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Mario Osterland,

Sehr gutes Plädoyer! Ich würde gern am Wirklichkeitsbegriff (siehe Fußnote 5) ansetzen um das ganze weiterzudenken. Dazu passend erscheint mir Tom McCarthys "Offizielles Dokument" der fiktiven International Necronautical Society (INS), das in der Neuen Rundschau 1/2014 erschien.

McCarthy und seine Nekronauten knüpfen ebenfalls in der Klassischen Moderne an, und zwar bei Marinettis Futurismus. Allerdings führen sie die hymnische Begeisterung für alles auf Geschwindigkeit ausgerichtete nicht einfach fort. Für McCarthy markiert der im Zuge des Futurismus ebenfalls ikonisch gewordene Autounfall den Beginn der Zukunft. Doch dort wo der Futurismus glaubt die Zeit überwinden zu können, wird er erst einmal sehr unsanft in die Realität des Raumes zurückgeschleudert.

Der ironische Bruch mit den Futuristen, aber auch der Bruch in der ewig beweglichen Kontinuität wird für ihn zum Wesensmerkmal der Avantgarde. “Die künftige Avantgarde wirft sich selbst aus der Bahn und zelebriert dieses Aus-der-Bahn-Werfen mit ihrem Gang an die Öffentlichkeit, so als stelle das Aus-der-Bahn-Werfen einen Teil ihrer Raison d’être dar.”

Eine künstlerisch Avantgarde ist also immer das Ende einer Konituität, ist immer das Ende einer Bewegung, ein kurzes Abstoppen, bevor sie eine neue Dynamik aufnimmt. Sie lässt die Zeit für einen Moment stillstehen, durchbricht an diesem Punkt das bisher gültige “Reale” und geht dann einen großen Schritt weiter. Allerdings leistet die Avantgarde diesen Schritt nicht aus einem Vakuum heraus, sondern (natürlich) aufgrund einer Erfahrung. “Historisch betrachtet, und das ist der springende Punkt, betreten wir keinen neuen Boden, sondern alten Boden auf neuen Wegen”, schreibt McCarthy.

Mit den Worten F. Scott Fitzgeralds nennt McCarthy den Menschen eine “rückwärtsgewandte Wiederholungsmaschine[], die unaufhörlich in die Vergangenheit zurückgetrieben” wird (vgl. hierzu Walter Benjamins Geschichtsbegriff). Das Durchbrechen dieser Schleife, so verstehe ich McCarthy, kann nur durch einen Crash gelingen. Und dieser Crash, so meine These, muss die Kunst/Literatur selbst sein, die ihre Leser/Betrachter aus dem Gewohnten herausreißt. Folgender Gedanke dazu bei McCarthy, ausgehend von James Graham Ballards gleichnamigen Roman: “[...] dass wir schon längst von Fiktionen umgeben sind (Lifestyle-Modelle, Phantasien, sexuelle Rollen und Identitäten, die allesamt durch die Medien [...] auf uns einprasseln); die Aufgabe des Autors [Künstlers allgemein], so behauptet er [Ballard] [...], bestünde darin, ‘die Wirklichkeit zu erfinden’.”

Eine Auffassung, die Francis Nenik in seinem, ebenfalls in der Neuen Rundschau 1/2014 enthaltenen Text "Geschichten aus der Geschichte der Literatur der Zukunft" zur Praxis bringt. Denn hier wird nicht nur die Geschichte erfunden, sondern damit auch (bis zur eindeutigen Widerlegung des Textes) die Wirklichkeit. Damit steht das Angebot seitens der Literatur, dem Leser eine Alternative anzubieten, die nicht von vorn herein durch einen Fiktionsvertrag geschwächt ist und zumindest die Möglichkeit einer anderen Welt, einer anderen Wirklichkeit im “Realen” in Aussicht stellt.

(So ähnlich zuerst gebloggt am 17.5.2014 unter http://novastation.wordpress.com/2014/05/17/manifeste-fur-eine-literatur...)