann Gedichte nicht „ordentlich abhandeln“.

Vergiß jetzt mal, daß dieses letzte Zitat von Breyger stammt. Es scheint zumindest die Idee zu geben, daß man auf eine gewisse Weise über Gedichte reden kann, sogar professionell über Gedichte reden kann. Ich habe schon Rezensenten gelesen, die den Bestand an Vokalen in einem Gedicht abzählen, sie mit wahllos zusammengesuchter Klassik vergleichen und von daher seitenlange Beweisführung betreiben. Ob das geglückte oder unglückliche Versuche sind, sei mal dahingestellt. Es gibt wahrscheinlich so viele Näherungsweisen und Sageweisen, wie es Menschen gibt. „Eine Polyphonie von Ansätzen“, schreibst du.

Genau das ist es, was ich verteidige und ich gehe so weit, zu behaupten, daß ein Literaturstudium nicht mehr sein kann als eine Zeitinsel, in der man Näherungsweisen und Sageweisen kennenlernt und sich eigene Zugänge entdeckt. Eine Zeitinsel, die AutorInnen außerhalb sich abknapsen müssen und ebenso LeserInnen. Keinesfalls ist ein Literaturstudium ein Nachweis über Talent oder Befähigung, sondern eher ein Hinweis auf Neigung und Interesse. Eine „Professionalisierung“, das wirst wahrscheinlich du intensiver darstellen können als viele andere, geschieht dort nur insoweit, daß Zeit bleibt, um Literatur zu betreiben. An der eigentlichen Polyphonie sollte sich dort nichts ändern.

Und doch geschieht dort etwas, was man vielleicht als Teilen beschreiben könnte (ich stelle mir das alles so vor – ich habe keine Ahnung, ob es so ist). Man lernt die Mitteilung. Ein Miteinander im Teilen von. Insofern kann ein „ordentliches abhandeln“ für den gelernten Mitteiler heißen: das Miteinander im Teilen von.  Und insofern kann eine Professionalisierung von Lyrikkritik hintergründig dasselbe heißen sollen. So verstehe ich Marquardt und so verstehe ich Breyger.

Als autodidaktischer Solist habe ich ein Problem beim Miteinander. Vor allem beim Herzeigen von. Ich stehe ungern im Blickpunkt, ich will gar nicht dabei sein, wenn ich den Moment eines Gedichts teile, das verunsichert mich zunächst und fordert dann immer große Energien im Hintergrund alles Krumme wegzurechnen. Manchmal falle ich dann einfach zusammen – wenn die Rechnung kollabiert. Lyrik ist für mich gerade typischerweise eine Beschäftigung, in der ich alleine in einer Situation stehe, sowohl beim Lesen als auch beim Schreiben. Ich finde, da hat niemand anderes etwas darin verloren. Lyrik ist eine Sache, die ich mit mir selber ausmache und gerade das macht es spannend. Und ja, manchmal sind es persönliche Reservate und „Überlebensgegenstände“, wie du schreibst. Es überrascht mich solche emotionalen Zugänge bei dir zu finden, aber es ist wie mit den peinlichsten Lieblingsliedern (bei mir ist es „Wonderful Life“ von Black), man hat sie, aber man verrät sie nicht und nach außen grinst man über „die Emotionalen“.

Da ich meine Gedichte mit mir selber ausmache, ist es mir eigentlich auch wurscht, was andere damit tun. In dem Moment, wo ich mit einem Gedicht einverstanden bin, ist es mir egal, was andere dazu sagen. Hinter der megatoleranten Attitüde, jeder Leser dürfe mit dem Text machen was er wolle, steckt eigentlich genau das: mir ist es eh wurscht, was du davon hälst. Und gottseidank ist es so. Es zählt nur das 1:1 mit dem Gedicht, mein Einverständnis mit dem schreibenden Ich und seinem Text. Mehr braucht es nicht. Späterhin ist es das lesende Ich und der Text, dann wird es quasi noch einmal – im Leser - neu geschrieben, aber dann gehört es schon nicht mehr mir und es kann wirklich in jede Gestalt nach überallhin.

Ein Grund für mein Problem Gedichte zum „Gegenstand“ zu machen, ist die Frage nach dem Licht. Welches Licht wirft man drauf, welche Wellenlänge nutzt man, aus welcher Perspektive. Es gibt da keine Gültigkeit, sondern Umrisse festigen sich, wenn man möglichst viele Blickwinkel einnimmt und Frequenzen versucht. Ich bemühe immer die Statue, die vor einem steht. Von einem Standpunkt aus kann man sie nicht wirklich erkennen, sie kann in ihrem Rücken den Dolch verbergen. Man muß drumherum gehen und sie von allen Seiten betrachten.

Zurück zu uns: Misswollende Interpretation, wie du sie bei mir zu finden glaubst, finde ich auch bei dir zuhauf. Und beide sind wir nicht frei von „schlechtem Lesen“. Daß ich mir Leipzig ganz anders vorstelle, als du mir unterschiebst, kannst du vielleicht innerhalb dieser Zeilen erkennen (ein unparteiischer Leser kann es). Ich denke nämlich nicht, dort gäbe es Literaturgespräche nur nach einer Maßgabe (und das ist auch nirgends von mir so gesagt). Das ist ein weitergedachter Gedanke von dir. Ich denke, daß Literaturgespräche ein Maß suchen.
Was vielleicht schon verkehrt ist, weil es nicht das eine Maß gibt. Das könnte auch ein Thema sein, daß erlerntes Sprechen über Literatur „maßgeblich“ sein zu können vorgibt, bzw. erwartet wird, es könne maßgeblich sein. Zumindest für das Tun an sich, das Sprechen über Literatur, gäbe es ein Maß, eine „ordentliche“ Herangehensweise. Die Art und Weise wie man über Gedichte zu sprechen hat, unterliegt– so vermute ich - Mindeststandards, wie sie z.B. in der Lyrikzeitung aufgerufen werden, wenn man von Lokalredakteuren Spezialwissen fordert. Gerade Du, der hier bekennt, daß es nichts „Gültiges“ gibt, bist einer derjenigen, die Bedingungen für Gültigkeit definieren: zuerst müsse man dies und jenes bedenken, habe zu kennen, müsse hinterfragt haben daß, bevor man sich überhaupt ein Urteil erlauben dürfe. Gratz argumentiert oft ähnlich.

Ich mag das nicht. Ich mag nicht, wenn man mir sagt: bitte fass mich nicht an, wenn du nicht dieses oder jenes nachweisen kannst. Ich mag eher, wenn man mir sagt: fass mich an und sag mir wie es sich anfühlt.

Im Moment sitze ich hier mit einem wie verschraubten, viel zu kompakten Kopf. Es ist wieder Sonntags. Jetzt 11 Uhr. Es fliegt Kopfweh heran (ich spiele hier nicht das Gut Gesundheit gegen das „kleine Thema Gedicht“ aus, Bertram, so wie du meine Bemerkungen über den Amoklauf in München depositioniert hast, was ich absolut geschmacklos fand – und dann die Bermerkungen über die Moderne in literarischen Bezug setzt, obwohl von mir – sehr deutlich - gesellschaftspolitisch gemeint), sodaß ich mal probiere, es wegzudämmern. Immerhin bahnt sich ein strahlender Sommertag an und da könnte man erste Zwetschgen dieben und nochmal im Main schwimmen.