Essay

Feudalismus und Kalifat

Hamburg

Bildung wird im heutigen Europa – und nicht nur da – systematisch zu Ausbildung umformuliert; das möge Kosten sparen. Wer möchte mündige Bürger, die fragen, wieso „die Wirtschaft” dies oder jenes verlange, anstatt einfach Kapital zu lukrieren und an die Arbeitnehmer auszuschütten, das indes heute die Arbeitnehmer eben an eine Politik zahlen, die die Ansprüche des Bürgers kleinhält und verwaltet? Wieso haben wir heute einen Liberalismus, der sich fiskalisch erhält? Waren Steuern nicht dazu bestimmt, ein soziales Netz zu erhalten, ferner Infrastrukturen, die der Unternehmer nicht finanzieren kann, weil er damit Kapital auf etwas verwendet, das die Konkurrenz mitnutzt, zu bilden und schließlich dafür zu sorgen, daß der Kapitalismus nicht mangels Permeabilität sozialer Schichten und aufgrund massiver Eingriffe in den Wettbewerb der Ideen (Kartelle etc.) zum Feudalismus zu verdummen? Offenbar will diese Fragen nicht einmal das Prekariat, dem sie helfen könnten; ganz sicher nicht das Vorstandsmitglied, überraschenderweise aber auch der Mittelstand nicht, der Kleinunternehmer, der sich fälschlich ausrechnet, er würde, wenn die Schere zwischen Armut und Reichtum weiter aufgeht, schon an der bequemeren Seite sein…

Man kann spekulieren, wieso die Elite, die derlei von der Politik gestalten läßt, also ihr den Spielraum gibt, wenig zu tun, sich darauf einläßt – müßte das Wachstum nicht gerade im freien Wettbewerb blühen, gibt es kein Szenario, worin sich eine Umwegrentabilität ergibt? Ist es Angst, die die Elite selbst verdummen läßt? Oder ist das Wachstum allzu wahrscheinlich ausgereizt, angesichts Klimawandel und diverser Imponderabilien – weshalb eine Umverteilung wie diese sinnvoll ist, jedenfalls für wenige einigermaßen Glückliche..?

Aber anstatt zu spekulieren, kann man einfach festhalten: Bildung hat – wenn man sie schon auf Ökonomisches reduzieren will – Umwegrentabilität, wir vergaßen es nur zu lange. Nicht nur partizipiert, wer gebildet ist, am Unternehmen als einer Praxis, die eben nicht Arbeit ist, nicht nur wird da ein Mehrwert generiert; vor allem erodiert ein Feudalstaat: Und die Umwegkosten, ex negativo formuliert, sind enorm, wenn man das zuläßt. Es bedarf des mündigen Bürgers, der, indem er kritisiert, Verhältnisse voranbringen kann, der aber vor allem, wo man ihn zum nicht-partizipierenden Experten degradiert, keine Solidarität mehr aufbringt, keinen „Verfassungspatriotismus”, wie Habermas es nannte.

Partizipation ist dabei vage genug, die Aporien der Demokratie sind ohne Zahl – was bedeutet eine Mehrheit zuletzt, wer darf partizipieren, wie direkt oder indirekt sollen Verfahren sein? Wo aber die „Alternativlosigkeit” regiert, also Merkel suggeriert, sie selbst habe nicht das Ruder in der Hand, also auch nicht der, den sie vertritt, das Volk, vielmehr steuere der „Sachzwang”, da orientiert sich der Bürger logischerweise neu: entweder zur Opposition, die aber ähnlich argumentiert, oder zu obskuren Heilsversprechen; und: pragmatisch nach Resultaten. Dann darf man sich nicht wundern, wieso dem Bürger gleichgültig ist, wer herrscht, und zwar im gerne beschworenen Kerneuropa, wo man sich nicht informiert und dann nicht oder beliebig wählt, wie auch im „Osten”, natürlich interessiert die Ostukraine längst mehr, Erdgas zu bekommen, als an einem Traum teilzuhaben, von dem man nicht sagen kann, um wieviele Jahre zuviel er nun schon zu Ungunsten der Realität währt.

Bildung integrierte; und zwar zweifach. Als „Erziehung des »Madig-machens«” (Adorno) bildet Subjekte, die eine Gesellschaft etablieren mögen, worin man sich eher integrieren kann, ohne Preisgabe des Selbst nämlich; und als Bewußtsein eben dessen – und sei’s Chimäre – motiviert Bildung, an dem teilzuhaben, was man mitverantwortet, vielleicht auch: mitverschuldet. Ausbildung leistet das nicht. Es ist kein Zufall, daß, seit sie die Bildung ablösen soll, alles inklusiv sein soll – aber eine Vereinnahmung ersetzt nicht, was Bildung war oder sein hätte sollen.

Es war eine „List der Vernunft” (Hegel), daß Bildung als Nebenprodukt der Expertise einst entstand, der der zunehmend komplexe Feudalismus bedurfte; der Experte war gebildet, er war darum einer, der an der Herrschaft durch Herrschaftspraktiken partizipierte – der heutige Experte als Ausgebildeter soll wieder dienen, als kompetenter Metöke. Der kompetente Metöke braucht Latein und Griechisch nicht, derlei wird durch Glücksunterricht ersetzt. Diesen brauchen Beherrschte – wann hätten Herrscher darin Nachhilfe gebraucht, glücklich zu sein..? Das einstige Recht auf Bildung wird heute Pflicht zur Bildung, was eine Pflicht zur Ausbildung meint, „lebenslanges Lernen” ist eine verfügte Deformation dessen, was Bildung gemeint hätte.

Kann man Bildung so einfach zurücknehmen..? Nur zu einem hohen Preis, nicht nur einem moralischen – immerhin träfe das zum Teil auch auf die Gelehrtenrepubliken zu, die als erste Entwürfe der Aufklärung sich ums Prekariat nicht zuallererst bekümmerten –, sondern eben einem wirtschaftlichen. Ungebildete kosten – reden wir nicht nur von der Ukraine, reden wir nicht allein von den Pariser Vororten (zumal ich dazu schon etwas sagte) 1, reden wir von ISIS. Nichts legitimiert die Taten von ISIS, nichts entschuldigt sie – aber sollte man nicht in Erwägung ziehen, zu erklären, was da passiert? Es ist eine irrationale Rache der nicht mehr Integrierten, die, weil sie an der Logokratie, die Demokratie (auch) ist, nicht partizipieren, es nicht können, dieser den Kampf ansagen. Schon das Enthaupten kann man schwerlich anders lesen, denn als Angriff auf eine Vernunft, der die Täter anders nicht gewachsen sind – also gar nicht gewachsen sind, einen Diskurs wird man aus dem Versuch, „den Westen” zu schockieren, nicht extrahieren können, die Bilder zu verbannen ist der seltene Fall einer Zensur, die dem freien Denken dient.2

Wieso aber ziehen demokratisch Sozialisierte in einen Krieg zugunsten dieser terroristischen Vereinigung? Es ist das Gefühl, man partizipiere an einer Macht; und genau das ist wie gesagt erwartbar, jede dumme Heilslehre kann das Vakuum füllen, das bleibt, wenn Bildung fehlt, es also weder imaginär (immerhin…) noch real eine Partizipation an der Demokratie gibt.

An Expertise mangelt es denen, die den Jihad ausrufen, nicht: Kompetenzen, wie sie heute im pädagogischen Diskurs allgegenwärtig sind, haben die Menschen, denen unsere Gesellschaft Bildung vorzuenthalten beginnt, ohne sie anders zu binden, immerhin müssen sie erst nach Syrien oder in den Irak gelangen, womöglich schon mit falschen Ausweisen, sie können Waffen bedienen, … aber sie können nicht begründen, was sie tun, weder mit dem Islam (der solche Barbareien auch tatsächlich nicht legitimierte), noch sonstwie. Stattdessen haben sie Omnipotenz- und Rachephantasien, wobei die Dummheit mancher nach einer Rache an der Natur verlangte, die es mit ihnen die kognitiven Möglichkeiten betreffend nicht allzu gut meinte. Sie bleiben Metöken.

Ihre diffuse Aggression ist Resultat einer Kränkung, die zu bedenken bleibt; denn auch wenn die Resozialisierbarkeit von Fanatikern fraglich ist, wird man sich ansehen müssen, wie sie entstehen. Es ist eine Vorgabe von außen, an der sie scheitern: auch darum scheitern, weil sie nicht eine selbst formulierte Vorgabe ist, studiosus – eifrig bemüht – sind nicht nur die Dummen eines bildungsfernen Milieus oft kaum, ihnen erscheint die Pflicht zur Ausbildung gepaart mit der Gewißheit, dennoch nicht oder nur beschränkt aufsteigen zu können, als Ungerechtigkeit – ein geradezu stupider Begriff, der eine subjektive Befindlichkeit zum quasi-metaphysischen Sachverhalt entstellt, gleichwohl auch subjektiv ja von objektiver Wirksamkeit. Tatsächlich aber bleibt heute für den, der nicht zur Elite gehört, von der Bildung, die das Selbst wandelte, das retrospektiv zuvor Karikatur seiner selbst war, Zurichtung. Ist der heute gerne monierte Narzißmus neuer Generationen gar das Pendant der Mühens, all das als kostspielig und gefährlich zu bannen, das einen sozusagen  rationaleren Stolz begründete: darauf, etwas zu unternehmen, innerlich eine Selbstwerdung, eine intellektuelle Unternehmung; öffentlich aber politisch wie ökonomisch..?

Ungebildete aber sind permanent narzißtisch gekränkt; und das ist wie gesagt teuer, enthält ganz andere Risiken, ein Marodieren statt des Anspruchs, zu partizipieren. Dagegen könnte man wieder mit Bildung angehen; wenn heute Akademiker schon unpolitisch sind oder eben Heilslehren folgen, wäre es eine naheliegende Option. Zynisch müßte man sich ferner neue Säkularreligionen, die mit dem Feudalismus harmonieren, herbeiwünschen. „Protestantische Arbeitsethik” wäre eine Option, auch Hedonismus, der vielleicht gar nicht weiß, daß er so heißt, doch hat schon er den unguten Effekt, sich zu vergleichen: den eigenen Hedonismus geringer Mittel mit jenen der anderen, die womöglich auch noch soziale Distinktion damit betreiben, diesen zu verfeinern… Mit derlei ließen sich jene vielleicht befrieden, die die Aufklärung zwar wahrnahm (die „selbstverschuldete Unmündigkeit” bei Kant legt nahe, es gebe auch eine unverschuldete), aber nicht ernstnahm, jedenfalls nicht, daß für Heteronomie intellektuell Prädestinierte mit ihrer Freizeit schon überfordert sein könnten, ehe diese zu Freiheit überhaupt erst wird. Das surplus der Idiotie bleibt dabei bestehen, es ist unausrottbar – aber es wird wieder kalkulierbar.

Der Umstand, daß es unkalkulierbar wurde, daß auf Facebook zwar nicht unzensiert Brüste gezeigt werden dürfen, aber neben Katzenbildern nun Photos von Enthauptungen sich finden, mag erinnern, daß Bildung entgegen dem Wort „Bildungsballast” befreit, und zwar als Einhegung der Dummheit von solchem Terror, aber eben auch von Unsinnigem wie Glückskompetenz für vom Glück doch Ausgeschlossene. Die Grundspannung der Ausgeschlossenen, die heute in etwas Monströses umschlägt, kannte der an Bürgerlichkeit oft kaum überbietbare Adorno, der zwar angesichts eines tatsächlich ungleich größeren Unrechts als jenem der heute erodierenden Demokratien, nämlich: Auschwitz, das damals die Bundesrepublik überschattete, in seinen Minima Moralia schreibt, er wolle „um keinen Preis, unter gar keinen Bedingungen Henker sein oder Rechtstitel für Henker liefern”, aber hinzusetzte, daß sprachlose Wut womöglich sich juristisch nicht zügeln lassen solle; er wolle „keinem, und gar mit der Apparatur des Gesetzes, in den Arm fallen, der sich für Geschehenes rächt.”

Der Bürger Adorno aber weiß, daß derlei „eine durch und durch unbefriedigende, widerspruchsvolle und der Verallgemeinerung ebenso wie der Praxis spottende Antwort” auf die Frage ist, wie man sich empören könne. Wir müssen wieder lernen und auch lehren, wie man sich – sachlich und unpathetisch – doch empört, um dem Empörenden entgegenzutreten; darunter eben auch manchen Empörern.

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