Holzfuß, Hinkebein und Dünnbart
10. Juli 2018 / Heute läuft das Halbfinale der Fussballweltmeisterschaft in St. Petersburg. Wir möchten an Oleg Jurjew erinnern, der von wenigen Tagen gestorben ist und an seinen ersten Berufswunsch als kleiner Junge in Leningrad. Ich bin froh, dass er sich für seinen zweiten Berufswunsch entschieden hat. (Julietta Fix, Redaktion Fixpoetry)
Jungs wollen Feuerwehrmann, Polizist oder Schornsteinfeger werden. Mädchen – Ballerina oder Stewardeß. Nimmt man an. Als ich ein Kind war, im Leningrad der 60er Jahre, – ein kleines Kind in gummibeschlagenen Filzstiefeln, einer runden Kunstfellmütze mit einem Rotarmistensternchen auf der Stirn und einer schief sitzenden und ewig angelaufenen Hornbrille – wollten die meisten Kindergartenkollegen von mir Feuerwehrmann werden. Und Kosmonaut. Nicht ich jedoch: Mein fester Berufswunsch war: Fußballkommentator. Dieser Beruf schien mir meine beiden Neigungen zu vereinen: Fußball (gucken, nicht spielen) und Dichtung (schreiben, nicht lesen).
Nach dreißig-vierzig Jahren Erfahrung im Gucken-nicht-Spielen weiß ich, daß ein Fußballspiel (mit wenigen Ausnahmen!) eine in ihrer Sinnlosigkeit beinahe beschämende Veranstaltung ist, wenn du es dir von Anfang an und bis zum Ende anschaust (im Unterschied zu den wendungs- und sinnreicheren Spielen wie, sagen wir, Billard oder Curling). Blöder als Fußball ist nur das Schachspiel: Zwei krumme Männchen, die verbittert auf eine kleine Holzuhr klopfen, stellvertretend für den Schädel des Vis-á-vis. Im Prinzip ist ein Fußballspiel nur in Auszügen, in Essenzen, in kommentierten Sequenzen auszuhalten. Momente, Episoden, Dribblings, Pässe, Treffer... Eigentlich ist das Gleiche auch für die Poesie richtig: Kaum ein Dichter ist als Ganzes zu ertragen. Kaum ein Mensch ist imstande, einen Lyrikband von Anfang bis Ende zu lesen. Gut ausgewählte und kommentierte Anthologien (für ein Jahr, ein Jahrhundert oder ein Jahrtausend) sind für den Normalleser eine viel bekömmlichere Existenzform der Lyrik. Chinesen und Japaner haben das vor Jahrtausenden begriffen.
Vor 30-40 Jahren konnte ich mir allerdings ohne Mühe ein ganzes Spiel von Zenit Leningrad reinziehen, was heute unbegreiflich ist: Zenit, ein Klub, der dem staatlichen Optik-Konzern LOMO gehörte, spielte in der Mitte der sowjetischen Liga und war nur durch die Namen seiner Spieler aufgefallen, von denen viele, gottweißwarum, einen gewissen Grad körperlicher Unzulänglichkeit thematisierten: So ungefähr, wenn in einem deutschem Verein die Angriffsreihe aus Holzfuß, Hinkebein und Dünnbart bestünde. Übrigens kennt man auch im Westen den Namen „LOMO“ - dank der s. g. Lomographie, dem Wettknipsen vermittels des sowjetischen Fotoapparats LOMO, das kurz vor der Erfindung der Digitalkameras modisch geworden war. So gesehen war Zenit der Bruder der Lomographie. Heute ist er ein Bruder des Gasherdes, der jedoch viele Brüder hat, unter ihnen auch Schalke 04.
Kann sein, daß ich damaligen stocklangweiligen Fußball nur deshalb in voller Länge aushalten konnte, weil er im Leningrader Fernsehen von dem berühmten (bei uns in Leningrad) und unübertrefflichen (überall auf der Welt, ich bin fest davon überzeugt!) Victor Nabutov kommentiert wurde.
Nabutov, ein ehemaliger Torwart der legendären Mannschaft Dynamo Leningrad, war nicht nur ein Epiker, Lyriker und Wortkünstler. Das sind fast alle Fußballkommentatoren. Besonders in heutiger Zeit, in der die meisten Literaten versuchen, sich immer einfacher und direkter auszudrücken, um die fortschreitende Verblödung – nicht gerade die des Lesers, sondern eher die des Leserbildes in Verlag und Feuilleton – nachzuholen (was kaum gelingt, man kann mit dieser Verblödung kaum Schritt halten), bemüht sich niemand in der Medienwelt so rührend um die Sprache, wie ein Fußballkommentator. Beispielsweise kann eine halbe Reportage über ein Freundschaftsspiel gegen, sagen wir, Zypern, der Frage gewidmet werden, wie man den Gegner am korrektesten nennt: Zyprer oder Zyprioten? Sport- und in erster Linie Fußballkommentatoren sind die letzten, die sich konsequent metaphorisch und bildhaft ausdrücken. Koste es, was es wolle. Und: Seit den Avantgardisten der 20er Jahre haben Wortspiele keine größeren Freunde gehabt als die Fußballkommentatoren.
Doch Victor Nabutov war nicht nur ein Dichter – er war auch ein kultivierter Mensch, der mit seinen Manieren Eindruck machte. Obwohl auch er die Angewohnheit hatte (die damals üblich war und auch von ihm erfunden und eingeführt wurde), die auf dem Bildschirm agierenden Spieler direkt anzusprechen, siezte er sie dabei: „Iwan Hinkebein, wo ist Ihre Schnelligkeit?“ fragte er nicht ohne ironische Verzweiflung ins Mikrofon, und Iwan Hinkebein, als ob er diese Frage gehört hätte, begann sich aus dem Stehschlaf zu befreien – nicht für lange. Iwan Hinkebein war ein zu großer Künstler für dieses blöde Hin- und Herrennen. Einmal durfte ich beobachten, wie er - ein Meter vom feindlichen Tor entfernt, das er nach einer der Nabutovschen Fragen schrittweise (und etwas künstlich hinkend) erreichte, - den Ball auf den Kopf bekam. Und zwar direkt vor der leeren Torecke (der Tormann hockte in der anderen). Iwan Hinkebein sprang auf, so hoch, wie er in seinem ganzen Leben noch nie hochgesprungen war, und köpfte, sich noch in diesem Freiflug befindend, den Ball – nicht ins Tor, das versteht sich von selbst. Aber auch nicht übers Tor und nicht seitlich vorbei. Nein, mit einer nicht vor- und nicht nachher gesehenen Eleganz köpfte er den Ball gezielt und absichtlich streng vertikal nach unten, auf seinen eigenen frei in der Luft hinkenden Fuß, der in der Zeit die Bewegung für einen Schuß mit der Picke ausführte. Selbstverständlich kam inzwischen der Torwart in eben diese Ecke gekrochen und der gepickte Ball knallte mitten auf seinen Bauch. Als Iwan Hinkebein aus den Lüften zurück auf der sündigen Erde war, schien er nicht besonders betroffen zu sein, daß er nicht getroffen hatte (das typische fußballkommentatorische Wortspiel, übrigens! steht unter UNESCO-Schutz!). Dafür aber hatte er etwas von bleibendem Wert erschaffen! Ein Bild, eine Flugfigur, ein Kunstwerk! Etwas, was ihn heute noch freut, als er sich daran erinnert, nehme ich an. Mich zumindest freut diese Erinnerung immer! Iwan Hinkebein, ich danke Ihnen!
Also wollte ich so wie Victor Nabutov werden, aber ich wußte, daß dieser Beruf für mich nicht ausführbar war. Ich war stark kurzsichtig. Wie würde ich – dachte ich mir – von dem oberen Kommentatorenplatz in diesem gigantischen (100 000 Plätze) Kirov-Stadion zwischen Holzfuß und Hinkebein unterscheiden können? Und wie sollte ich Dünnbart da unten erspähen, einen schweigsamen jungen Mann mit einem tatsächlich etwas lichten Schnurbart, der sich die meiste Zeit im Zustand vollständiger Unsichtbarkeit aufhielt und nur in Erscheinung trat, wenn ein Strafstoß auszuführen war? Das konnte er, der Dünnbart. Nicht daß er traf, aber es war schön anzuschauen.
Deshalb habe ich mir meinen Berufswunsch Nr. 1 verboten und nahm die Nr. 2: Ich wurde zu einem russischen Dichter. Zu einem, dem die Verbundenheit zu dieser optischen Täuschung, diesem schlafwandelnden lomographischen Zenit eingeboren war. Doch dann geschah Unglaubliches: Anfang der 80er Jahre wurden Holzfuß, Hinkebein und Dünnbart in die Pampa geschickt. Wenn ich mich nicht irre, hieß die Pampa Österreich. Sie gingen zu Rapid Wien, dem Fußballklub mit gewissen Beziehungen zur Internationalen Arbeiterbewegung (die sich zu der Zeit ebenso schlafwandlerisch bewegte), und an ihrer Statt holte man junge Leute aus der LOMO-eigenen Fußballschule. Und siehe da: 1984 wurde Zenit zum Fußballmeister der UdSSR, was ganz Leningrad - mich auch!!! - glückstoll machte. Auf den Tribünen des Kirov-Stadions sangen damals Fanchöre ein merkwürdiges Liedchen mit keinerlei Bezug zur damaligen Realität:
Es kommt das Tor,
Es kommt das Zweite,
Der UEFA-Cup
Ist unsere Beute!
Ein paar Jahre später sollte dieser Reim wie ein Spottgesang klingen: Der Höhenflug des Zenit hatte sich als der einer Eintagsfliege entpuppt: Junge Leute begannen bald auch übers Feld zu schlafwandeln, die Besseren gingen nach Moskau und schlafwandelten dort, Victor Nabutov war längst gestorben und niemand mehr konnte die fehlende Schnelligkeit eines Spielers direkt auf dem Fernsehbildschirm abfragen; und dann war auch die Sowjetunion weg. Die besten unserer Gegner mit eingebauter Garantie für das Eins zu Eins, Dnjepr Dnjepropetrowsk, Nistru Kischinjow und Neftschi Baku, waren plötzlich Ausland geworden. Und mit Lutsch Wladiwostok zu spielen, also von der Ostsee zum Pazifik zu einem Ligaspiel zu fliegen, daran mußte man sich noch gewöhnen. Die Lomographie brachte auch nicht so viel, daß man eine Fußballmannschaft richtig unterhalten konnte. Ganz durcheinander, ist Zenit aus der neuen russischen Liga sogar einmal abgestiegen, war aber schnell wieder da, irgendwo im „Niemandsland“, wie es Fußballjournalisten so poetisch auszudrücken pflegen. Mit dem neuen Jahrtausend begann sein langsamer Aufstieg – mit immer besseren Sponsoren, mit immer teureren Trainern und Spielern, obwohl viele von den Letzteren immer noch aus der eigenen Schule kommen, wie der berühmt gewordene Andrej Arschawin.
Ein mächtiger Wahrsager hielt sich wahrscheinlich im Jahre 1984 auf den Tribünen des Kirov-Stadions versteckt, ein Fußball-Nostradamus: Er wußte nicht nur über den UEFA-Cup von 2008 Bescheid – sogar den Endstand des Finale-Spiels: zwei zu null gegen Glasgow Rangers wusste er! Was noch? Vielleicht war die Zukunft der ganzen Menschheit in seinen Kurzversen kodiert? Wie werden das nie erfahren, sein restlicher Nachlaß ist verloren gegangen...
Oder doch? Irgendwo in Archiven des Leningrader Fernsehens, in Aufnahmen eines alten Fußballspiels konnte man aus dem Tribünenlärm rausfiltern, wie es mit uns weiter geht?..
Zumindest: Wer wird der Europameister?
Aber wer will das jetzt schon wissen?
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