Essay

Danke, dass es Dich gibt, Herta Müller!

Hamburg

Der Kurs, den ich besucht habe, ist vorbei. Der Dozent hätte sich die Mühe sparen können: Ich möchte in die Luft springen. Fliegen. Doch zunächst verlasse ich den Raum und gehe zur Toilette, um mein Gesicht zu waschen.
Vier Stunden später, auf der Autobahn. Es regnet nicht, aber ich sehe kaum etwas. Mein Blick verschwimmt. Ich weine. Es ist wahr! Ich rechnete schon lange damit, aber letztes Jahr hat Fortuna einem anderen gelacht … Gestern Abend, bei der Lesung mit Richard, Helmut, Horst und Johann, war noch alles offen. Möglich. Jetzt ist es aber sicher. Die Nachricht wurde schon von mehreren Presseagenturen verbreitet.

Das Handy klingelt andauernd. Zuerst möchte Horst wissen, ob ich es schon weiß. Dann Imre. Dann Ilse. Dann Francisca. Dann Uli, Bogdan, Ondine, Ulrich, Irene …
Irene muss sehr schnell einen Artikel für den „Spiegel“ schreiben und fragt, wer ihr helfen kann. Johann, antworte ich und gebe ihr seine Telefonnummer. Leider nicht, kommt zehn Minuten später die Antwort, er will sich nicht vordrängen, wenn es um die Verdienste von Herta geht. Horst, versuche ich es erneut. Seine Telefonnummer lautet …

Eine halbe Stunde Einsamkeit. 20 km bis Ulm. Ans Telefon wird sie gerade jetzt nicht gehen. Ich versuche es trotzdem. Bis zum Leonberger Kreuz, wo der Stau verschwindet, als ob es ihn nicht gegeben hätte.
Ludwigsburg. Danke, dass es Dich gibt, Herta. Das werde ich ihr schreiben. Und das schreibe ich ihr auch. Auf Rumänisch. Sie wird auf Deutsch antworten. Wie immer. Wenn überhaupt. Ihr Postkorb ist bestimmt voll.
Passiert. Erst morgens, aber immerhin. Die Nachrichten hatten höchste Priorität.

Direkt gesagt: Du bist die Beste, Herta. Egal was die Banater Schwaben gesagt haben und sagen werden. Oder die rumänischen und deutschen Geheimdienste. Oder die deutschen Medien, die die SCHRIFTSTELLERIN Herta Müller, wenn überhaupt, erst jetzt entdeckt haben. Die Redaktionen, die auf die Schnelle rumänischsprachige Mitarbeiter vorbeischickten (1), obwohl du als DEUTSCHE Autorin die Ehrung bekommen hast. Der Kulturfunktionär, der Herrn Müller dankte ... Oder die rumänischen Medien, die Dich bisher genauso wenig als Schriftstellerin wahrgenommen haben, jetzt aber kakophonisch herumlabern und sich bis zu den grotesken Behauptungen versteigen, dass Du eigentlich Rumänien repräsentieren würdest, ja, dass Deine Werke Ceausescus Regierung, bzw. dem damaligen und heutigen rumänischen Geheimdienst zu verdanken wären ...

Es stimmt, dass Du immer noch über Rumänien schreibst, sogar über das heutige Rumänien. Es stimmt, dass jene, die deinen Protest gegen ehemalige Kollaborateure des rumänischen Geheimdienstes gelesen haben – es handelte sich um rumänische Kulturbotschafter in Berlin –, denken könnten, dass Du wie eine Rumänin denkst. Es stimmt, dass Du in Rumänien geboren bist, es stimmt auch, dass Du Deine ersten Veröffentlichungen und Anerkennungen in Rumänien erlebt hast. Es stimmt auch, dass Du immer noch Mitglied des Rumänischen Schriftstellerverbands, Filiale Temeswar bist. Es stimmt, dass nun diese höchste Würdigung nicht nur nach zahlreichen Büchern und Auszeichnungen kommt, sondern auch nach zwei Anwerbungen und vier Jahren Verfolgung durch den rumänischen Geheimdienst (2). Es stimmt auch, dass in Deutschland bis heute kaum jemand glauben will, dass in Rumänien eine deutsche Minderheit lebte und immer noch lebt, dass es dort deutschsprachige Kindergärten, Schulen, Theater, Zeitungen, Verlage usw. gab und gibt. Eine deutsche Minderheit, zu der neben verfolgten, eingesperrten oder deportierten Menschen auch Faschisten, Nationalisten, Funktionäre der Kommunistischen Partei, Parteihochschulabsolventen genauso wie Securitate-Mitarbeiter und -Helfer gehörten – das muss leider gesagt sein, weil viele denken, dass dies nur für die Rumänen zutrifft.

Du warst und bleibst, egal wer was sagt, eine deutsche Schriftstellerin. Eine deutsche Schriftstellerin allerdings, die aus einem Land, das noch nicht existierte, als Deine Vorfahren als Kolonisten dorthin gegangen sind, nämlich dem heutigen Rumänien, zurückkehrte in ein Land, das noch nicht existierte, als Deine Vorfahren es verlassen haben, das heutige Deutschland. Die Themen, die Du aufgreifst, gelten der deutschen Minderheit in einem von den Kommunisten okkupierten Rumänien – und der Diktatur. Dein Leid, Dein Schmerz, Deine Trauer, Deine Gedanken und Gefühle sind andere, als sie die Rumänen gehabt haben. Du sprichst klipp und klar über Deine eigenen Probleme – Deine Sicht der Dinge ist nicht die rumänische. Wer Dich als eine Rumänin sieht, die das Land aus Angst oder Ekel verlassen hat, irrt sich sehr. Du hast Dich, meines Wissens, nie als Vertreterin der Rumänen begriffen und wurdest auch nie zu deren Vertreterin gewählt.

Andererseits ist es das erste Mal, dass das Werk einer Autorin, die aus einer deutschen Minderheit kommt, so hoch geehrt und anerkannt wurde. Eine indirekte Anerkennung auch der bei vielen leider immer noch bloß als Dracula-Land bekannten Ecke Europas, wo jeder, egal welcher Muttersprache, leben durfte, seine Sprache und Tradition behalten konnte, egal was für eine politische oder nationale Farbe die Herrscher des Tages trugen? Vielleicht. So was findet man sonst nirgends in unserer perfekten demokratischen Welt.
Es besteht Hoffnung, dass die – in den letzten Jahren – sehr pragmatischen Mitglieder der Nobelpreisjury auch die rumänische Literatur sowie die Literatur der anderen Minderheiten in Rumänien entdecken. Damit die Welt erfährt, dass es in Rumänien viele Autoren gegeben hat und selbstverständlich auch heute gibt, die verdammt gut schreiben – nicht nur bei der deutschen Minderheit, sondern auch bei den Minderheiten der Roma, Ungarn, Russen, Serben, Kroaten, Albaner, Türken usw., genauso wie bei der rumänischen Mehrheit, die allesamt unterdrückt waren.

Was hat aber all dies mit dem Nobelpreis für Literatur zu tun, liebe Herta Müller? NICHTS. Ich glaube und hoffe das zumindest. DU BIST TATSÄCHLICH EINE HERAUSRAGENDE SCHRIFTSTELLERIN. OHNE WENN UND ABER. Das allein zählt – und bleibt. Alles andere ist, aus diesem Blickwinkel betrachtet, Schnee von gestern. „Es ist immer derselbe Schnee“, wie du schreibst … Was du schreibst, ist wichtig, aber genauso wichtig ist, WIE du schreibst. Wunderbar.

Wie bereits gesagt, gehören Deine Werke zur deutschen Literatur. Doch auch wir, die das Privileg haben, Dich zu kennen, obwohl wir zur rumänischen Mehrheit gehörten, haben Grund zum Jubeln: zunächst weil wir einer wahnsinnig guten Schriftstellerin persönlich begegnen durften, und nicht zuletzt weil Du uns gezeigt hast, was es bedeutet, für die eigene Ziele und Ideen zu kämpfen. Auch ich ganz persönlich, weil ich ebenfalls aus Rumänien ausgewandert – heimatlos bin wie Du und hier keiner Minderheit gehöre, weil die demokratische Welt gar keine Minderheiten kennt. Du hast mir nicht nur einige hervorragende Texte zum Veröffentlichen geschenkt, sondern sehr viel mehr: Deinen Kampf gegen Repressionen, Beschattungen, Akten, Protokolle, Verhöre usw. Die Sprache Deines Kampfes erinnert mich aber auch an eine andere Facette dieses Landes, die uns alle – Rumänen, Minderheiten, Täter und Opfer – geprägt hat: die rumänische Sprache und Mentalität.
An jenem Abschnitt der Geschichte, jenem Stück Temeswar und Rumänien, das Du immer bei dir trägst, hatte auch ich teil, der Rumäne, der glücklich war und ist, Dich persönlich sowie unsere damaligen deutschsprachigen Mitstreiter und Kollegen kennengelernt und von Eurer Freundschaft sogar profitiert zu haben – als Beispiel will ich nur erwähnen, dass Helmut Frauendorfer der Erste war, der meine Protestgedichte in Rumänien veröffentlicht hat, oder das Deutsche Staatstheater Temeswar das erste Theater war, das meine damals verbotenen Stücke inszenieren wollte. Nicht als Gegenleistung, sondern aus Zuneigung habe ich bei einer offiziellen Zeremonie des Schriftstellerverbandes nach Euch gefragt, als Eure Namen einfach übergangen wurden. Es gab keine Antwort, aber die Frage blieb minutenlang im Raum hängen – in der Grabesstille, die sich plötzlich ausbreitete und die fröhliche Unbekümmertheit hinwegfegte. Die Schatten der Vergangenheit liegen immer noch über Rumänien. Über diesem Land, das mich immer noch schmerzt, auch wenn sich inzwischen einiges gebessert hat, auch wenn ich inzwischen in der freien Welt gelernt habe, dass es … „immer derselbe Schnee ist …“

Ich wünsche Dir, Herta, von ganzem Herzen, dass der Nobelpreis Dich nicht von Deinem Weg abbringt. Und Deinen Texten wünsche ich, dass sie nicht nur gefeiert, sondern auch ernst genommen werden. Erlaube mir bitte, zum Schluss eine Passage aus Deinem in MATRIX veröffentlichten Text zu zitieren, die Dich – meiner Meinung nach – als Schriftstellerin und als Mensch besser beschreibt als alle Worte, die man über Dich sagen und schreiben kann:

„Im Rumänischen gibt es zwei Wörter für Schnee. Eines davon, das poetische Wort für Schnee, heißt NEA. Und NEA heißt im Rumänischen auch ein Herr, den man zum Siezen zu gut und zum Duzen zu wenig kennt. Auf Deutsch würde man vielleicht ONKEL sagen. Manchmal wenden die Wörter sich an, wie sie wollen. Ich mußte mich gegen den Prüfer wehren und gegen die Suggestion des Rumänischen, das mir sagte: Es ist immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel.
Jeden Winter kam zu uns nach Hause die Weißnäherin. (…) Als sie den letzten Abend bei uns war, sagte ich nach dem Nachtessen: Näh mir was zum Spielen.
Sie sagte: Was soll ich dir nähen.
Ich sagte: Näh mir ein Stück Brot.
Sie sagte: Dann mußt du später alles, was du gespielt hast, essen.
Alles, was man gespielt hat, essen. So könnte man auch das Schreiben definieren. Wer weiß: Was ich schreib, muß ich essen, was ich nicht schreib – frißt mich. Davon, daß ich es esse, verschwindet es nicht. Und davon, daß es mich frißt, verschwinde ich nicht. So ist das, wenn sich Gegenstände selbständig machen und Sprachbilder sich diebisch nehmen, was ihnen nicht gehört. Gerade beim Schreiben, wenn Worte etwas anderes werden, um genau zu sein, stelle ich kopfschüttelnd fest:
Es ist immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel.“(3)

Herzlichen Glückwunsch – und danke, dass es Dich gibt, Herta Müller!

Erschienen in Matrix 4/2009

Notes:
1) Frankfurter Allgemeine vom 11. Oktober 2009, Seite 23
2) Die Zeit vom 23. Juli 2009
3) Herta Müller, Es ist immer derselbe Schnee, MATRIX 4/2006

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