Essay

#Akzelerationismus

Hamburg

Ich will, daß es schnell geht. Wohin es gehen soll, weiß ich nicht. Aber daß die Veränderung das maximale Tempo aufnimmt, den die Mittel hergeben. Das ist die deklinierte neue Denke des Akzelerationismus.

„Ich denke, das ist nicht einfach eine Frage der Geschwindigkeit, die man mit weiterer oder noch höherer Geschwindigkeit zu beantworten hat. Sondern einfach die Einsicht, dass wir diese Geschwindigkeit, in der wir leben, diesen beständigen Beschleunigungsmodus des Kapitalismus, dass wir den nicht mehr bremsen können. Und statt dieser Gleichung von Moderne = Beschleunigung = Kapitalismus, so eine Fantasie eines Rückzugs oder von Entschleunigungsoasen gewissermaßen entgegenzusetzen. Es geht um die Frage, wie man den [Kapitalismus] entkoppeln kann. Aber wir werden das nur können, wenn wir auf der Höhe der vorhandenen Wissenschaften, eines Wissens oder Einsicht in die Technologie und dagegen agieren und zu finden, mit Flugzettel-Verteilen oder Gruppensitzungen wird das einfach nicht mehr gehen.“ Armen Avanessian

Es geht für mich darum, wie man sich aus dem Kapitalismus entkoppeln kann. Dieses Entkoppeln ist der entscheidende Moment , das Ausklinken, Abtrennen, Enthalten – das kann natürlich nur auf Höhe der Zeit geschehen, aber es muß, wenn es geschieht, eine neue Zeit gebären, indem es das, was zuvor die Gangart  bestimmte, nicht mehr weiterführt. Ich glaube nicht daran, im Credo von Oberfläche und Höchstgeschwindigkeit (und jeder Weltkontakt verdünnt sich mit zunehmendem Tempo zwangsweise zur Flachheit ) tiefer an Dinge herankommen zu können, weil einfach der Zugriff aus Tempo und Fahrt heraus entweder nur streicht oder mitreißt, und damit das Angelangte immer in einer Weise verändert, die eigentlich nicht gewollt sein kann, wenn wir wirklich über neue Tiefen und nachhaltige Hier und Jetzts reden.

„Vielleicht kennen Sie Frank Sinatras Song „I did it my Way“. Das ist so eine Art Bildungsroman darüber, wie man sich mit den Regeln der Gesellschaft arrangiert. Vielleicht kennen Sie auch die Sex Pistols-Version von 1978, in der Sid Vicious den Song auf der Bühne absolut in Stücke reißt. Die Frage ist nur: Was passiert damit 2014? Und da ist Sid Vicous’ Song-Version auf einmal die Titelmusik für den neuen Acura TLX – wird also dazu benutzt, ein Auto zu verkaufen, als besonders cool, rough und individuell. Was ich damit sagen will ist: Subversion als Politik bringt es einfach nicht. Die wird letztendlich vom Kapitalismus absorbiert.“ Jette Gindner

Wie kriegt man diesen Fleischwolf Kapitalismus zum Scheitern? Indem man die von ihm vorgelegten Tempi und Kräfte umlenkt in ein anderes Tun? Kann ein Fleischwolf etwas anderes sein als ein Fleischwolf? Ist die Hoffnung, die in ihm wirksamen Kräfte aufnehmen und umlenken zu können, nicht illusorisch angesichts der Tatsache, daß diese Kräfte eben Fleischwolfkräfte sind und nicht Baumschulkräfte. Sicher: ich kann Energieformen ineinander überführen, aber dazu muß ich wissen was ich will, eine Zielvorstellung haben, die genau bestimmt, wos langgeht und was zu tun ist, sonst verpufft mir die Energie ins Ungewisse. Steckt da erstens nicht gar die Hoffnung dahinter, so gegenwartseitel weitermachen zu können wie bisher, dabei aber das kapitalistische Übel herausfiltern zu können in voller Fahrt und zweitens eine verborgene Hoffnung auf den Direktorenjob. Oder drittens eine Art von Lähmung: nicht mehr anders zu können, als Leben in voller Fahrt. Denn Geschwindigkeit knechtet natürlich – sie verbietet dir, ist sie hoch, den Absprung. Akzelerationismus als Ausfahrt aus dem Unvermeidlichen, indem das Unvermeidliche doch noch umformuliert wird, werden kann, nämlich aufgrund des anliegenden Tempos. Wir retten uns, weil nur das Tempo uns zu Rettern machen kann.

Ich glaube nicht, daß sich hier pragmatische Ansätze verbergen, die einen globalen Niedergang des Kapitalismus bewirken könnten. Ich empfehle den Blick in den Weltspiegel und bspw. auf die Gewinnung von Lithium in den Anden und hier die empathische Einnahme der Lebenssituation eines Minenarbeiters in Puno in Peru. Während die Akzelerationisten in Echtzeit hoffen, das Lithium könne sozusagen vom smartphone aus – rückwirkend – seinen sauberen Abbau evozieren, ist der Bevölkerung in Peru längst klar, daß sie mit der Ausbeutung eine in die Mechaniken des Kapitalismus eingeklinkte Zukunft übergestülpt bekommen haben, die ihr Land verdreckt und ausgetrocknet zurücklassen wird. Das Tempo ist aufgenommen und jeder User von smartphone, Laptop, E-Mobilität trägt dazu bei. Auch wenn er darüber schreibt, daß er sozusagen innerhalb des Tempos das Tempo umnutzen will zu einem verträglichen Ausgang – was für Akzelerationisten nicht Entschleunigung heißt. Der Grundgedanke der Akzelerationisten ist hier sichtbar: sie glauben nicht an die Geichwertigkeit der verschiedenen Geschwindigkeiten, sondern erleben die ihre als die maßgebliche. Man sollte bedenken: Geschwindigkeit generiert sich immer aus dem Jetzt und ist ein Teil einer Überwindungsgeschichte, das Denken von der Zukunft her ist aber genau so eine Geschichte, die allerdings im luftleeren Raum handelt und physikalisch nicht wiederzufinden in der faktischen Realität der Welt. Der einzige Fakt, der zu den erhofften Geschwindigkeiten des Akzelerationismus führt, ist ein im Hier und Jetzt gedachter: die Geschichte hielte nichts bereit, was zur Lösung führen könnte, einzig das Denken von der Zukunft her könne etwas Neues generieren. Der erdachte Fakt soll die Lösung bringen. Dieses Brot, das vor mir liegt, mit einer Scheibe köstlichem Käse darauf, ist die falsche Lösung für mein Problem des Hungers. Sagt der Akzelerationist.

Armen Avanessian in einem Interview: „Die Vergangenheit ist unvorhersehbar“. Aufgrund dieses Satzes von Quentin Meillassoux habe ich überhaupt angefangen, mich für Spekulative Theorie zu interessieren. Heute glauben die meisten Leute wir hätten Schwierigkeiten, die Kontrolle zu gewinnen, weil alles so schnell geht. Meine Hypothese ist aber, dass sich das Wesen der Zeit massiv verändert hat, und wir haben noch nicht gelernt mit dieser Asynchronität umzugehen, dass die Zeit gar nicht aus der Vergangenheit kommt, sondern von der Zukunft her auf uns zusteuert. Natürlich kann man sagen, Preise waren schon immer Annahmen über die Zukunft, die dann rückwirkend die Gegenwart beeinflusst haben. Aber ich denke, wir leben vollständig in einem derivativen Paradigma, die Struktur und der Rhythmus von algorithmic high frequency trading bestimmen unsere Zeit. Die Frage ist, welche Agency wir Künstler und Philosophen unter diesen Bedingungen noch haben.“

Zunächst ist es eine Binse, daß die Zeit von der Zukunft her auf uns zusteuert. Neues kann es nur geben, weil es im Vorgriff nichts gibt, das so bereits vorhanden war – sonst stünde die Zeit still. Das dürfte sie übrigens auch. Es ist nicht gesagt, daß Dinge sich ändern müssen. Aber sie tun es und zwar aus einem sehr simplen Grund: weil sie sich bewegen. Solange es Bewegung gibt, wird es also absehbar Zustände geben, die es zuvor nicht gab. Aber das ist nicht wirklich die Frage, sondern die Frage ist: Kann es eine Zukunft geben, die nichts mit der Vergangenheit zu tun hat? Das kann es mit Sicherheit nicht. Nur solche Prognosen für die Zukunft zeigen sich sinnvoll, die ein Abbild der Bewegung in Form der Geschichte des Dings stillschweigend beinhalten.

Das Denken der Zukunft ist übrigens genauso gegenwärtig wie das Denken über Vergangenes, es geschieht im gleichen Jetzt, alle Erregungsmuster sind fortan vorbei und das eben noch Gedachte ein Teil der Vergangenheit. Wenn Gedachtes Einfluß auf das Hier und Jetzt nimmt, dann deshalb, weil es hier und jetzt geschieht und damit nichts vorweg nehmen kann. Die gedachte Utopie wirkt, weil sie im Jetzt gedacht wird und das Vergangene als faktischen Partner hat, und nicht weil sie neu und herbeigedacht ist.

Eigentlich kann man sagen: es ist aus der Vergangenheit herzuleiten, daß es akzelerationistisches Denken dereinst geben würde, weil das Verweilen in dem Maß, wie man beschleunigt, zu einem Andauern der Reise wird, die ihr Ende in der Unverbindlichkeit hat: Das Jetzt ist nicht mehr entscheidend, sondern nurmehr das mögliche Jetzt, das Angebot ein Hier jederzeit ersetzen zu können mit einem nächsten. Das ist eigentlich Asynchronität in Reinkultur, weil hier wirklich unter fehlender Abstimmung Nächstes herbeigedacht und –gewünscht wird, wo doch gerade erst manifest wurde und sich entfaltete, was bislang eingefaltet war. Entfaltungsprozesse werden übergangen zum Preis der Spekulation. Dieser Turn ins Spähertum, der die Wirklichkeit des Auffaltens immer nur als Basis einer nächsten Hausse oder Baisse erkennen will, instrumentalisiert die Welt noch extremer als der naturwissenschaftlich-technische mit seinen Regelableitungen. Zukunft wird erspäht als passend oder nicht passend und entsprechend Maß genommen – dadurch wird zwangsläufig eine richtige Zukunft von einer falschen Zukunft zu unterscheiden sein und das führt sehr schnell in totalitäre Strukturvorstellungen und verengte Problemhorizonte. So gibt es bereits linke wie rechte Akzelerationisten, weil es tatsächlich zu einer ideologischen Frage gerinnt, was das nächstpassende Modell sein soll/darf/muß. Es leitet sich nicht mehr als geschichtlich erwiesen und passend im Rahmen der Zeit ab, sondern aus vorgedachter Priorität, die gesetzt sein will. Behauptet.

Insofern ist der Akzelerationismus ignorant und kümmert sich nicht und erinnert von daher an einen urbanen Typen, der alldieweil als Hipster umhergeht und den die moderne Linke mittlerweile als Mitschuldigen all der Verschleppungen von möglicher Revolte und wirklicher Revolution ausgemacht hat. Vincent Gengnagel schildert auf phase-zwei.org wie er einen Hipster charakterisieren würde: „Er suche ständig nach dem jeweils neuesten Ding, bis es ihm vom Mainstream entrissen werde. Vom Geheimwissen über die unbekannte Band, den besonderen Kaffee, die abgefahrene Ausstellung oder den heißen Internet-Scheiß verspreche er sich Individualität, Selbstverwirklichung und Chancen.“ Aber seltsamerweise ist der Hipster nie da, nie greifbar, nie im Recht oder Unrecht, sondern ironisch, distanziert, stets auf dem Sprung zum nächsten nutzbaren Hype. Ein bißchen wie der Akzelerationist, der keine Antworten hat und keine Vision, dem allein das Tempo und nicht die Sache der immerwährende Quell einer garantierten Erneuerung ist. Lydia Jakobi zieht ebenfalls auf phase-zwei.org in ihrem Essay „Die Destruktivität von Bärten und Jutebeuteln“ eine bemerkenswerte Parallele zu Walter Benjamins kleiner Schrift Der destruktive Charakter, welche im Kontext der ausgehenden Weimarer Republik etwas darstellt, was in der Beschreibung der Eigenschaften nahe an das herankommt, was im 21. Jahrhundert als wesenhaft für den Hipster gilt: „Er ist »jung und heiter«, »immer frisch bei der Arbeit«, vermeidet aber die »schöpferische«. »So wie der Schöpfer Einsamkeit sich sucht, muss der Zerstörende fortdauernd sich mit Leuten, mit Zeugen seiner Wirksamkeit umgeben. […] Dem destruktiven Charakter schwebt kein Bild vor. Er hat wenig Bedürfnisse, und das wäre sein geringstes: zu wissen, was an Stelle des Zerstörten tritt.“ Was bei den Akzelerationisten konstruktiv und unbedingt weltoffen klingt, ist bei Benjamin positive Destruktivität als Wegbereitung in eine veränderte Welt. Offenheit kann aber auch eine Maske für Beliebigkeit sein, Hauptsache mir geht es dauerhaft hip, Aktionismus um des Aktionismus willen, nur ja nicht stehen bleiben bei sich oder anderen. Nur ja nicht gewahr werden, was wirklich Sache ist, und das vernünftigste Gebot der Stunde in Anbetracht der globalen Scheiße.  Da es kein Heil gibt, gibt es auch keine Heilung. Aber die Frage ist nicht, ob es ein Heil gibt, sondern ob das, was wir tun, uns in dem, was uns menschlich macht, voran bringt, vertieft, oder ob es andere Menschen aus uns macht, die manche von uns vielleicht gar nicht sein wollen.

„Der destruktive Charakter ist jung und heiter. Denn Zerstören verjüngt, weil es die Spuren unseres eigenen Alters aus dem Weg räumt; es heitert auf, weil jedes Wegschaffen dem Zerstörenden eine vollkommene Reduktion, ja Radizierung seines eignen Zustands bedeutet. Zu solchem apollinischen Zerstörerbilde führt erst recht die Einsicht, wie ungeheuer sich die Welt vereinfacht, wenn sie auf ihre Zerstörungswürdigkeit geprüft wird. Dies ist das große Band, das alles Bestehende einträchtig umschlingt. Das ist ein Anblick, der dem destruktiven Charakter ein Schauspiel tiefster Harmonie verschafft.“ Walter Benjamin

„Ein 68 Kilogramm schwerer Mann soll drei kiloschwere Kanonenkugeln auf einmal über eine hohe, knarrende Brücke transportieren, die nur 70 Kilogramm tragen kann. Wie macht er das? Die klassische Lösung dieses alten Rätsels lautet: Er jongliert unterwegs; denn da er zu jedem beliebigen Zeitpunkt höchstens eine Kugel in jeder Hand hat, hält er die Belastungsgrenze gerade noch ein.“1 Das ist  d i e  Hipster-Lösung. 

Ich mag Armen Avanessian, u.a. für seine spekulative Poetik und für den Begriff des Gegenwartschwunds und für eine Menge kluger Gedanken, ich bin unbedingt bei ihm in seiner Kritik des Kapitalismus, aber ich bezweifle, daß der Akzelerationismus ein brauchbarer Ansatz ist. Er scheint so ein Versöhnungsding, das den Status der Jonglage jener Bequemlichkeiten retten will, die genau in den technologischen Errungenschaften aufgehoben ist, die exzessiv genutzt werden sollen und die eigentlich viel zu billig genossen werden. Zu billig heißt auch zu schnell. Armen Avanessian verknüpft hier sehr clever und wahrscheinlich zutreffend: die beschleunigte Welt, der Fortschritt, ist nicht logischerweise eine Folge des Kapitalismus, sondern es kann und soll diese beschleunigte, fortschrittliche Welt auch in der kommenden, nichtkapitalistischen geben. Also man muß, wenn man sich gegen den Kapitalismus entscheidet, sich NICHT gegen technologischen Fortschritt entscheiden – das gehört nicht wirklich zusammen. Wobei jeder Blick in die Geschichtsbücher sofort zeigt, wie stark „unsere Beschleunigung“ des technologischen Fortschritts an kapitalistische Grundstrukturen und vor allem deren rücksichtslos verheerenden Zügen gebunden ist.

 Den Akzelerationismus gibt es in der Gegenwart und es zeugt von irgendetwas, daß es ihn genau jetzt in dieser Art und Weise gibt, wo wir uns offensichtlich auf Kippmomente zugetrieben finden. Die Chancen, daß wir uns sehr bald tatsächlich entscheiden müssen für das, was wir wollen, und daß wir nicht weiter in hipsterischer Distanz über und neben und amüsiert bei den Dingen stehen können, sind groß – der Akzelerationismus scheint mir ein tricky Ausweg zu sein, die eigene Privilegiertheit nicht loswerden zu müssen, der zwar enorm intelligent ist, aber niemandes Hüftbewegung etwas bringt außer der desjenigen, der sie denkt. Der solche Auswege denkt, sollte den Menschen mitdenken, der ein smartphone wirklich in einer krankhaften Weise nutzt, so wie jemand mehr Cola trinkt, als ihm gut tut. Und davon gibt es wohl  heutzutage mehr als jene, die den manchmal therapeutischen Nutzen einer Cola genießen.

Es ist vielleicht zu billig die Gegenwart auf folgende Art und Weise zu analysieren: der technologische Fortschritt hat Wunderbares hervorgebracht, das ist kein Verdienst des Kapitalismus an sich, - und weil ich diesen technologischen Fortschritt für mich auf eine Weise nutzen kann, die für mich absolut koscher ist, mithin sogar „weltverbessernd“ , ist es Blödsinn gegen diesen Fortschritt zu sein und rückwärtsgewandt raus zu wollen, also zu entschleunigen anstatt weiter zu beschleunigen. Eigentlich ist ein Entschleunigen ein Rechtgeben den Miesepetern, den Technikfeinden , die leider Kapitalismus mit Technik verquicken, nach dem Motto, mit der Technik werden wir auch den Kapitalismus los, mit der Entschleunigung besiegen wird das Kapital. Die Akzelerationisten wollen den Fortschritt zurück als eine menschliche und keine kapitalistische Strebe und sehen das Gute, das damit/darin möglich ist – es ist allerdings erst dann wirklich möglich, wenn der Zugriff des Kapitalismus auf die Beschleunigung eliminiert, sprich: Der Kapitalismus eliminiert ist.

Wo ich Armen Avanessian absolut nicht zustimmen kann ist, daß er lokales Leben in einem lokalen Jetzt als reflexgesteuert diskriminiert, wenn dieses Leben den ganzen fortschrittlichen Bahnhof nicht will. Erlebniswelten sollen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Ganz schlimm ist, daß AA hier die Karte „rechts“ spielt und die Technikkritik eines Landlebenden mit der Flüchtlingsangst eines Rechten gleichsetzt (hier in Minute ca. 24) und er jeden einzelnen verpflichten will, seine persönliche lokale Situation mit globalistischen Konzepten abzugleichen. Das sind für mich schon fast faschistische Anwandlungen: wenn du schon der Dumme aufm Land bist (Avanessian spricht von „folkloristischem Lokalismus-Kitsch“), dann sorg bitte dafür global stimmig zu agieren, indem du die technischen Errungenschaften nutzt.

Ich lebe auf dem Land und bin sehr froh und mit mir selbst einig darüber kein smartphone zu nutzen, ich komme gut damit klar, versäume sicher einiges, aber bin deswegen auch weniger gefesselt, weder in Nostalgie noch in Fortschrittsglaube. Meinem technischen Zurückbleiben liegt eine Freiheitsentscheidung zugrunde. Nun diese meine kritische Distanz zu einem smartphone einen Satz später mit der regressiven Attitüde eines rechten Rassismus gleichgesetzt zu sehen, ist schon sehr starker Tobak. Überhaupt: Wer sich der Technik verweigert, bleibt der Welt etwas schuldig? Ich sehe es genau anders herum, wer sich zu sehr der Technik öffnet, bleibt dem Rest der Welt etwas schuldig. Weil alle mitbezahlen. Und empfinde es erst recht als regressiv Fortschrittlichkeit immer nur als beschleunigt denken zu können. Wir sollten Denkversuche machen, die uns und den Weltprozessen angemessen sind, und nicht den Versuch die Weltprozesse uns und unseren Ideen von Fortschritt anzupassen.

Die Frage muß immer wieder erlaubt sein: Wo kommen wir her? Und müssen wir irgendwo hin?

Sie steht vor der Frage, ob Dinge schneller geschehen, als wir sie denken können. Mögen Algorithmen ihre Fakten in einem nicht einholbaren Takt auswerfen können, hat es trotzdem keine Konsequenz auf die Stimmigkeit meines Zeitempfindens. Der Konflikt ist groß – facebook, google & co. wissen für mich schon eine Antwort, noch bevor ich sie komplett eingetippt habe – aber das ist nicht die Frage. Die Frage, die ich eintippe, ist eine völlig andere, als die, die mir beantwortet wird. Der Zeitvorsprung, den Computer haben, ist gleichzeitig ihr Elend, denn sie haben diesen Vorsprung nur zum Preis einer Formel (was übrigens ein ganz exakter Handel mit der Vergangenheit und nicht mit der Zukunft ist), sie haben gar keinen wirklichen Zeitgewinn, sondern nur einen aufgesetzten Pseudogewinn. Sie verstehen nicht wirklich und sind bei mir und bei der Lösung meines Problems, sondern sie sind langsame, mich und meine freie Entfaltung verhindernde Arschlöcher, die keine Ahnung haben von irgendwas. Sorry, mein Ärger ist eindeutig, jedesmal wenn ich vom Rechner entsprechend „bedient“  werde.

Aus Rechengeschwindigkeiten Zeitkonflikte/Zeitkomplexe abzuleiten, wie das Akzelerationisten tun, sind billige Übergewichtungen technischer Potenzen. Was mir der Apparat andient, ist nicht jenseits meiner Zeit, sondern innerhalb meiner Zeit ein Affront. Er hat mich nicht überholt, sondern noch nicht mal eingeholt, tut aber so, als hätte er es. Diese Pseudopotenz ist erbärmlich. Und wenn es um Geschwindigkeit geht: Licht als Evolutionsbeschleuniger ist seit je ein Zeitöffner und kein neues Phänomen. Und nur wer eine Gegenwärtigkeit aus dem Beschuß mit maximaler Geschwindigkeit heraus generieren kann, hat die Chance auf Dauer. Das tut das Leben seit Jahrmillionen. Der eigene Moment als Komplexitätsmanager und Überlebensgarant ist keine Erfindung eines Algorithmus, sondern eine Folge aus der Fähigkeit innert Höchstgeschwindigkeiten Welten zu kombinieren, zu bauen, die weniger schnell und damit berechenbarer und verläßlicher, haltbarer sind. Der eigene Moment ist also ein Muster für die Fähigkeit Zeit zu konstruieren. Der Moment des Steines ist nur ein Moment, aber er kommt aus menschlicher Sicht dem der Ewigkeit recht nahe: Alice:“How long is forever? – Rabbit: Sometimes just one Second“.

„„Die Vergangenheit ist unvorhersehbar“. Quentin Meillassoux

Ein wundervoller Satz. Es ist nicht abzusehen, was geschehen sein wird. Das Vor und das Nach der Gegenwart sind Zeiten, die nicht vorhanden sind, und was zu einem Nach wird, kann man zuvor nicht wissen. So etwas nennt Andreas Weber das „Reich der Lebendigkeit“, in dem naturgemäß passiert, was naturgemäß passiert. Mehr gibt es offensichtlich nicht. In der Zeit zeigt sich das Lebendige und es ist letzten Endes unvorhersehbar, nicht weil es zufällig wäre, sondern weil es genau anders als zufällig, nämlich bis in allerkleinste Details in alle Leben und Welten verquickt ist und dabei allerkleinste Variationen machtvoll verschiedene Versionen  erzeugen können. Lebendigkeit als Begriff wäre derjenige, der dem der Beschleunigung am kräftigsten entgegen stehen könnte: sie braucht das technische Tempo nicht, umgekehrt aber ist es der Fall. Der Einfluß der unbelebten Welt technischer Ergänzungen auf die lebende Klientel sollte nicht der maßgebliche sondern ein in die übrige Welt eingemessener sein.

Zurück zum Jonglieren: „Noch kann kein Roboter so jonglieren, daß es auch nur annähernd menschlich aussieht. Aber Wissenschaftler befassen sich damit erst seit kurzer Zeit und erzielten gleichwohl bemerkenswerte Fortschritte. Vielleicht können wir schon bald fragen: Wie kam der Roboter mit drei Kanonenkugeln über die knarrende Brücke?“ (s. Fußnote 1) – wie kann der Sinn der Beschleunigung darin liegen menschliche Fähigkeiten technisch nachbilden zu wollen und diese Nachbaubegabung als enormen Fortschritt und technologische Offenbarung in einem Denken abzufeiern, das ein unbedingtes Fortschreiten auf diesem Weg als Teil der Lösung sieht. Wie (oder besser: auf was) beschränkt muß die Perspektive sein, die die Unvollkommenheit der Imitatio mit Lorbeer belohnt. Ist es eine Perspektive der Gottgleichheit und der damit letztmöglichen Freiheit: völlig losgelöst von der Erde schwebt der Mensch durch Zeit und Raum. Ist es letztendlich der tiefe Wunsch ohne die verdammte Welt auskommen zu wollen und für alle Mühen Stellvertreter zu haben, technologische Gesellen, die an Mühsal abfangen, was immer anfallen könnte – also der Wunsch zu dauern und nichts als zu dauern, befreit von jeder unbehaglichen Konfrontation mit dem, was man Welt nennt. Zu Überdauern, also mehr zu dauern als andere, und zwar im selben einzigen Moment, immer und jederzeit der Gewinner zu sein. Daran ist ja im Prinzip nichts Böses, Kurioses, Unverständliches, sondern anscheinend etwas Urmenschliches und es deckt sich im Prinzip mit fast allen Perspektiven, die philosophisch-politische Gebäude aufspannen. Aber genau das will ein Hipster bspw. und vielleicht auch der Akzelerationist gar nicht sein: gewöhnlich, genau so wie andere, kein Deut besser und kein Deut anders. Der Akzelerationist hat seine eigene Idee vom Überdauern und wie es am sinnvollsten vonstattengeht:

„Die einzige Möglichkeit, die wir haben, ist einen offensiven und auch optimistischen Umgang mit den neuen Technologien zu haben. Nur dann können wir sie auch beeinflussen.“ Armen Avanessian.

Wenn ich über Zeitnotwendigkeiten rede, möchte ich wissen, welche Zeittheorie die plausibelste für denjenigen ist, der sie mir erläutert: Der Akzelerationist möge mir also sein Verständnis von Zeit darlegen und schon daran werde ich sehen, ob es basale Unterschiede gibt, die mir Brücken verstellen. Denn auch der Akzelerationist will ganz gewiß das Jetzt verbessern. Nur ist sein „Jetzt“ vielleicht in einem anderen Rang aufgehoben wie das meine. Das seine ist vielleicht eines, dass die Ideen der Zukunft braucht, um unverbindlich für die Gegenwart bleiben zu können, eine prophetische Attitüde, die alle möglichen Erlösungsgedanken verschiebt „und von der Zukunft her denkt“. Es ist sicher keines, das prinzipiell das Jetzt anerkennt als Schule der Geschichte, als Pyramidenspitze, als letztmögliche Verwirklichung und vielleicht auch Verirrung aller Narration (inclusive der darin erzählten Utopien). Der Akzelerationist will die Momenthoheit nicht vom Fakt, sondern vom Möglichen her erringen und scheidet deshalb aus meiner Sicht von jedem realistischen Wettbewerb um das „Jetzt“ der Menschen aus. Weil er sich gemein macht mit den Vielversprechern.

Das Prophetische, die Erlösungsgeschichten haben wir lange genug gehabt – viel versprochen und nichts gehalten. Mit Erleichterungsversprechen Menschen geködert. Hört bitte damit auf Menschenerzeugnisse weltverträglich zu denken. Sie sind menschenverträglich.

Ich möchte den Salat auf dem Tisch sehen und genau wissen, warum er sich so anrichtet, wie er es genau jetzt tut. Und alles, was auch nur den Anschein macht, irgendetwas dabei nicht sehen zu wollen und irgendetwas dabei auszuschließen, weil wir es nicht bis ins Letzte kritisch hinterfragt haben, scheidet für mich persönlich aus als gangbare Richtung zu gelten. Genau diesen Anschein macht der Akzelerationismus. Ich bin enttäuscht.

FM, 01.08.2019

  • 1. >Peter J. Beek und Prof. Dr. Arthur Lewbel „Jonglieren“ auf spektrum.de. Dort weiter: „Der Unglückliche, der sich auf solche Argumentation verließe, würde samt Brücke in den Abgrund stürzen. In dem Moment nämlich, in dem der Jongleur eine Kanonenkugel hochstößt oder auffängt, übt das Gesamtsystem aus Mann und Kugel eine nach unten gerichtete Kraft aus, die größer ist als sein Eigengewicht.“

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