Essay

Einiges über die Null

Hamburg

Man könnte einen Essay über die Null ziemlich plakativ aufsetzen und mit klugen Denkmöglichkeiten um sich werfen (und das ist der Weg wie üblicherweise mit diesem Thema umgegangen wird), aber ist damit jemandem gedient? Es gibt genug geistiges Stolzieren in der Welt und es ist einer der Gründe, warum es uns (noch) gut, der Welt aber immer schlechter geht.

„Sie sah, dass die Menschen dieser Welt einhergehen in einem Panzer von Selbstsucht, berauscht von Selbstbespiegelung, dürstend nach Komplimenten, nur wenig hörend von dem, was man ihnen sagt, unberührt von den Unfällen, die ihre nächsten Freunde befallen, in Furcht vor allen Hilferufen, die ihre lange Kommunion mit ihren eigenen Begierden unterbrechen könnten.“ Thornton Wilder in „Die Brücke von San Luis Rey“.


Thornton Wilder als Mr. Antrobus in The Skin of Our Teeth. Fotografie von Carl van Vechten, 1948

Wir dürfen in dieses völlig ichbezogene Durchschreiten der Welt auch unser geistiges Kulturgut mit einbeziehen, das wir dabei wie ein Trikot um unsere darunter verfettenden Hüften tragen. Längst ist es Zeit sich nach versteckten Irrtümern in den Eingeweiden unserer Kultur umzusehen und sie neu zu diskutieren. Haben wir in der Vergangenheit gelernt uns immer mehr in die Welt hineinzurechnen, müssten wir jetzt lernen uns aus der Welt wieder herauszurechnen, um aus solchen klaren und unverfälschten Anblicken die Folgerungen ziehen zu können, die uns helfen könnten intakte Weltgefüge auch für kommende Generationen zu konservieren. Es wäre hilfreich  die lange Kommunion der eigenen Begierden zu unterbrechen und nachzusehen, ob das, was wir auf Sockeln tragen, eigentlich nur erste und vielleicht die falschen Stufen sind.

Einem genauen Blick hält heute vieles nicht mehr stand. Man kann selbst in der logischen Königsdisziplin, der Mathematik, metaphysische Ungenauigkeiten entdecken, die sich über Jahrhunderte etabliert haben und verborgen Weltsichten implizieren - z.B. im Gebrauch der Zahl Null, dem „Zwilling der Unendlichkeit“, wie Charles Seife unlängst sein spannendes Buch über das mathematische Nichts nannte und worin er dessen elementar wichtige Rolle beschreibt: „Die Null ist so mächtig, weil sie die physikalischen Gesetze aus dem Gleichgewicht bringt. In der Stunde null des Urknalls und auf dem Grund eines schwarzen Loches ergeben die Gleichungen, mit denen wir unsere Welt beschreiben, keinen Sinn. Aber die Null kann nicht ignoriert werden. Sie birgt nicht nur das Geheimnis unserer Existenz, sondern sie wird auch für das Ende des Universums verantwortlich sein.“ Also wäre es Zeit verantwortlich über die Existenz der Zahl Null  nachzudenken.

Wo kommt sie her

Es gibt die Vermutung, dass das Zählen durch Protokollieren der verstreichenden Tage und deren Rhythmisierung in Kalendern entstand – zuerst übernahmen wohl einfache Holzkerben diese Aufgaben, die irgendwann zu Unübersichtlichkeit führten und zusammenfassende, abkürzende Schreibweisen  forderten. Da lag es „auf der Hand“ bspw. in Fünfer- und  Zehner- (oder wie es die Mayas taten, die noch ihre Zehen dazu nahmen) in Zwanziger-Schritten vorzugehen. Zahlensysteme entstanden wohl auch bei der Kontrolle unüberschaubarer Viehbestände oder dem Verteilen gemeinsamer Jagdbeute. Es entwickelten sich die verschiedensten buchhalterischen Methoden und Zeichensysteme und einige kluge Instrumente wie der Abakus erleichterten das Handwerk des Rechnens. Im Prinzip dient die Zahl soweit der Feststellung, dass etwas vorliegt: ein neuer Tag, ein weiteres Schaf, eine zu teilende Beute und setzt dieses Wissen in Beziehung.

Einige Hundert Jahre nach Christus kam man in indischen Rechenhäusern auf die Idee eine leere Kolonne im Abakus, durch ein Zeichen zu kennzeichnen.  Da hier keine Kugel aufgeschoben war, nannte man die Stelle sunja, was so viel bedeutet wie „leer“. Man markierte sie mit einem Punkt. Es ist unsere heutige Null. Mit ihrem Gebrauch war eine Basis geschaffen, wie man den Rang einer Kolonne auf dem Abakus erhöhen konnte, ohne neue Namenszeichen in Form eines Buchstabens, wie bspw. im römischen System üblich, einführen zu müssen. Die Null als Zeichen entstand also, um einen Wechsel zu verorten. Eine „leere Stelle“ die ganz entsprechend unserer Zählweise entstand (und die in jedem anderen Zählsystem an anderen Orten entsteht). Ganz ähnlich kennzeichneten später Nullpunkte Basen, an denen unser Verhältnissehen und -messen entsprechend unserer Erfahrungswelt umschlägt, wie wir es von der Temperatur kennen, wo 0° Celsius nicht den absoluten Nullpunkt aller möglichen Temperatur darstellt, sondern lediglich einen definierten Punkt auf einer Skala repräsentiert, den Wechsel von Wasser zu Eis. Der wirkliche Nullpunkt befindet sich bei – 273° C. Diesen Punkt kann man physikalisch nicht erreichen und er kommt de facto auf der Welt nicht vor. Er ist kein Wechselpunkt, sondern ein Bezugspunkt für das Attribut Temperatur.

Hier sehen wir schon eine erste Schwierigkeit: die Null wechselt im Alltag ständig ihre Identität. Einmal steht sie als Bezugspunkt in einer Reihe, als Startpunkt unseres Stellenwertsystems, ein andermal kennzeichnet sie eine nicht besetzte Stelle als Wechselort. Dann wiederum gilt sie als neutrales Element der Addition, die keinerlei Änderungen bewirkt und schließlich steht sie für die Kardinalität der leeren Menge (sie gilt als echte Zahl, die eine „Anzahl“ repräsentiert). Man hat der Null im Laufe der Jahrhunderte die verschiedensten Aufgaben und Eigenschaften zudefiniert.

Adam Riese, von Haus aus „Rechenmeister“ eines Bergbauunternehmens und zuständig für die Zahlungen an die Knappschaften, schreibt in seinem damals revolutionären Werk, mit dem er das Rechnen auf einem Blatt Papier einführte: „Der Figuren sind es zehn. Damit wird jede Zahl geschrieben. Sie haben folgende Gestalt: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. o. Die ersten neun bedeuten etwas. Die zehnte, also o, gibt nur in der Zusammensetzung eine Bedeutung. Allein gilt sie nichts. 1o, 2o, 3o bedeutet aber zehn, zwanzig usw. Werden aber zwei oo zugesetzt, so hast du 1oo, 2oo usw. und das bedeutet hundert, zweihundert usw.“

Rechenbuch
Source: Bad Staffelstein/ Rechenbuch

Bis ins 17. Jahrhundert galt das Folgende: wenn man bspw. von 1oo Gulden (die man mittlerweile mit kleinen Nullen zu schreiben gelernt hatte) 1oo Gulden wegnahm, dann blieb nichts übrig. Mit der Einführung der Null durch die Wissenschaftler dann der Renaissance hatte man plötzlich etwas, nämlich „null Gulden“. Die Null wurde ein Wert, den man annehmen kann und der für etwas steht. Aus einer Ziffer (der arabischen „sifra“, dem Wort für Leere, das als kleiner Kreis geschrieben wurde) war eine echte Zahl geworden.

Operieren mit der Null

Man integrierte sie logisch in die bekannten Rechenoperationen, wobei die Division Probleme machte, weil man keine eindeutigen Ergebnisse definieren konnte. Einige namhafte Mathematiker kamen auf die Idee der Division durch Null den Wert „Unendlich“ entgegenzusetzen. 1 : 0 = Unendlich. Das  mathematische Denken dazu ist einfach: bspw. ergibt 1 : 1 = 1. Verkleinert man nun den Divisor schrittweise und nähert ihn immer mehr dem Wert 0 an, vergrößert sich automatisch das Ergebnis. 1 : 0,001 = 1000. 1 :0,000000001 = 1000000000. Schließlich landet die Operation mathematisch bei unendlich. Da die Division eigentlich die Frage nach einer fortgesetzte Subtraktion beantwortet (Bsp.: wie oft muss ich 3 von 21 abziehen um 0 zu erhalten = 7 mal) und dabei operativ die Elimination eines Wertes betreibt, müsste eine Division durch 0 verschieden mächtige Unendlichkeiten erzeugen: man kann von 1 unendlich oft 0 abziehen, um 0 als Ergebnis zu erhalten und bspw. von 5 eben fünfmal soviel unendlich oft 0 abziehen, um 0 als Ergebnis zu erhalten. Aber natürlich macht das keinen Sinn:  ziehe ich bspw.  von 5 Null ab, dann bleibt der Ausgangswert immerfort bestehen und es löst sich kein Ring auf, den eine Division als Umkehr einer Multiplikation eigentlich in Teile zersetzen sollte. Die Operation funktioniert logisch nicht, weil das Unversehrtlassen eines Ausgangswertes keine Operation ist.

Auch beim Multiplizieren mit der Null wird das eigentliche Scheitern der Operation ignoriert und man nennt dieses Scheitern „Null“. Das Nichtstattfindenkönnen erhält damit den Rang eines Ergebnisses und die Multiplikation mit Null den Rang einer Kausalbeziehung. Wenn ich zu „a“  nichts hinzuaddiere und von „a“ nichts wegnehme, spielt die Null die Rolle eines „neutralen Elements“, dessen kennzeichnende Bewirkung die Nichtveränderung von „a“ ist.  Wenn ich a mit nichts multipliziere, also keine Operation an „a“ ausführe, bekomme ich als Ergebnis „keine Operation ausgeführt“ und nenne das „Null“. Der Prozess einer nicht ausgeführten Operation erhält den Wert „Null“. Die Kausalbeziehung des Nichtstattfindens ist aber eine andere als die des Stattfindens. „Wenn ich a x-mal tue, wird b die Folge sein“ ist eine andere Beziehung, als „wenn ich a nicht tue, wird b die Folge sein“. Die Zahl Null verschluckt diesen kausalen Unterschied.

Mathematiker sind äußerst scharfsinnige Denker: man kann das Geschehen a mal 0 = 0 definitionsgerecht auch drehen zu 0 mal a = 0, was eine gleichwertige Operation ist und sagen, ich habe nicht a mit nichts multipliziert, sondern ich habe die Null a-mal aneinandergereiht, einen Ring aus a-mal Null aufaddiert und diese Operation erhält den Wert „Null“. Die Null im Prozess „absorbiert“ alle operationellen Anstrengungen, heißt es. Die Kausalbeziehung zu dieser Interpretation sieht dann folgendermaßen aus: „wenn ich nichts a-mal tue, wird b die Folge sein“.

All diese Kausalbeziehungen werden gleichgesetzt. Man kann es nur, wenn man mathematisch „spricht“ und verdingte Werthaltigkeit auch für ein Nichtgeschehen einführt. Man verdingt etwas, das gar nicht da ist, gibt ihm einen Körper. Man kann plötzlich etwas haben, was es nicht gibt. Das nicht haben wird zum „Nichts“ haben. Die Unstimmigkeiten fallen sofort auf, wenn man die Sätze in normale Sprache bringt. Das Nichts in der Mathematik ist verdinglicht.

Dabei ist es nicht unerheblich, warum ein „Nichts“ existiert, ins Existieren kommt. Wenn eine Operation zu keinem zählbaren Ergebnis führt (a mal x = 0), hat das eine andere Wertigkeit, als wenn eine Operation unterlassen wird (a mal 0 = 0).  Wenn ich die falsche Nummer anrufe und kriege keinen Empfang, ist das etwas anderes, als wenn ich keine Nummer anrufe. Die Null am Ende meiner Operation enthält mehr Information, als die Null am Ende meiner Nicht-Operation. Nullen sind also nicht „gleichwertig“, sondern kontextsinnige Ergebnisse. Im Prinzip darf das Ergebnis meines Nicht-Anrufens nicht mit dem Ergebnis meiner Operation gleichgesetzt werden (a mal 0 = a mal x).

Wir sind uns wahrscheinlich einig: man kann eine Operation nicht „null mal durchführen“. Entweder man tut etwas oder man tut etwas nicht. Mathematik ist: man kann eine Operation null mal durchführen, indem man sie mit Null durchführt.

Dabei ist es physikalisch völlig unmöglich etwas mit „Nichts“ zu tun und damit nichts außer „Nichts“ zu erzeugen. Wenn ich Energie aufwende, um eine Operation mit „Nichts“ durchzuführen, schlüge zumindest dieser Energieaufwand irgendwo zu Buche. Das Operieren mit der Null muss als Realität eine Nicht-Operation sein.

Das Ergebnis „Null“ 

Wir haben gesehen, dass Ergebnisse von Handlung und Nicht-Handlung gleich „Null“ sein können.  Sie sind allerdings nur numerisch gleich. Kein Ergebnis zu bekommen, kann viel weitergehende Bedeutungen mit sich tragen, als es die Null ausdrückt. Das Ergebnis meiner Operation Anruf öffnet ein Portefeuille an möglichen Begründungen für das Scheitern meiner Bemühung. Während ein unterlassener Anruf zu allen Zeiten das immer gleiche Null-Ergebnis generiert.

Die „Null“ als Ergebnis von Operationen hat einen logischen Wert, wenn sie nicht aus Null-Operationen stammt (oder anders herum: Null-Ergebnisse aus Null-Operationen sind wertlos). Will sagen: die Null hat ein Bedeutungskleid an. Selbst die Sprache der Mathematik spricht sinnvoll nur im Kontext. Die Null hat neben der Quantität auch eine Qualität. Einmal ist sie folgerichtig und willkommen, ein andermal bedeutet sie das Ende einer Theorie. Sie steht in einer ganz bestimmten Beziehung zum Gesagten. Das eine Mal umreißt sie scharf und macht gültig, das andere Mal verdunkelt sie und frisst das Licht wie ein schwarzes Loch.

Die Null hat eine dynamische Mächtigkeit, die mit dem um sie herum Gesagten einhergeht, weil sie sich als Größe oder als Aussage gegenüberstellt. Das einerseits Gesagte steht dem Nichts gegenüber und zeigt sich als unsagbar oder als wahr. 

„Das Nichts hat keine Mitte, und seine Grenzen sind das Nichts. Unter den großen Dingen, die unter uns zu finden sind, ist das Sein des Nichts das Größte.“ sagte schon Leonardo da Vinci. Dieser Satz funktioniert auch aus einem gedachten Gegenspiel. Wir denken uns das Größte, das wir denken können, und denken uns dieses umgeben von Nichts. Schon ist das Nichts „größer als“. Das Sein des Etwas spielt gegen das Sein des Nichts, und weil um das Konkrete, das seiende Etwas, etwas herum ist, das nicht das Seiende selbst ist und auch sonst nichts, muss das Nichts eine allumfassende Ausdehnung und Gegenwart haben. Es wird in unseren Gedanken zu einer Entität.

Der Empiriker Rudolf Carnap hat auf diese übertriebene, fälschliche Nutzung des Begriffs „Nichts“ hingewiesen und ausgeführt: Sätze, die den Ausdruck „das Nichts“ beinhalten, fallen in die Klasse der sinnlosen Sätze, die keinen empirischen Gehalt haben und unmöglich verifiziert werden können. Er wollte damit dem Philosophen Heidegger dessen „Nichts“ um die Ohren hauen, der es in seiner eigenwilligen Sprachführung sogar aktiv „nichten“ lässt. Es kann dabei unsere Rechnerei mit Null gleich mit an diesen Pranger. Das als Null verdinglichte Nichts ist auf die gleiche Weise sinnlos. 

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Rudolf Carnap 1891-1970 Source: IEP

Null als Basis

Nützlich und genutzt ist die Null aber auch als Stellenwert oder Basis. Diessoll der Ort sein, an dem eindeutig etwas beginnt. Aber der physikalische Beginn von etwas liegt immer jenseits der Null, also so eben davor oder so eben dahinter. Am Bezugspunkt Null selbst geschieht nichts. Es gibt das Nichts nur als Partner, von dem aus das Etwas maßgeblich wirken kann. Die Null „existiert“ sozusagen nur als beigesetzter Schatten dessen, was ins Existieren kommt. Es gibt gerade schon das neue Ding und erst und nur weil es dieses gibt, können wir ihm gedanklich einen Punkt hinzusetzen, wo es noch nicht existiert. 

Wenn wir dann mit mathematischen Methoden die Gegenstände vor oder hinter dem Punkt so lange einschrumpfen oder erweitern bis sie in die Unendlichkeit entschwinden (Zenon lässt grüßen), bleibt gedanklich ein Rest – die große Leere. Aber wie groß ist denn diese Leere?

Mathematisch gesehen muss sie riesengroß sein, denn sie dient allen Zahlen von der kleinsten bis zur größten als Partner. Auf der Zahlenachse sind sie alle gegen die Null aufgetragen. Wenn wir sie einzeln auftragen und der Null gegenüberstellen, so muss jede auf seine Weise gegen die Null bestehen. Das große Ding muss genauso gegen Nichts abgrenzbar sein, wie das kleine Ding. Wir reden also von Grenzen, Grenzbereichen, in denen das Ding großes oder kleines Ding ist und anhand derer wir die Größe des Dings angeben wollen. Das können wir in der Praxis aber nur, indem wir nicht mit der Null allein vergleichen, was uns bestenfalls Auskünfte über Dinglichkeit an sich verschafft, sondern wir müssen auch Ding mit Ding vergleichen. Da hilft uns als drittes „Ding“ die Null. Ein großes Ding, das alleine gegen die Null steht, hat nur eine von Null verschiedene Größe – eine Idee von seinem Ausmaß wird uns erst bekannt, wenn wir ein weiteres Ding dagegenhalten.

So gibt uns die Null an sich keinen Wert an die Hand, sondern hilft uns nur bei der Beantwortung der qualitativen Frage, ob etwas existiert oder nicht existiert. Sie ist quantitativ wertlos und keine Zahl. Die Dinge an sich machen ihren Wert unter sich aus. Ob es sie gibt, erfahren wir durch den Vergleich mit der Null. Jede weitere Position auf dem Zahlenstrahl antwortet zwiefach: einmal dem Nullpunkt und behauptet damit seine Existenz, und zum anderen den weiteren Existenzen, inwieweit sie von Null verschieden sind. Eine Zahl sagt: ich bin von Null verschieden. Eine andere Zahl sagt: ich bin auf andere Art und Weise von Null verschieden wie du. Und eigentlich sagen die einzelnen Zahlen: wenn es mich nicht gäbe, würde ich auf meine spezielle Art und Weise fehlen. Sie sagen nicht, dass es dann statt ihrer ein zählbares Nichts gibt.

Der logische Fauxpas unseres Denkens ist der, dass wir den Bezugsschatten, sobald wir ihn installiert haben, nach Wegfall des Bezugs als weiterhin existent ansehen. Was bleibt von dem Ding, wenn es nicht mehr da ist? - nichts. Das Ding ist nicht mehr die Sache, die Ur-Sache der Zahl. Ich stelle nichts mehr fest, weil es die Ur-Sache nicht mehr gibt. Die Mathematik macht aus diesem simplen Sachverhalt einen anderen Satz: Ich stelle Nichts fest, weil es ein Nichts als Ur-Sache gibt. Das Nichts liegt als eine Ur-Sache vor, die ich ohne Ding feststellen kann.

Das ist nicht mehr als eine philosophische Behauptung und hat mit echter Logik nichts zu tun. Aber es ist gängige Mathematik und trabt in unseren Köpfen durch eine Welt, in der es das, was es behandelt, in Wahrheit nicht gibt.

Wir sollten uns darauf einigen, dass das Nichts ein nur gedachter, dynamischer Gegenpart des Etwas ist, je größer das Etwas, desto größer das Nichts um es herum und je kleiner und verschwindender ein Etwas, umso kleiner und verschwindender auch der Bezugsschatten des Nichts. So verschwindet mit dem Etwas schließlich auch seine Bühne. Wenn ein Quantum restlos verschwindet (was in der Realität nicht vorkommt), verschwindet damit auch sein Bezugswesen.

Es ist das alte Problem der Dinglichkeit. Machen die Dinge, dass es bestimmte Attribute und Aspektwahrheiten gibt, oder bilden die auftretenden Attribute und Aspektwahrheiten Eigenschaften des Nichts ab, in das hinein die Dinge zu existieren beginnen. Mathematik beantwortet für sich diese Frage ganz klar: es gibt das Nichts und es macht die Eigenschaften. Das ist eine metaphysische Art, die Welt zu sehen. Sie operiert mit Nicht-Beweisbarem. Ich persönlich ziehe folgende Idee vor: Es gibt die Dinge und sie bewirken sich.

Die Existenz der Zahl Null führt beim Gebrauch unserer physikalischen Theorien zu äußerst dramatischen Lösungen, zu Singularitäten wie dem Schwarzen Loch, wo ungeheure Massen den Raum Null einnehmen. Alles, was dorthin gerät, bleibt für immer in der Null verborgen. Eine ähnliche und mathematisch gleichrichtige Lösung sind die Weißen Löcher. Sie spucken all diese Materie wieder aus, die das Schwarze Loch in der Null verbirgt. Es ist also ein Vulkan wie ein Urknall. All diese Effekte sind mathematische Implifikationen, die aus der Theorie entwickelt werden und damit zu tun haben, welche Lösungen wir zulassen oder nicht und welche Metriken wir dafür verwenden (inklusive der Null). Es gibt heute andere Theorien wie die der Schleifengravitation, die solche Singularitäten gar nicht erst erzeugen, weil sie eine Mindestgröße realmöglicher Raumzeit einführen und damit eine Realexistenz der Null ausschließen.

Unsere Theorien prägen nicht nur unsere Science Fiction Romane sondern auch das Bild von der Welt, das wir haben und Wissenschaft spiegelt, so erinnere ich den Ausspruch eines Kabarettisten, den aktuellen Stand des Irrtums. Ein Irrtum ist: die Realexistenz der Null. Ich denke nicht, dass irgendjemand irgendwo auf der Welt jemals einem Ding „Null“ begegnet ist. Aber wir sind so klug und rechnen ständig damit. Wir rechnen die Null in die Welt hinein. Wahrscheinlich weil wir es besser wissen als die Natur.

Ironie beiseite: Wir werden immer etwas finden. Und dieses tatsächlich existierende Etwas ist wichtiger als das nicht existierende Nichts. Das, was da ist, formt unsere Welt. Deswegen brauchen wir eine Mathematik mehr der Qualität der Form statt der quantifizierbaren Veränderlichkeit. Vieles muss neu gedacht werden. Je weniger wahr wir auf die Welt antworten, umso weniger gut sind wir drin im Spiel. Wenn wir darauf bestehen, dass das, was wir schon immer denken, die weiterhin richtigen Antworten enthält, dann kicken wir uns raus - wie eine Mannschaft, die auf dem Platz  aufopferungsvoll fightet, aber nach den falschen Regeln spielt, sie macht und tut, hetzt, kämpft und rackert, aber am Ende verliert sie, weil sie einem Ball hinterherlief, der gar nicht da war.

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