Essay

Venedig sehen und sterben oder Meine Mutter mordet

Ascoli Piceno Teil 6
Hamburg

Ascoli Piceno ist keine Touristenstadt, wo so mancher Palazzo längst als Hotel genutzt ist. Viele Palazzi gibt es, Haus an Haus, breite Straßen. An ihren Wänden, neben den Portalen, hängen Tafeln, darauf steht "XIV und XX secolo". Oft sind Ämter untergebracht. Herr Färber fährt lange herum, um das Hotel zu finden, das Katharina ihm nennt. Den Namen vom blutigen Zettel. Ob sie ihm die Wahrheit sagt? Über die Folgen ihres Rache-Feldzugs ist sie selbst erschreckt. Vom Regen in die Traufe gekommen. Misstrauen meldet sich immer wieder. Das Vertrauen gewinnt: Sicher wäre sie, wenn sich Herr Färber im gleichen Hotel einnistet. Über Färbers Jugend weiß sie mehr als über die Gegenwart. Sie fragt ihn vorsichtig aus. Bei der großen Piazza weiß sie, dass er alleinstehend ist. Witwer. An der scheunenförmigen Kirche San Martino Martirio erfährt sie, dass seine Kinder erwachsen und selbst Eltern sind. Auf der Brücke über den Tronto, dass er ein Hagestolz sei, nicht abgeneigt einer neuen Verbindung. Auf keinen Fall darf Alfredo sie zusammen sehen.

Sie fahren, von den Avenues in die engen Gassen, die nicht immer Einbahnstraßen sind, und so virtuos wie die italienischen Fahrer ist er nicht. An allen großen Bauten sind Stoffbahnen gespannt gelb mit roter Aufschrift "Missione populare citadina. Fa 'una casa dove Dio possa abitare. Nell' Attesa deI Giubileo deI 2000". Auch vor dem Stadthaus, auch quer über die Dom-Front, davor hält Herr Färber an. Zu beiden Seiten des Portals ist je eine Art Ohrensessel aus Stein eingelassen, im Spiel setzt sie sich hinein, es klickt, Herr Färber hat fotografiert. Dann knipst sie ihn, Touristen spielen entspannt. Entlang der Straße zieht sich der Platz. Man müsste beim Filmen, zum Beispiel "Reisewege zur Kunst in die Marken", viele Autos wegräumen, um die schöne Piazza zu zeigen, zwei ovale Brunnen aus Stein geben ihr zwei Mittelpunkte. Die Reisenden umkreisen neugierig einen der Brunnen: ein stehender Fisch spuckt eine Wasserfontäne senkrecht hoch, Tropfen fallen auf  Wasser¬ speiende Tiere aus Eisen, Pferdeleiber mit Fischschweifen; wo der Strahl hinfällt, Millionen Male aufgeprallt ist im Lauf der Jahrhunderte, hat er ein schartiges Loch in die Pferdebrust aus Eisen gerostet. Vor der Front des Palazzo d'Arrengo tun Karyatiden so, als hielten sie die Fenstersimse fest. Der Zahn der Zeit mit dieser Abgasluft hat den Steinfrauen die Oberschenkel weggenagt, sie wirken schwanger. Natürlich wecken sie in Katharina Fantasien: In jeder ein Foetus Sandro, der wild strampelt. Das italienische Temperament, hatten sie sich damals gefreut. Schön eigentlich, freu dich doch einfach, Katharina, nicht jede Frau kann sich fünf Jahre lang gemeinsam mit dem Vater über ihr Kind freuen. Damals warst du im großen Glück. Einfach verwöhnt. Schon wieder diese Erinnerungen an Sandro. Und an Piero, den glücklichen Vater. Schnell weiter.

Das Tympanon über dem Tor zeigt die Abbildung der Madonna mit dem Kind (Siehe Abbildung zum Kapitel) und erinnert Katharina an die eigene Situation. Sie gehen durch das Tor vom Palazzo d'Arrengo mit der Pinakothek. "Ausstellung des berühmten Malers der Marken Carlo Crivelli", informiert Herr Färber. "Wollen wir hin?" "Nein. Nein. Nicht heute." durch den Torbogen in den Innenhof, wo die Stadtväter in Stein gehauen stehen, drehen sich herum, zu allen Seiten überragt ihn der Bau, vorn Museum, rechts Galleria, links Rathaus mit Standesamt, geradeaus Polizeiwache. Davor runder Steinbrunnen mit moosigem Putto, darin Goldfische, ein Carabiniero in blauer Uniform kommt und fischt ein Blatt heraus. So bleibt das Wasser klar. Für die Fische, erklärt er der erstaunten Katherina, gebückt von unten hoch ins Gesicht. Was für ein Polizist, sie öffnet den Mund, fast möchte sie ihm alles sagen. Herr Färber studiert grad die Schilder der Polizia municipale, Fotografie eines Steckbriefs, schaut sie fragend an, sie schüttelt den Kopf. Ein weißgekleidetes Mädchen beugt sich übers Wasser, drei buntgekleidete Jungen versuchen einen Goldfisch zu greifen. Katharina will in den Hausflur zu Herrn Färber und selbst den Steckbrief sehen, er jedoch kommt ihr entgegen und zieht sie fort. "Ein Mord in Venedig. Den Namen des steckbrieflich Gesuchten haben Sie genannt."

Wieviel weiß er? Wer ist er wirklich? Detektiv Färber nennt sie ihn für sich; denn dass er nur Gerichtsgutachter sei, glaubt sie nicht. Alles schnüffelt er detektivisch aus; ginge es nach Recht und Ordnung, würde er ihre krummen Dinger nicht auch noch decken. Aus irgendwelchen Gründen scheint er es gut mir ihr zu meinen, mehr kann sie augenblicklich nicht wollen. Auf dem Wege von der Polizeiwache durch das Portal des Palazzo bis zum Auto vor dem Dom muss sie sich einiges fragen: Auf welche Seite steht er? Auf welche Seite ist sie geraten? Wenn man mit einem Mord schwanger geht und sich in die Gesellschaft von Verbrechern begibt, schwankt die Erde, auf der man seit Jahrzehnten relativ sicher stand. Es ist alles anders, ganz anders als in allen bisherigen Büchern und Filmen. Dass man sich zwischendurch in den normalen Alltag rettet, hat ihr noch niemand gesagt. "Warum tun Sie das alles für mich?"-  "Vertrauen's einem Mann, der Ihr Vater sein könnte. Seien's stad und genießen 's die Stadt."

Die Frau aus Frankfurt am Main und der Mann aus Graz in Österreich spazieren als Touristen unter den einheimischen Flaneuren zur Piazza deI Popolo, Corso unter Laubengängen, wenn immer es regnet. Der Platz gehört Flaneuren und Tauben, die Gassen und Piazzale ringsherum ist ein riesiger Markt: Kleider, Schuhe, Obst, Gemüse, Andenken. Trödel, Möbel, Antiquitäten dort, wo früher einmal Kreuzgang des Klosters gewesen ist und Mönche ihr Brevier gebetet haben. Herr Färber erzählt von Ascoli und vergleicht mit anderen Städten, viel herumgekommen ist er. Aber warum? Emigration und Rückkehr, aber was ist gewesen alle die Jahre danach?

Ein Hotel müssen sie suchen. Durch breite und schmale Straßen, zwischen zwei Steinwänden lang, auf eine kleine schmutzige Piazza, das Albergo ist ein fünfstöckiges Eckhaus mit Jugendstil-Erkern voller erhaltener und eingeschlagener Buntglasscheiben, die Tür zugenagelt. Der Name ist nicht zu lesen, das Hotel kann Alfredo unmöglich gemeint haben. Weiter, zurück zum Auto, am besten fragen. Irgendwo müssen doch die Geschäftsleute in dieser Agrar-Metropole der Marken wohnen. "Si si, Hotel Gioli, tutto nuovo, bellissimo, molto moderno", strahlt ein Mann und zeigt ihnen mit lang ausgestrecktem Arm den Weg: raus aus der historischen Altstadt, den Berg hoch neben dem Stadtpark, dem Giardino communale zum neuen Industrieviertel. Das Hotel Gioli, vier Sterne, hundertsechzig Mark, ist ein neuer Kasten mit genügend Zimmern für alle. Die Zimmer sind mit dem gleichen Teppichboden ausgelegt und mit dem gleichen Plüsch wie die Eingangshalle gepolstert, nur rostbraun statt olivgrün, identisch alle Räume, die von Herrn Förster und 'Signora Brunetti' sind jedenfalls zwillingsgleich. Diesen Namen hat ihr Alfredo auf den Zettel geschrieben, den vom Hotel, Zimmer dreihundertdreiunddreißig, drei mal drei liest sie die kraklige Zahl. Irgendwann wird er dorthin kommen oder anrufen. Herr Färber weiß nichts davon. Nebenan wohnt er. Und das wiederum weiß nicht Alfredo. 'Detektiv Förster' ihr heimlicher Schutz. Wenn er nur da ist. Hellhörig ist es hier, sie probiert es aus. Im Televisione läuft die italienische Version vom deutschen Kriminalfilm "Ein Fall für Zwei". In Frankfurt am Main spielt der. Arrividerci Francoforto, ein bisschen Heimweh. Sonst ist Fernsehen hier bunt und schnell, Shows und Wahrsagerinnen, ein Programm zeigt immer die gleiche Frau, die sich stundenlang die Hinterbacken mit einem Vibratorband massiert. Zur Probe stellt Katharina den Ton aus, hört ihn noch immer durch die Wand aus Försters Zimmer das monotone schnelle Vibratorsurren. Keine Bange, er wird alles hören, wenn er nur da ist, sobald Alfredo kommt.

Dann ist er da, betrunken, schmeißt sich aufs Bett. Widerlich. In den Büchern sind die Kriminellen auf ihre Art diszipliniert, wenn sie im Einsatz sind. Er zerrt an ihr herum. Jetzt aber Schluss mit den Vorschusszahlungen in Naturalien."Was ist mit unserem Geschäft?" - "Was heißt Geschäft? Hast du endlich die Spiccioli?"- "Was meinst du?"-"Das Kleingeld, die Kohle. Die Mäuse, das Moos." -  "Per Cashkonto vorgestern überwiesen. Hunderttausend."- "Was willst du mit den übrigen Millionen? Was mit deinem Jungen? Warum bleibst du nicht hier? Ein Haus am Meer könnte ich dir günstig besorgen. Und Sandro. Nimm ihn dir und bleib hier. Hier scheint die Sonne, grau ist es in Francoforto und regnet."-  "Immerhin ist Frankfurt Sandros Geburtsstadt." -  "Ah bah, zufällisch. Sein Vater ist Italiener. Und er ist hier. Verkauf die Hütten in Francoforto und zieh her. Drei, vier Millionen sind doch drin. Unabhängig bist du. Wir könnten Geschäftspartner werden. Und una coppia, Ehepaar, müssen wir nicht nur mit dem falschen Pass sein? Eh? Bella Tedesca? Deine Wikinger im kalten Norden sind doch nichts für dich. Wir sind besser. Warum wohl nennt ihr uns Latin Lovers?"

Jetzt zerrt er auch noch an ihr herum und singt halblaut "Sono Italiano". Öffnet die Hausbar, findet eine Flasche Rotwein und reicht sie ihr hin: - "Danke, ich will nicht." -  "Aufmachen." Soll ich den Korken herausziehen? Wenn er betrunken ist, gibt es kein Halten für ihn. Ich bin in seiner Gewalt. Halt, Zielwasser ist Rotwein nicht gerade. Wenn er mich schlägt oder Schlimmeres will, trifft er daneben. Es wagen. Betrunken ist doch gut. Vielleicht schläft er auch ein und ich mach mich davon. Jetzt hab ich es endgültig satt. In vino veritas, heißt es immer, im Wein die Wahrheit, naja, jedenfalls plaudert er im Suff alles aus. Dann wird sich seine Wahrheit noch steigern, immer öfter und schneller nimmt er einen Schluck Rotwein. Schöne Geschäfte will der mit mir machen, als mio marito, das könnte ihm so passen, weil es noch leichter wäre, mich zu bescheißen. Mich ausnehmen wie eine Weihnachtsgans. Nie werde ich von ihm loskommen. Der läßt nicht locker. Harmlos wirklich daneben ist Piero, Liebenswert, zärtlich. Und doch wäre ich ohne ihn gar nicht auf solche Gedanken gekommen. Nicht hier. Doch, als Hochzeitsreise hätte ich mir meine erste Reise durch Italien gedacht. Noch dazu mit einem Italiener. Statt Liebe Hass. Zu spät, kein Zurück. Und nun hier mit dem besoffenen Killer. Nicht einmal mehr ruhig genug zum Killen ist seine Hand. Alle Tedesci Barbaren zu nennen, was bildet der sich ein. Der hat es nötig. Welche Demütigungen wird er mir noch antun. Selbst dran schuld, wie jetzt herauskommen. Kühl bleiben, ruhig, sich als Geschäftsfrau geben. Bis ich die Adresse von Sandro hab auf alle Fälle. Fragen, solange er nach klar im Kopf ist.

"Was ist mit unseren Geschäften?" - "Eine gute Nachricht und eine schlechte hab ich für dich. Zuerst die gute: dein Balg ist gefunden. Da hast du die Anschrift und die Telefonnummer von Vater Piero und Sohn Sandro."- "Gib her. Hast du eine kraklige Handschrift. Portonovo ¬ wo ist das?" - "Nicht weit, kleine Bucht am Mare Adriatico unter dem Monte Connero." -  "Was ist mit deinem Auftrag?" -  "Das ist die schlechte Nachricht: Du musst es selber machen." - "Ich hör wohl nicht recht; nach allem, was du mir gerade vorschlägst? Geschäftspartner und so. Erst die Ware, die Leistung." -  "Das waren andere Zeiten. Deine und meine Famiglia waren Feinde, Piero das Licht auszublasen wäre Vendetta gewesen und jedem Italiener vertraut. Aber jetzt - Meinst du, ich will hinter Gitter?" -  "Ist was passiert?" - "Si. Wir sind quitt. Die Familien haben ihre Rechnung beglichen. Einer von den Unsrigen hat Pieros Schwager hingemacht. Weibergeschichte. Schluss mit Vendetta. Und weil es so nicht mehr sein kann, musst du es selber machen." - "Was selber machen?" -  "Piero treffen. Ha." - Er merkt sogar den Doppelsinn noch, sonst lallt er mehr, als dass er redet. - "Ich weiß wo. Hier. Lass ihn herkommen. Den Seitensprung macht der gern." -  "Ich will auch nicht wegen Mord sitzen." "Dann lass es." -  "Das nennst du Geschäfte? Wann zahlst du mir das Geld zurück? Und wie den Vorschuss, die Gattin zu spielen?" - "Gefallen hats dir doch auch." - "Nein. Nie."

Mehr sagt Katharina nicht. Denn ein Plan dämmert ihr, der alle Wut überwindet. Weibliche List hat jahrhundertelang denen geholfen, die stumm bleiben mussten. Gute Miene zum bösen Spiel, nur noch eine kleine Weile. Sonst waren alle Demütigungen umsonst. Kein Ende. - "Setz dich drauf. Beweg dich. Langsamer. Jetzt schneller. Dreh dich um und gucks der Donna im Televisione ab." - "Erst die Geschäfte. Wie soll ich den Piero loswerden? Erschießen? Alles will gelernt sein. Ich hab doch nicht mal eine Waffe." -  "So." Sagt er. "Son Ding haben wir alle unterm Kopfkissen." Alfred nimmt den Revolver unterm Kopfkissen vor, ohne hinzugucken, und hält ihn ihr hin. - "Ganz einfach, nicht vergessen zu spannen. Da, nimm. Spannen zwischen beide Hände, wie kann eine so blöd sein." -  "Wie kann einer so blöd sein", denkt Katharina. Hellwach und blendendweiß im Hirn. Dreht seine besoffene Hand rum zu ihm, als er abdrücken will, einfach um es ihr zu zeigen. Aber der Knall, denkt sie, das Nebenzimmer, blitzschnell hat sie das Kissen auf sein Gesicht gedrückt, seine Finger umklammert, und er hat abgedrückt. Sich selbst getroffen.

Den Knall hab ich mir nur gedacht. Was ich sehe, ist ein hochgebauschtes Kopfkissen, es dreht sich der Raum, die Luft vibriert, im Fernsehen schießen sie. Über den Kriminalfilm muss ich eingeschlafen sein. Leicht geht so der Film in den Traum. Manchmal der Traum wiederum in Wirklichkeit über. Schrecklich der Traum. Nun bin ich doch wach, warum weicht er nicht. Das Frankfurter Haus im Westend ist in die Luft geflogen, jemand verbrannt. Feuerwehr löscht, richtet den Strahl auf eine verkohlte Mumie neben dem schwelenden Pizzaofen, die erhebt sich, öffnet halb die Augen, sagt: "Es war kein Unfall". "Was sonst?" - "Mord." -  "Wer soll es gewesen sein?"  Die Mumie deutet mit dem braunen Armstumpf auf Katharina:  "Sie. Du."

Sie ist wach, der Traum ist aus, das Feuer fort, die Leiche ist da. Sie hebt das Kissen hoch, das Gesicht, schwarzer Punkt zwischen beiden offenen Augen. Kissen drauf. Nicht Piero. Ein Kissen ohne Kopf. Nicht anfassen. Welcher Einfall kommt Katharina gerade: Piero ist schuld. Mit ihm fing alles an. Ich schieb es ihm in die Schuhe. Zwei Fliegen mit einer Klappe. Ich lass ihn herkommen. Jeder denkt dann, er hat das Schwein erschossen. Weil Alfredo die Mutter seines Sohnes vergewaltigt hat. Ehre. Rache. Vendetta. Der ewige Kreislauf immer weiter. Alle Fliegen mit einer Klatsche. Selbst hat sich Alfredo die Kugel gegeben. Piero muss hergelockt werden, mit Sicherheit wird er dann verdächtigt. Ein fetter Kopf mit Zopf und Handy ist Alfredo gewesen. Wo ist Alfredos Handy? Unterm Kopfkissen. Rotverschmiert die pinkrosa Tasten, Vorsicht, mit Taschentuch anfassen. Anruf bei Piero, die Nummer da auf dem Zettel, hier herein wird er spazieren, mit der Leiche von Alfredo werden sie ihn finden. Und die Zentrale wird die Carabinieri aus dem Stadthaus holen. Zwei Anrufe genügen, und alles regelt sich von allein. Piero im Knast, Sandro zur Mutter in Frankfurt zurück, zu ihr, zu mir. Oder aber, noch besser: Der Pass in der Rezeption lautet auf einen der vielen Namen des Alfredo. Von Katharina Lerssing aus Frankfurt wissen die nichts. Die Verwandten in Colloredo müssen von Alfredos Tod wissen. Dann werden die schon für Vergeltung sorgen. Lasst andere für euch morden. Ich schick denen Pieros Foto. Wo ist es? Hier in der Handtasche. Ganz verknautscht. Schön sieht er aus. Wie ein italienischer Filmstar. Schade. Hinten drauf steht das Datum unseres ersten Sommers in Frankfurt. Ein Kugelschreiber muss her. In Blockbuchstaben draufschreiben: "Wir sind quitt. Ihr hättet auf Alfredo aufpassen sollen. Ihr könnt ihn abholen."
Nachdenken. Was machen? Was mitnehmen? Die Tasche. Briefumschlag vom Hotel. Francobolli. Sie steht auf, zieht sich halb an, geht zu Alfredos Sacco, findet zwei Männer¬ und drei Frauenpässe. Steckt sie wieder ein. Geht ins Bad, duscht einmal, duscht zweimal, zieht dies und das aus und wieder an, wirft Sachen in Tasche und Koffer, dreht den Fernseher aus und an. Wie viel Zeit ist vergangen. Ton vom Fernsehen aus. Licht aus. Draußen ist Nacht. Sie hört es im Nebenzimmer rumoren. Herr Färber. Den hatte sie ganz vergessen. Verrückt ist sie gewesen, von Sinnen. Sie kommt zu sich, die Wirklichkeit holt sie sich allmählich zurück, wie vorhin aus dem Traum. Mord ist ein langer Traum, eher eine Narkose. Wo bin ich gewesen? wie lange fort? Fort. Raus. Tasche und Koffer. Schild draußen: bitte nicht stören. Ich muss entrinnen, das Kind wartet auf mich. Nein, im Gang mit dem kakaobraunen Teppichflausch ist kein Mensch, die Turnschuhe sind Leisetreter, schnell hin zum Fahrstuhl. Bis sich die Nachbartür öffnet. Detektiv Färber hört das Gras wachsen, hat sie abgepasst oder Lunte gerochen. Oder ist doch Spion, Detektiv oder Erpresser oder einfach ein Kerl, der was von ihr will. "Küss die Hand, gnädige Frau, welches Programm hatten Sie an? Viele leise Schüsse und ein lauter Schuss." -  "Das war ich." -  "Makabre Scherze. Darf ich Sie zum Abendessen einladen? Vorher noch Corso, in der Dämmerung besonders anregend." Das alles ist nur noch ein grauschwarzer Alptraum. Die Felder und Häuser darin sind oft auch sonderbar schön. Gehen kann sie kaum, Neinsagen auch nicht, er schleift sie so mit. Renaissance-Colonaden an zwei Seiten, Rathaus-Palazzo Municipale samt Galleria schließen die dritte Seite und San Francesco die vierte des Rechtecks. Herr Färber erzählt, dass wegen dieser Piazza diese Stadt Asco1i Piceno "das Siena der Marche" genannt werde. Die Bauten gehören zum Alltag der Stadt, sind Ämter der Region Marchen, Restaurants, Läden, und über den Cafés wohnt jemand zwischen Hibiskus und Oleandersträuchern, ein kleines Landhaus auf dem Dach. Man wohnt noch im Alten, nicht alles ist den Touristen geopfert und verwimmelt bei Tage, dann nachts tot, wenn sie fort sind. Sensenmann an der gotischen Domwand. Er wird mich holen. Warte nur balde. Nein, einen Mord kann nicht jeder begehen. Selbstgerecht bin ich gewesen. Ich kann doch. So wie aus Versehen. Zwei Uhren übereinander des Rathausturmes. Piazza del Popolo. Es wogt auf und ab, ein Tonmann müsste den Stimmenchor aufnehmen, inmitten den vielen hohen Bauten des Rechtecks hallt es nach und staut sich. Was denke ich da? Die Töne werden höher und lauter, vibrieren durch den Körper hindurch und machen Panik. Murmelmurmel schwillt auf und ab. Schwarz gekleidete Jugendliche, die Jungens in Leder und die Mädchen in engen Pullovern, auf Plateausohlen, wie ein Theater-Cothurn so hoch, Klötze an storchendünnen Mädchenbeinen, als wollten sie umknicken. Bricht das Gelenk vom Gewicht um, Klumpfußplump, weil es ultima moda ist. Ganz normaler Alltag. mittendrin Katharina, die für immer und ewig eine Mörderin ist. Niemals, nie mehr wird mir der Tag normal und leicht sein. Alle zeigen auf mich. Tun sie nicht. Überall Spiegel. Warum sehe ich wie sonst aus? Lass mich los. Ach so, der Mann aus Grz. Warum der nichts merkt. Was hab ich gedacht? Warum bin ich wie gejagt? Nicht so laut, das gellt in den Ohren, der Kopf springt in Stücke. Sie werden mich holen. Schrille Parolen, schwarze Marschstiefel, Soldaten, Sirenen. Krieg. Was? Alles in Ordnung. Ein Corso-Abend wie andere. Unterm Kriegerdenkmal lässt lediglich eine fieses politische Partei Marschmusik aus einem Lautsprecherwagen schallen, Männer in schwarzen Anzügen mit Armbinden und junge Frauen in Uniformen verteilen grünweißrote Fähnchen, die sich bald in Händen sonntagsbunt gekleideter Kinder wiederfinden. Guck, das vorn! Sandruccio, warte! Jetzt bin ich verrückt. Oder was? In Ascoli wohnen wir. Jetzt ist es keine fata morgana, wenn ich Sandro sehe. Beim Corso mit Nonna und Tante wie vorgestern in Perugia. Er soll mich nicht sehen. Was muss er seit drei Stunden sein Leben lang sagen: Meine Mutter eine Mörderin, das darf nicht sein. Will ich, darf ich Sandro überhaupt bei mir haben? Welcher Unterschied ist zwischen den anderen Kriminellen und mir? Dass sein Vater Piero der Chefe einer Mordbande ist, ist nicht erwiesen.

Dass seine Mutter eine Mörderin ist, das ist sicher, ich, Katharina Lerssing aus Leipzig. Ich war selber dabei, neben mir, außer mir, aber ich war es. Alfredos Hand habe ich und kein andrer auf seinen Kopf gerichtet. Russisch Roulette, ja, aber das schließt bekanntlich die Zustimmung zur Treffschuss ein. Killergenen, vielleicht in deines Vaters Piero, sicherlich in den Genen deiner Mutter Katharina, povero Sandro. Wo wirst du in Zukunft geborgener sein? Immerhin spürt sie sich wieder, wenn auch verzweifelt. Besser als das taube Gefühl. Sie rennt dem Kind einige Zeit nach, dreht dann resigniert um, hockt sich auf den nächstbesten Cafehausstuhl und starrt vor sich hin. Wie Herr Färber es fertiggebracht hat, an ihrer Seite zu bleiben, ist ein Rätsel, sicherlich Erfahrung als Detektiv, denn dass er nur Gutachter in Gerichtsfällen sei, nimmt sie ihm nicht mehr ab. Er ist auch so sonderbar väterlich, brüderlich, mütterlich. Was für Worte, Väter schlagen, Brüder verlachen, Geliebte verlassen, Mütter morden. Fremden vertrauen, wenn der Augenblick danach ist, alles auf eine Karte zu setzen. Als er sie väterlich anspricht, heult es aus ihr heraus. "Katharina, pack aus." - "Ich hab es nicht gewollt. Oder doch. Aber den andern. Nein? Sie werden mich nicht mehr mögen. Wenn Sie wüssten, wissen. Mitwisser sind. Und Mord melden müssen." - "Wer weiß. Beichten ist auch geheim. Aber nicht auf nüchternen Magen. Essen hält Leib und Seele zusammen. Besser gesagt: Guter Wein zum Gespräch bringt sie wieder zusammen." - "Ich hab ja Hunger", flüstert Katharina. "Und wenn sie nach der Nachricht vom Mord ihres Verwandten Kaffee trinken, hab ich mich immer gewundert." - "So ist es", nickt Herr Förster, der von Haus aus angeblich Psychoanalytiker ist, der muss es wissen: "Der Mensch kann nur überleben, wenn er sich an alte Gewohnheiten zwischendurch hält. Sie haben wirklich in Auschwitz Karten gespielt, sonst wären sie vor allem Gas am Wahnsinn verreckt. Also Salute." Manche Restaurants ziehen an durch ihre von den Jahrhunderten gemalten Steine um von Reliefs gezierte Eingänge. Die Hosteria "Mostraciliegia" lockt obendrein durch Spezialitäten der Marken. "Eine Landschaft muss man auch schmecken", sagt Herr Förster. Er wählt für sie beide und erklärt auch, was ihr blüht: Olive Ascolani sind in Teig frittierte große Oliven, Kern raus, Hackfleisch rein. Ravioli mit Ricotta, Spinaci, Pinoli sind Pinienkerne mit dem zarten Harzgeschmack der Pinien, dann Coniglio con olive verde, also Kaninchenfleisch mit grünen Oliven. Schon diese Wärter! "Vincisgrassi Ascolani." Davon zeigt sich Katharina enttäuscht:- "Aber das ist doch einfach Lasagne!" -  "Lasagne ja, einfach nicht: mit Leber und Erbsen zu den bekannten Zutaten."

Über seine Verwunderung ihrer Kenntnis der italienischen Küche kommen sie auf die Pizzeria in Frankfurt und die ganze Geschichte. Was es alles gibt. Zwei bis vor Tagen Fremde sitzen hier in Ascoli und reden vom Essen, der jüdische Gelehrte aus Österreich mit seiner schlimmen Vergangenheit und rätselhaften Geschichte und die dreifache Mutter aus Leipzig, neuerdings Frankfurt am Main, mit ihrem frischem Mord auf dem Gewissen. Nie gewusst, dass es so sein kann, so ist: Gelähmtes Schweigen wechselt aus das Signal seiner Frage mit sprudelndem Reden, nun weiß sie, was Beichten oder Sich-Auskotzen ist. Wenn nur die Radiomusik nicht so laut wäre. - "Von Anfang an: Sie sind also zum erstenmal in Italien!" "Ja, aus der DDR kommt man nicht raus, das weiß doch jedes Kind, auch bei Ihnen in Österreich, und wo Sie doch ein Detektiv sind. Irgendwas ist komisch mit Ihnen, an Ihnen, aber egal, alles zu spät. Die mit Ihnen spricht, ist eine Mörderin. Es war kein Witz, das mit dem Schuss, das war, die war ich. Vielleicht aus Versehen, aber von Anfang an in Italien hat sich der Hass von meinem Mann, ich meine Vater von Sandra, dem Piero, auf den Killer gewendet, den ich für ihn gemietet hab. und so ein älterer Mann im Friaul, nicht weit von Graz muss das sein, und so ein gelehrter Mann wie Sie ist er, der hat mir die Adresse gegeben, warum denn hat er das getan, warum mir nicht alles ausgeredet, die in Italien können fromm und mörderisch im gleichen Zug sein und überhaupt .... Oh, mein Kopf. Die Musik dröhnt mir durch Mark und Bein, tut richtig weh ... "- "Nicht alles auf einmal. Nun der Reihe nach."

Die Geschichte von Piero noch einmal, die Liebesgeschichte, anders als in ihrem Rachefieber auf der hektischen Anreise klingt sie jetzt schon. Katharina stammelt langsam, schweigt dann erschöpft, verhaspelt sich und sprudelt hektisch weiter. "Ja, das ist die Geschichte. Vielleicht gar nicht wahr. Alptraum. Aber der Andere liegt wirklich im Hotelzimmer tot. Nein, bitterernst ist mir das mit dem Hinrichten von Piero nicht gewesen. Getan habe ich es. Halb aus Versehen mit einem andern. Aber getan. Kann es. Morden. Will nicht weiter, wie denn. Nein. Nein. Nie wieder. Sowieso alles aus. Keinen Finger an Piero rühren will ich. Aber wie soll es weitergehen? Sicherlich zeigen Sie mich an."- "Nein." - "Warum nicht?" - "Ach wissen Sie, nach allem was da früher war. Es hilft Ihrem Sandro keine Mutter im Zuchthaus." - "Eine Mörderin auch nicht, wenn auch so halb aus Versehen. Die Tür, der Mann, sie kommen mich holen." -  "Niemand will Ihnen etwas tun. Niemand weiß etwas. Er war doch halb Unfall, halb Notwehr." - "Aber ich hab ihn gehasst."      - "Hass ist kein Rechtsbruch. Ich bring dich um, wie leicht sagt sich das. - Das mit Piero, das wäre vorsätzlicher Mord. Vergessen Sie die Hirngespinste des Hasses, der Wut, der gekränkten Liebe. Den Sohn müssen Sie suchen. Den Vater sich aus dem Kopf schlagen wohl." -  "Wo ist Sandro?" -  "Wir müssen wohl suchen. Eine abgelegene Landzunge in der Nähe soll es sein."  - "Da gibt es so viele Möglichkeiten ja nicht. Als erstes müssen wir die Landkarte der näheren Küste studieren. Der Wirt kann uns sicherlich helfen. Padrone!" - "Gott sei Dank, die nervtötende Dauerberieselung lässt nach. Aber hören sie:  "Wir unterbrechen unser Konzert für eine dringende Meldung: Die Policia Municipale von Ascoli Piceno, Marche, bittet um eine Durchsage: In einem Hotel wurde die Leiche des einschlägig vorbestraften Alfredo Brunetti aus Chioggia gefunden. Als verdächtig vorläufig festgenommen wurde Piero F., der Besitzer einer Pizzeria in Frankfurt am Main. Die Polizei vermutet persönliche Gründe.

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