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adlernest

Autor
Crauss
express!-Rahmenbeitrag
junge rehaugen
Statement

ich möchte auf Marios frühere forderung zurückkommen und mich auf ein close reading freuen, statt allzu ausgiebig über einen lyricode zu diskutieren, der ja nicht ausschliesslich für DIESER JUNGE erfunden wurde - was erklärt, dass mehr kodierungen in ihm enthalten sind als für das Craussbuch notwendig sind. tatsächlich mache ich an keiner stelle im buch anweisungen, wie ein text zu lesen wäre. Lea Schneider tut dies aber in ihrem "O0" sehr wohl. dort sind die betonungszeichen nicht nur leseanweisungen, sondern mehr, sie sind textelement. und das verlagshaus war bestrebt, den lyricode nicht jedesmal neu zu erfinden, sondern eine variante zu entwickeln, die auf viele zukünftige ebooks anwendbar bleibt. das wichtigste fürs Craussbuch: die markierung von pausen oder zeilenwechseln, wei man das im mittelalter bereits getan hat. lyrische texte aus platzersparnis ins fliessen zu bringen, bzw. im ebook: zu verhindern, dass das gedicht eine form annimmt, die durch verstellbare schriftart und -grösse ins beliebige driftet.

ganz gewiss hätte man den lyricode ans ende des buchs, als glossar setzen können. ganz gewiss hätte man ihn anders, konsequenter etc. umsetzen können. und mehr als gewiss sollte schreiben im digitalen medium von vornherein anders stattfinden als kompilierte texte  für  ein medium zu formatieren. die frage ist: wie kann ich mit den mehr oder minder neuen mitteln neue/eigene texte produzieren. wie, um Martins beispiel aufzugreifen, schaffe ich es, eine art fähnchen in/an die gedichte zu kleben, oder etwas zu generieren, das dem lesen mit bleistift, der notiz auf dem papier nahekommt. eine neue datei zu öffnen, um annotationen zu machen, ist keine option.

jetzt aber meine herren: hinein in die poesie, bevor die bübchen am weiher getrocknet, die sonne untergegangen und uns ganz kalt geworden ist. dem ebook gebe ich an dieser stelle ein fragmentiertes schmankerl hinzu, das eventuell lust macht darüber nachzudenken, wie stimmungen und motive über unterschiedliche texte und bücher hinweg wiederkehren. vielleicht macht es aber auch einfach bloss spass zu lesen. das könnte unter umständen genügen.

in der stadt ist es heiss, august, ich bin einmal wieder für eine weile hier, wohne für ein paar tage bei freunden in einem fidelen haus voll junger studentinnen. es riecht nach duftkerzen, gemeinsamem kochen, kippen, bunten likören und nur selten nach dem besuch, den die mädchen kriegen. sie sind fleissig, gehen früh zu bett, weshalb ich ebenfalls ruhige abende habe oder spät ausgehe. wenn ich nicht unterwegs bin, lege ich letzte hand an die druckvorlage meines neuen und endlich vollendeten buchs. arbeite zwei, drei stunden daran, gehe dann doch noch hinunter und bummle den fluss entlang.
der fluss voller kleiner und grosser boote, die auf und ab schaukeln, einige einer, hin und wieder aber auch längere mit sechs oder acht jungen burschen, die trainieren; sehr belebende anblicke. wenn es zu dunkel ist, reicht die erinnerung an die nachmittage in den auen: eine zarte südliche brise, ein gemächliches gehen und schauen, verweilen, geniessen. bis sonnenuntergang, abendrotflucht, der gemaserte himmel, punkte am himmel, ein kreis, ein schwarzer kreis, ein pochen unter dem lid und alles gewimmel oranger und gelber und schwach ganz schwach grünlicher löcher. und etwas saugendes ist: entfernungen, die sich nun anders messen als tagsüber. schatten.

dann nach hause, ein paar notizen, tagebuch, ein bier, vielleicht zwei. auf dem bett liegend, lustlos meist, ein wenig fernsehen und einnicken. da ich diesen vormittag hinkend ein, zwei stunden an etwas einsameren stellen des ufers entlangschlenderte und unter einer alten zeder sass, auf halbem wege den hügel hinauf und fadoborn in sichtweite, kamen viele junge menschen zusammen, um zu baden oder zu schwimmen, gruppen von burschen, zu zweit, zu dritt, ein paar ältere unter ihnen. ein eigentümliches kostümfest, später beinahe hundert badende, vertraulich miteinander, freundschaftlich. das lachen, die stimmen, die rufe, die erwiderungen — das springen und tauchen von dem grossen stützbalken des verfallenden anlegers. sie klettern hinauf, stehen schlange, nackt, rosig, mit bewegungen. sie posen, übertreffen sich gegenseitig, necken sich, fassen sich gegenseitig zwischen die beine, provozieren, es entbrennen handtuchgefechte, kurze, heftige kämpfe, die in lachanfällen münden oder ausgelassenen schubsereien, vorzeitigem sich ins wasser fallen lassen. ergib dich! ergib dich, du hund!
zu all dem die sonne, strahlend, die dunkelgrünen schatten der hügel auf der anderen seite, die bernsteinfarben rollenden wellen, die sich beim anschwappen ans ufer in einen transparenten tee verwandeln, das platschen der spielenden jungen beim eintauchen, das versprühen von glitzernden tropfen und die angenehme brise. 

manchmal, je nachdem wie der wind steht oder wie scheusslich es im korridor duftet, riecht, stinkt, treibt es mich später erneut hinaus. nach dem abendbrot siehst du keinen hund mehr auf der strasse. das bunte treiben vom tage ist längst verklungen, insbesondere die gegend am fluss zwischen den alten industrien schimmert in einem ungesunden grün. gefährlich, sagen die touristen, die sich hierher verirren. erregend, sagen die von einem guide angespornten. die phantasie wird beflügelt durch die thriller, die man zuletzt gesehen hat („so etwas gibts sonst nur in der bronx“) („bei uns wäre eine solche gegend nicht denkbar“); oder durch die sensationsmeldungen im kostenlos an der s-bahn verteilten boulevardblatt: das ist die gegend, wo du nach einbruch der dunkelheit nur noch schüsse und schreie hörst und knietief in blut watest. denn die wirklichkeit ist nicht, was wirklich ist. sie ist nicht die wahrnehmung des einzelnen, dem, was du tatsächlich siehst, riechst, der dampf auf der strasse oder jener, der dir später, im hinteren teil des "adlernests", in die nase steigt. es ist die zeit der verfallenden natur und individueller todesarten. und du hast dir vorgenommen, einen ganz eigenen tod zu sterben, deine unruhe, unrast abzutöten. warst du schon einmal hier? Fassbinder soll in dieser gegend einen film gedreht haben.