Essay

Die Schwierigkeiten eines Chorgesangs, Teil 1

Hamburg

Es gab öffentliche Einwände von meinem Kollegen Stefan Schmitzer zum Blasenschwäche-Essay, und seine Gegenthesen zu den zwei in der Hauptsache kritisierten Punkten verstehe ich so:

  1. Literarische Sprache kann zur Erkenntnis empirisch wissbarer Tatbestände nichts beitragen.

  2. Die Analyse, Humanismus sei der Fundamentalismus unserer Kultur, ist ein Begleitgeräusch, das Stimmung macht, die zum Dschihadismus führt.

Schön, daß der Kollege sich den Aussagen in meinem Essay widmet und fast schade, daß er nur zwei Punkte aus dem ganzen Aufsatz für diskutabel hält. Ich halte noch sehr viel mehr Punkte für absolut bedenklich und diskutabel. Was schon auf den ersten Schmitzerschen Einwand anspielt, der meine Skepsis gegenüber den impliziten Annahmen der etablierten wissenschaftlichen Denkweisen nicht angebracht findet, weil sie sich am Ende immer anhand des überprüfbar Wirklichen, also der Resultate des Funktionierens, als unbegründet herausstellen müssen. Schmitzers Vertrauen in die „Richtigkeit“ des naturwissenschaftlichen backgrounds ist ein Grundgefühl, das ich nachvollziehen kann, aber leider nur ein Gefühl. Wenn ich den inneren Haken entferne und mich mit den zugrundeliegenden Details beschäftige und ihre Stimmigkeit abfrage, zeigt sich plötzlich ein Bild der ungenauen und willkürlichen Annahmen, zeigen sich Denkprobleme.

Ich bin ein bißchen enttäuscht, ich dachte ein junger Kollege viel näher am Puls der Zeit, hätte hier eine noch viel weitergehende Skepsis als ich, müßte diese (bei Betrachtung der heute greifbaren Erkenntnisse) zwangsläufig haben und es sei tatsächlich ein Problem der jüngeren Generationen, die Verläßlichkeit der „wissenschaftlichen Erkenntnisse“ immer wieder anzweifeln und relativieren zu müssen.

Stattdessen serviert Stefan Schmitzer ein „Wir“, das die Zuständigkeit delegiert hat und kein Störfeuer gestattet, wo Wolkenkratzer in den Himmel ragen. „Wir“ haben kein Physikstudium absolviert, also haben wir keine Kompetenz. Oder den Satz andersherum: wir haben nur und ausschließlich dort Kompetenz, wo wir sie durch ein Studium nachweisen können. Die Gebiete sind sonst nicht sicher betretbar.

Hier trifft Schmitzer einen zentralen Punkt: wem ist es erlaubt über was zu reden? Ich bin heute der Meinung, daß wir uns immer mehr und immer lauter über Denkgebote und -verbote hinwegsetzen müssen, daß wir das mehrheitlich tun sollten, denn meines Erachtens sind einige Delegationen unterwegs in fragwürdigen Gegenden, z.B. wenn man an Gentechnik oder Kernenergie denkt und auch wenn man die Billionen bedenkt, die im Large Hadron Collider verbraten werden, um Empirie zu erzeugen, wo es zunächst um theoretische Klarheit gehen müßte. Natürlich kann man die basalen Diskussionen auch dort belassen, weil „Wir“ glauben keinen kompetenten Einblick haben zu können.

Ich habe die Erfahrung gemacht, daß Kompetenz an der Offenheit und Klarheit des Denkens abzulesen ist (und nicht an expliziten Nischenkarrieren) und habe beim Schreiben der Blasenschwäche für mich entschieden, was man darf und was man nicht darf in einem Essay (und genau das darf man in einem Essay). Z.B. halte ich mich raus aus Philologie und Germanistik, weil „Ich“ da keine bis kaum Einblicke habe und ich würde mich bis aufs Skelett blamieren. Insofern passe ich also nicht in die Nische Literatur. Und ich passe auch nicht in die Nische Physik. Der traurige Schluß ist: ich habe niemandem in irgendeiner Nische etwas zu sagen, außer mir in meiner eigenen. Wenn ich also kein ausgewiesener Fachmann bin, der seinen delegierten Rechten und Pflichten nachkommt, dann sollte ich lieber meinen Mund halten.

Mir gefällt es dennoch, von einer Nische in die andere zu blicken, den eigenen Raum zu erweitern. Von der Lyrik zu Nietzsche, vom Willen zur Macht zum Ausdruck des Ichs und den Räumen der Welt etc. etc. Die Sprünge sind nicht willkürlich. Man kann, wenn man das will, einiges zusammen denken und ein Gefühl dafür bekommen, was es mit einem selber zu tun hat. Raum ist ein großes Thema, das man von vielen verschiedenen Seiten her anreißen kann und auch muß, denn es begegnet uns in jeder einzelnen Sekunde. Gerade die Weggabe von Themen in Spezialgebiete hat zur Folge, das wir ohne deren 3D-Brillen nur noch verschwommen sehen.

Es macht wahrscheinlich nicht viel Sinn Stefan Schmitzer ein wirklich simples Beispiel zu geben, wo und wie wissenschaftliche Sichtweisen deutlich an Grenzen stoßen, aber ich will es probieren. Dabei lade ich zu einem Gedankengang ein, der einige Lesezeit in Anspruch nimmt, er spaziert wieder, es wäre also jetzt der Zeitpunkt mit dem Lesen dieser Sätze aufzuhören …

denn ich bestehe weiterhin darauf, mich Fragen auszuliefern zu dürfen, die andere als ihr Besitztum ausgewiesen haben. Ich möchte nicht wildern, sondern ungerüstet und wehrlos umhergehn. Es besteht keine Explosionsgefahr, ich entflamme nichts außer meiner Neugierde. Und wenn ich mich kundig mache, dann nicht um zu glauben, sondern um zu wissen.

Glauben ist gut für Verirrte, die den Wald nicht kennen. Wissen macht den Gang entspannter und die Welt genießbar. Hierin liegt der Grund der nicht diskutierbaren Strenge vieler Religionen, es gibt unberührbare Sätze. Religionen ersetzen Wissen dort, wo wir keines haben können, eine mentale Rüstung bringt den Gottesmann durch die Welt und in den Garten Eden. Dort kann er dann ablegen. Der paradiesseits Gelangte ist fern der Zweifel gelandet und wandelt umher in strahlender Gewißheit. Von hier geht es nirgendwo anders mehr hin und ist alles von Gottes Hand geprüft, jeder Eindringling wird im Schuldenstand korrigiert, alle beginnen ihr Ende bei Null.

Der hierseits Wandelnde hat jedoch den Stress das Leben begehen zu müssen und dabei nicht vom Weg abzukommen, er muß den Verirrungsangeboten widerstehen und neben dem Schilderwald der Priester den Gottespfad suchen. Der Glaube erleichtert dir die Richtungswahl, er nimmt dir die Angst vor der falschen Entscheidung und das Problem des womöglich falschen Wissens. An den Glauben delegieren wir unseren Blick aufs Fundamentale. Kein aktives Schauen nötig, Leute, es ist alles geklärt. Wir habens im Griff.

Das sind Sätze, wie sie auch von Mathematikern und Physikern kommen, wohlwissend, daß man sich in nichts wirklich sicher ist. Es gibt brauchbare Modelle, sie beruhen auf Annahmen, und können stehen und fallen mit dem einen oder anderen Experiment. Allerdings entscheidet die Stimmigkeit der Modelle keineswegs darüber, ob nun morgen kein Apfel mehr vom Baum fällt. So weit reicht die Erklärungswucht nicht. Es wird alles weiter funktionieren wie bisher, aber wir suchen die Bestätigung des richtigen Blicks. Auch die Wissenschaft richtet ihren Blick aufs Fundamentale.

Um die derzeitigen physikalischen Standardmodelle (also jene, die von einer breiten Mehrheit von Wissenschaftlern als „gültig“ akzeptiert werden) zu retten, erfindet man dunkle Materie und dunkle Energie und hofft darauf, Experimente ersinnen zu können, die einen empirischen Beweis hergeben könnten. Als evidentesten Hinweis wertet man aktuell Computersimulationen, die die kosmologische Erscheinungen in die gewünschte Richtung hin „erklären“. Das ist in etwa so, wie wenn ich das Entstehen von Schaum simuliere und feststelle: Hurra – ich habe Schaum. Aber die Situationen & Ingredenzien, die ihn erzeugen können, sind relativ beliebig.

Die Physik versucht einen Entscheidungsbaum aufzuzeichnen, der erklärt, wie wir zu den Erscheinungen kommen. Dabei haben wir zuerst die Welt der Phänomene, also die Information über Weltgeschehen und schließen rück auf ihren Ursprung. Wir suchen – um ein von Umberto Eco angeführtes Beispiel aus der Informationstheorie zu benutzen – quasi den Mörder, und je mehr Personen für die Tat in Frage kommen, desto spannender fällt die Antwort aus.

Achtung Sprung.

Eco schreibt: „Die Information stellt die Auswahlfreiheit dar, die bei der Bildung einer Botschaft vorliegt, und muß folglich als statistische Eigenschaft der Quelle der Botschaften betrachtet werden.“ Je mehr Entscheidungen zur Auswahl stehen, desto mehr „Wert“ (in der Informationstheorie) hat die Information über die letztlich getroffene Wahl. Welchen Inhalt die Information dabei überträgt spielt keine Rolle, ihr „Wert“ wird nur an der Schachtelanzahl bemessen, aus der sie sich im Nacheinander auspacken läßt

Man geht davon aus, daß die Schachteln in der Regel gleichwahrscheinliche Alternativen beinhalten, weil, so Eco, „die Entropie eines Systems nämlich der Gleichwahrscheinlichkeitszustand ist, zu dem seine Elemente tendieren“ (was mehr oder weniger sagt, die Welt kennt ursächlich keinen ausgezeichneten Zustand, sondern zeichnet sich aus einem „zufälligen“ Entscheidungsbaum der gleichwahrscheinlichen Alternativen). Allerdings nicht wahllos: An einer Quelle kann nur geschehen, was ihre Elemente durchzuspielen bereit oder geeignet sind. Aus Murmeln kann ich keine Pyramide bauen. Hier spiegelt sich der Gedanke der Physik, aus dem Kleinsten auch das Große erklären zu können, der vom Prinzip her nicht falsch ist, aber es spiegelt sich auch das „Gespenst der logischen Folge“, das hinter jeder Entscheidung steht.

Ich nenne es ein Gespenst, weil wir es als Gestalt einer Information kennen, ohne tatsächlich zu wissen, was es ist, und es ist ein Relikt unbewußterer Tage mit vereinfachter Sicht.

Was für uns gleichwertige Ergebnisse (= Ereignisse) bspw. beim Würfeln sind, sind in Wahrheit alles völlig von einander verschiedene Einzelereignisse, die eigene Orte, Endlagen, Kontaktflächen zum Tisch etc. aufweisen. Nur sind diese Details für uns nicht von Interesse und wir nehmen nur die Anzahl der Augen auf dem Würfel als relevantes Ergebnis wahr. Das Ereignis „drei Augen oben“ ist ein Sammelbecken von unendlich vielen voneinander verschiedenen Wurfereignissen, wobei manche Würfe, die zu einer „drei“ führen, in ihren Entstehungsattributen sehr viel näher mit einem Wurf, der bspw. zu einer „eins“ führt, verwandt sein können als jene Würfe, die wir als „gleichwertig“ erkennen und in eine Klasse hineinzählen, weil ihre am Ende lesbare Signatur übereinstimmt. Das ist, was ich mit „Gespenst der logischen Folge“ meine.

Es gibt niedrig geworfene „Dreien“, holprige, übern ganzen Tisch gestotterte, es gibt im hohen Bogen quirlig oder schwerfällig erzeugte „Dreien“, die alle in ihren Anfangs- und Ausführungsbedingungen von einander unterschiedlich sind und noch dazu in den Topoi ihrer Endlage. Sie alle zählen wir als Ereignis „Drei“ und ermitteln für dieses Ereignis ein statistisches Mittelmaß – eine Wahrscheinlichkeit.

Wir könnten auch hergehen und die Wurfbahn als relevantes Maß nehmen – jener Wurf „gewinnt“, der einer bestimmten Wurfbahn am nächsten kommt und sich dabei genau zweimal um sich selber dreht (wozu wir äußerst aufwendige Meßmethoden bräuchten – eine Hochgeschwindigkeitskamera etc.), oder die Endlage: jener Wurf gewinnt, der die Kanten des Würfels am ehesten parallel zu den Kanten des Tisches ausrichtet. Die „ausgezeichneten“ Ergebnisse hängen also davon ab, was WIR an Bedeutung als „sinnvoll“ installieren.

Das Interesse an einer Bedeutung, die sich an unseren Bedürfnissen und Sichtweisen orientiert, ist immer ein legitimer Antrieb unserer evolutiven Selbstentwicklung, aber es mag sein, daß die Zeit uns gerade lehrt, daß dieser Antrieb nicht immer weit genug reicht, weil wir durch ihn das uns Bedeutungsvolle aus der Welt herauslutschen und eine verarmte Hülle zurücklassen - daß, um auf unser Beispiel zurückzukommen, Maßgebliches für den „erfolgreichen“ Würfelwurf nicht mehr in den eigenen Gewinnphantasien stecken darf, sondern in seiner Bedeutung für den Kontext: wie kann der Würfel dort, wo er hinfällt und die Tatsache, daß er geworfen wird, eine für das komplexe Gemeinwesen positive Bedeutung annehmen? Was macht die Tatsache, daß wir für Augenzahlen auf Würfeln Bedeutungen erfinden, durch uns mit unserer Umwelt?

Der Mensch hat gelernt, daß, wenn er einen gleichförmigen Körper nimmt und dessen quadratische Seiten durchnummeriert und beim wiederholten Werfen nur nach dem Auftreten dieser Nummern schaut, sich über eine große Anzahl von Würfen hin von selbst eine spezielle Wahrscheinlichkeit erzeugt, mit denen die verschiedenen Augenzahlen auftreten. Ein „magisches Geschehen“ ist berechenbar geworden. Der Mensch hat die „Gesetze“ des Würfels gefunden, die er fortan anwenden kann, um bspw. über Wahrscheinlichkeitsrechnungen den Akt des Würfelns als „Glücksspiel“ verwerten zu können. Er ist dem Chaos der Turbulenz entstiegen und erzeugt mit einem idealen Gegenstand berechenbare Mäßigkeit. Das ist der entscheidende Prozess. Der Mensch versucht Ursachen zu lesen und zu analysieren und der dynamischen Vielfalt der Welt kontrollierbare Exaktheiten und kalkulierbare Wahrscheinlichkeiten abzugewinnen. Dadurch gerät er in den Vorteil der Vorausschau, das Vergangene leitet ihn an, Zukünftigem gewappnet gegenüberzustehen.

Und je mehr er sich mit einer „eigenen Umwelt“ versieht, einer berechenbaren, durchkalkulierten Umwelt, den Würfeln, die „wahrscheinlich“ funktionieren, einer Umweltung, in der er sich nurmehr an sich selbst bewähren muß und den Herausforderungen menschengemachter Zustände gewappnet zeigen muß, desto mehr wird er unfähig auf die andere, die nicht-menschengemachte Welt zu reagieren und sich an ihr zu bewähren. Er kann, vereinfacht gesagt, eine Rakete zum Mond fliegen, aber er spürt nicht mehr ob diese Handlung etwas in der ihm nicht bedeutsamen Welt bewirkt. Er kennt die Bedeutung einer digitalen Anzeige, aber nicht die Bedeutung seiner Mission für den Rest der Welt. Die Schwierigkeiten eines Chorgesangs beginnen für den Weltbürger nicht erst bei der Partitur, sondern schon mit dem Zulassen von Stimmen.

An dieser Stelle treten schon Zusammenhänge mit dem Punkt 2 von Stefan Schmitzers Kritik zu Tage: Wie hängt der Humanismus mit dem Dschihadismus zusammen?

Dazu in einem zweiten Teil mehr.

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