Essay

Humankapital unterrichten

Hamburg

Es war einmal, da galt Wissen als Macht und Macht – als Wissenserwerb als Privileg. Man bezahlte darum Lehrer, wo man sie nicht nötigen konnte, weil man der Experten ab einer gewissen Komplexität der Welt bedurfte und die Lehrer das ahnten. Diese mußten gegen die Schüler und ihre Unarten und darin gegen die Unarten der Eltern, in deren Dienst sie standen, einen Kampf ausfechten, den sie aber beklagen durften, so Melanchthon. 1

Spätestens die Aufklärung formulierte daraus, was Bildung sei: Emanzipation durch jenes Wissen. Der Schüler wurde vom Objekt der Formung (man kennt den Nürnberger Trichter) zu dem sich findenden Subjekt, an das nun sinnvoll der Satz zu richten war: disce aut discede. Der Schüler mußte sich disziplinieren, was keine dialektische Bosheit war, sondern eigentliche Emanzipation: des Schülers schließlich von seinem Kontext samt Lehrer, des zu Wissenden aber vom Tradieren. Studiosus war der Schüler, blieb der Student, war auch noch der Lehrer – eine Autorität jenseits der Gewalt, die zwischenmenschlich herrscht, aus der sich die eigentümliche Solidarität herleitete, aufgrund derer auf der Universität grundsätzlich der Student und die Studentin als Kollege und Kollegin anredet werden.

Dynamisch war das im Wissen immer angelegt – Jahrhunderte wußte man, daß der Schüler nicht Kunde oder Klient sein kann, wie er nicht Objekt ist. Aus dieser Logik ergab sich auch die Demokratisierung der Universität, daß nämlich, wo die Lehre nicht lege artis war, der Student dies einklagen konnte. Kritik ist der Schule immanent, zurecht, wie etwa die Causa Borodajkewycz zeigt; jener war an der Wiener Hochschule für Welthandel Universitätsprofessor und agitierte nach seiner Einstufung als Minderbelasteter im Jahre 1946 unverdrossen nationalsozialistisch, was nach Hinweisen – allerdings erst rund neun (!) Jahren – zur Zwangspensionierung von Borodajkewycz führte.

Nicht in der Sache angelegt war oder ist die Umkehr des Prozesses der Wissensvermittlung: Daß nun der Studierende das zu Wissende nach seiner Befindlichkeit redefiniert:

„In Harvard verlangen Jura-Studentinnen neuerdings, dass das Thema Vergewaltigung aus dem Lehrplan gestrichen wird, weil es Traumata wiederbeleben könnte. Es gibt Studierende, die schon das Wort «violation» (wie in «violates the law») für unzumutbar halten.” 2

Literaturstudentinnen und -studenten müssen zentrale Texte nicht mehr lesen, wenn darin das Böse sich zeigen könnte: es nicht in unhistorisch-unkritischen Ausgaben wegmoderiert wurde.3

Das ist nicht Didaktik, die bei allem Respekt vor dem Zögling und Lernenden diesem doch erklärt und vermittelt, was indes auch ohne diesen jedenfalls in hohem Maße der Fall ist. Doch der Studierende verhält sich nur mehr, er beträgt sich nicht; und ist für ihn 2+2 eine Belastung, wird 4 aus dem Curriculum getilgt. Jura-Studentinnen, die später Vergewaltigte vertreten sollen, müssen diesen dann freilich erklären, daß ihr eigenes Wohlbefinden ihnen das höhere Gut zu sein schien, als in einer Welt, die ohne Häßliches weniger Juristen brauchte, dennoch ganz und wirklich Jurist zu sein.

Der Lernende wird benotet, nicht zuvörderst der Lehrende evaluiert, wie der Germanist und Direktor eines Gymnasiums Christian Schacherreiter in Erinnerung rief:

„Schüler sind »Humankapital«, und die Schülerleistung ist der »Output«, der messbar gemacht werden muss. Aufgrund der Output-Messung werden dann die Produzenten des Outputs (= Lehrer), beurteilt”,

so Schacherreiter; doch, so setzt er fort, Schülerinnen und Schüler sind „in erster Linie Menschen”, „noch vielen anderen Einflüssen” ausgesetzt, inklusive ihrer eigenen Besonderheit – und vor allem sind sie durch „einen einen eigenen Willen” charakterisiert:

„Wie frei dieser ist, darüber mag man streiten. Jedenfalls reicht er aus, um sich einem Lernprozess zu entziehen. Man kann sich als Schüler dafür entscheiden, während der Stunde an ganz etwas anderes zu denken, keine Hausübungen zu machen oder überhaupt nur sehr selten im Unterricht zu erscheinen. Sind Schüler volljährig, unterschreiben sie sich die Entschuldigungen selbst.” 4

Das zu ignorieren und die Note des Schülers zu jener über den Lehrer umzudeuten, ist der Rückfall hinter die Einsicht, daß der Schüler oder Student mehr denn ein Objekt sei. Gleichwohl wurde, als es den Neofeudalen unserer Zeit gelang, Bildung für verstaubt zu erklären und eine Ausbildungspflicht einzuführen, die, weil sie ja als Pflicht erfüllbar sein müßte, eben das, siehe oben, umgesetzt.

Der Professor ist nun der Professionelle, an seinen Erfolgen bemißt sich, was er ist, auch an seinen Mißerfolgen – die Benotung der Schüler ist beibehaltene Unstimmigkeit innerhalb der Unterstellung, jede könne alles, weil er alles müsse, was sich die Arbeitgeberverbände erträumen und der Schule als telos vorsetzen. Könnte der Lehrende beklagen, daß das nicht logisch ist, daß der Lernende oder Studierende nicht durch den Lehrenden determiniert ist, sondern auch durch Begabung; durch Fleiß?

Man würde gegen ihn auslegen, was Melanchthon als Klage vorzubringen das Recht hatte – es hatte, ob es ihm nun eingeräumt wurde oder nicht. So schuf und schafft man ein System derer, die mitmachen, wie ihre Schüler und Studierenden alles mitmachen, in Projekten, ohne Front(alunterricht) und Vorbehalt. Und die Kritiker werden entmündigt oder entfernt, wo nicht offiziell deshalb, so doch nur darum, weil schließlich nicht der zählt, der hernach kritisch denken kann, sondern der, der in der Evaluation gleichberechtigt diesem sein Kreuzchen setzt, egal, ob er verstanden hat, verstehen wollte, auch nur anwesend war.

Man müßte die Diskussion beginnen, ob insbesondere Studenten nicht längst Kundschaft wurden, die einfordern zu bekommen, was sie bekommen müssen, weil sie es per definitionem können, also jenseits der Überforderung, die dem Lernen allerdings innewohnt. Die Überforderung indes ruft oder riefe manchmal nur in Erinnerung, wie menschenverachtend es ist, wenn Studenten nicht mehr als die wahrgenommen werden, die studierend – eifrig, bemüht – schon die Zukunft dessen zu werden haben, worin sie als Studierende eben Kolleginnen und Kollegen genannt werden.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Beitrag wurde am 27.Oktober 2016 aktualisiert

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