Essay

ZAUBER DER ANFÄNGE

Hamburg

Für – –..?

In Hesses Stufen heißt es, es wohne „jedem Anfang [...] ein Zauber inne”, und tatsächlich mag es dies sein, was uns Gedichte bis heute bedeutsam macht. In ihnen beginnt etwas, drückt man es so sachlich wie möglich aus, so generieren sie wohl Methoden. Mit einem unsäglichen Wort der Gegenwartspädagogik könnte man sie vorwissenschaftlich heißen.

Wissenschaft verfügt über Methodik, sie setzt sich einem Risiko aus, wenn sie eine neue erfindet, so gewiß auch ist, daß erst die neue Methode – die neue Frage – einen neuen Respons hervorrufen kann. Dieses Vortasten aber ist in Zeiten des Drittmittelfinanzierens und Evaluierens jedoch bedroht; und damit womöglich die Forschung nur mehr ein um Perfektibilität ringendes Sich-Wiederholen. Es ginge also um ein Aufbrechen der Methode, der inneren Epistemologie dessen, was man methodisch betreibe, in „Pluralismus und Polymorphismus.” (M. Serres)

Tatsächlich ist dies in nuce Wissenschaft, eben nicht zu wissen, was man tut, die Methodik als Zuschreibungsversuch zu wagen. Derrida formuliert über dieses Unstete als Wesen der von ihm betriebenen Dekonstruktion:

„Was ich Dekonstruktion nenne, kann natürlich Regeln, Verfahren, Techniken hervorbringen, aber im Grund genommen ist sie keine Methode und auch keine […] Kritik, weil eine Methode eine Technik des Befragens oder der Lektüre ist, die ohne Rücksicht auf die idiomatischen Züge in anderen Zusammenhängen wiederholbar sein soll. Die Dekonstruktion ist keine Technik.”

Genau dies müßte sich fortwährend noch in der also stets mutmaßlichen Methode fortsetzen, als ein Methodenbewußtsein, das wider den Methodenzwang darum sich formiert. Paul Feyerabend verweist unter diesem Titel unter anderem auf auch in der jeweiligen Disziplin vorhandene Potentiale durch Kreativität und den Mut zu Verstößen in der Vorgehensweise.

Diese Entscheidung zum Neuanfangen, zur Spannung darin, ist genuin wissenschaftlich jenseits der Wissenschaft, die in ihrer paradoxen Heuristik weder weiß, noch eben sich mit Wissen, das fraglos und unmethodisch zum Datenwust verkommt, zurüstet, sondern „tastet”, wie Serres in seinen Elementen einer Geschichte der Wissenschaften schreibt – sie ist ästhetisch, insofern sie Wahrnehmung einerseits erfindet, um sie andererseits durch das Ensemble von Erfindung zuzulassen, eine aktive Passion...

„Jede epistemologische Klärung ist mit einer ästhetischen Entscheidung verknüpft”, schreibt Joseph Vogl, man ahnt, daß umgekehrt ästhetische Entscheidungen die Chance der episteme, Wissensmethode bedeuten. Sie fragen; oder haben eine implizite Frage je vernommen, worauf eine kohärente Antwort zu finden sei.

Ohne theologisch zu werden, kann man jedenfalls sagen: „Zunächst ist die Wiederholung seriös, doch anschließend ist sie es nicht mehr” (Serres), sie vergibt ja die Spannung, zumal, wo sie diese unterschlägt – „»sozusagen« ist ein verdächtiges Wort”, schrieb die NZZ jüngst, es ist ein Wort, das vergessen läßt, wie sehr es Methodenbewußtsein ist, anarchisch Methode anzuzweifeln. Spannung mag Wahrheit indizieren, hier diese: „Allein die Erfindung ist seriös.” (Serres)

Hierfür schärft Dichtung den Blick, dies leistet sie in ihren besten Momenten, sie offeriert Methoden, sie „kann natürlich Regeln, Verfahren, Techniken hervorbringen”, wie es hieß, die unter anderem der Interpret dann erprobt, vielleicht auch erst zur Kenntlichkeit schärft und präpariert, wenn der Text nicht zu Tode gelesen wird, sondern Exegese bedeutet, momentaner Komplize dessen zu sein, was den Text zur Methode in statu nascendi machte.

Statt nach dem zu fragen, woraus der Text entstand – die Gretchentragödie in Faust aus einem Legitimierungsversuch Goethes in der Sache einer Kindsmörderin, wie langweilig..! –, engagiert sie sich für das, wozu er entstanden sein mag. Sie erkennt in der Dichtung die fortwährende Naturphilosophie, die durch neue Begriffskonstellationen neue Naturen (er)findet, vielleicht auch Parallelwelten.

Darin ist sie so beweglich, wie man der Dichtung zu sein wohl unterstellen darf, darum – weil dieser und darum auch jener „ein dynamisches Moment eigen” ist –, dürfe Peter Szondi zufolge „(d)as philologische Wissen […] nicht zum Wissen gerinnen”, vielleicht müßte man genauer sagen: muß Wissen, um dies zu sein, auch ein Ahnen sein, darf nicht resistent gegen das werden, was als Frage ihm eben nicht nur voranging.

Dichten ist ein Anfangen, Exegese ein Fortsetzen, ein Entfalten, zumal, wo die Dichtung Fragment bleibt, oder experimentell. Badiou formuliert in Lob der Liebe, „dass es in der Liebe die Erfahrung des möglichen Übergangs von der reinen Singularität des Zufalls zu einem Element gibt, das einen universellen Wert hat”, und diesen Übergang leistet das (Sich-)Lesen als Sinn für die Möglichkeit eines Fortsetzens, als Erstehen einer Frage, einer Methode – und daraus einer neuen Welt. Ohne dieses (Sich-)Lesen gäbe es das Initialmoment nicht mehr, das ist die Interpretationsbedürftigkeit von Lyrik. Sie will erklärt werden, wie auch die Verliebtheit als Liebe erst entsteht, wo sie – sich – erklärt, so nochmals Badiou:

„Weil sich die Liebeserklärung in die Struktur des Ereignisses einschreibt. Zuerst gibt es die Begegnung. [...] Doch der Zufall muss zu einem bestimmten Zeitpunkt fixiert werden. Es muss eben eine Dauer beginnen. Das ist ein sehr kompliziertes, gleichsam metaphysisches Problem: Wie kann ein anfänglicher, reiner Zufall zum Stützpunkt einer Wahrheitskonstruktion werden?”

Dies vollzieht sich auf dem Terrain der Vorwissenschaft, der innermethodischen Diversifikation, aber eben auch der Dichtung, ein Anfang entsteht, und er wird zum Anfang in jenem paradoxen Fortleben, das ihn gefährden mag.

Es geht ums Anfangen, um einen riskanten Zauber. Ein Leben..? – Vielleicht vielmehr stets das Leben.

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cf. auch Martin A. Hainz: Parallelweltkompetenz.
Vom Lesen. In: Aussiger Beiträge, Nr 5 · 2011, S.99-108
(http://members.liwest.at/martin_hainz/AB_2011_Hainz.pdf).

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