Juri Elperin
Herzlich lächelnd kommt Juri Elperin, der 93jährige Übersetzer und Schriftsteller, dem Besucher aus seiner Wohnung in der Berliner Uhlandstraße entgegen. Ein Ort der Ruhe, ein Ort der Erinnerungen. Übersetzte Bücher aus über 60 Jahren Berufstätigkeit, Fotos, Gemälde, die er bei der Übersiedlung aus Russland mitgebracht hat. Juri Elperin hat ein helles Arbeitszimmer, Fenster zu einem kleinen Dachgarten hin, in der Ferne gerade noch der Stumpf der Gedächtniskirche, der über die Dächer hinausragt. Er beschäftige sich gerade ausgiebig mit dem Thema Übersetzungskritik, sagt er – und zeigt mir an einem Jessenin-Gedicht die Fehler, wenn ein gereimtes Gedicht in der Übersetzung ungereimt wiedergegeben wird. Ein Vortrag im Literaturhaus in der Fasanenstraße Berlin, Einladungen an Universitäten in Magdeburg und Kiel zeigen das Interesse an dem großen alten Mann der Übersetzungskunst aus dem Russischen ins Deutsche; der Verein der Absolventen und Freunde der Lomonossov-Universität Moskau in Berlin gab ein Büchlein mit dem Titel „Juri Elperin – literarischer Übersetzer und Autor“ über das Schaffen Juri Elperins heraus.
Ende der 1990er Jahre hat Juri Elperin für seine Verdienste um die deutsch-russischen Literaturbeziehungen, für seine verschlungene und auch von deutscher Seite aus geschlagene Biografie, zusätzlich zu seiner russischen die deutsche Staatsbürgerschaft zuerkannt bekommen – und er erhielt eine Ehrenpension des Bundespräsidenten; seit 2000 lebt er wieder, nach der Übersiedlung aus Moskau, in Berlin – in der Stadt, in der er groß geworden ist, und mit der ihn so viele Erinnerungen aus der Kinder- und Jugendzeit verbinden.
Er ist mit Boris Pasternak, dem Literatur-Nobelpreisträger von 1958, der als Schriftsteller in der Sowjetunion diesen Preis offiziell ablehnen musste, oft spazieren gegangen, er war bei dessen Beerdigung; er übersetzte Valentin Katayev, den russischen Romancier und Stückeschreiber – "wunderbar als Schriftsteller, ein absoluter Zyniker als Mensch", sagt Juri Elperin, er übersetzte die berühmt gewordenen „Kinder vom Arbat“ des russisch-jüdischen Autors Anatoli Rybakov, „Neuland unterm Pflug“ von Michail Scholochov, Lyrik von Anna Achmatova und Iwan Alexejewitsch Bunin.
Und: Er engagierte sich immer, im Osten wie im Westen. Charakteristisch ist seine Bekanntschaft mit Friedrich Dürrenmatt und Charlotte Kerr, die er bei ihrem Moskau-Besuch in den späten 1990er Jahren begleitete. Juri Elperin nutzte den prominenten Schriftstellerbesuch aus dem Westen, um eine Ausstellung zu „retten“, die wegen zu offensichtlicher Kritik von der Schließung bedroht war – er nahm Friedrich Dürrenmatt mit und ließ ihn auf einem Ausstellungsplakat seine Eindrücke notieren, die „Offiziellen“ trauten sich dann nicht mehr, die kritische Ausstellung zu schließen.
Juri Elperin wurde 1917 als Kind russischer Eltern in Davos (Schweiz) geboren, wohin der Vater wegen einer Lungenkrankheit übersiedelt war. Dann kam er im Jahr 1922 als Fünfjähriger mit seinen Eltern nach Berlin, wo sein Vater, Leo Elperin, studierter Jurist, eine Stelle als Direktor einer Buchdruckerei angenommen hatte. Er besuchte Kindergarten, Volksschule und Gymnasium, wuchs im Hansaviertel auf, der Vater hatte die deutsche Staatsbürgerschaft schon beantragt, und ganz selbstverständlich wurde auch im Elternhaus deutsch gesprochen – „die deutsche Sprache ist meine Muttersprache“ sagt er, heute noch mit leichter Berliner Färbung, - auch das ein Glück, denn „ein guter Übersetzer ist nur, wer in seine Muttersprache übersetzt.“
Im Jahr 1933 dann wurde die Familie, beide Eltern jüdischer Abstammung, ohne dass jüdische Traditionen gelebt worden wären, ausgewiesen; ausschlaggebend war vor allem, dass in der Druckerei des Vaters sozialdemokratische Schriften gedruckt wurden. „Die Gestapo war da und hat Vater verhaftet“, hatte die Mutter nur gesagt, als Juri Elperin nach Hause kam; er wurde dann freigelassen mit der Auflage, dass die Familie – jetzt „regimefeindliche Elemente“ – innerhalb von zehn Tagen Deutschland verlässt. Zunächst ging es nach Paris. Ins sozialistische Moskau, wo die einst wohlhabende Familie nach der Oktoberrevolution enteignet worden war, zog die Familie Elperin nichts. In Frankreich als „lästige Ausländer“ gerade so geduldet, als 16jähriger in die fremde französische Sprache hineingeworfen, fand er ersten praktischen Zugang zur Literatur, der mit seiner Sehnsucht nach der deutschen Sprache zu tun hatte: er versuchte, einen französischen Roman, „Les croix du bois“, ins Deutsche zu übersetzen. Aber nachdem die Aufenthaltserlaubnis in Frankreich nach zwei Jahren nicht verlängert wurde, musste schließlich doch der Weg nach Moskau eingeschlagen werden – „wir saßen in Russland in der Falle“, sagt Juri Elperin, wenn auch er die berühmte, deutschsprachige Karl-Liebknecht-Schule (an der auch der spätere DDR-Spionagechef Markus Wolf Schüler war) besuchte, bis sie geschlossen wurde.
Juri Elperin studierte Germanistik und erlebte – es war dunkelste Stalinzeit – Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus: Er erlebte, was es bedeutete, im Russland jener Zeit als „Kosmopolit“ angesehen zu werden, als Mensch mit internationalem und gar jüdischem Hintergrund. Ausgestattet also auch hier mit dem Makel, eine Bedrohung für die Gesellschaft zu sein.
Im Jahr 1941 schloss er sein Germanistik-Studium ab – im Jahr Einmarsches der deutschen Wehrmacht in die Sowjetunion. Elperin meldete sich freiwillig an die Front. Motiv: „Hitlerfeindlichkeit. Er hatte mir mein Deutschland genommen.“ Später kam er als Vernehmungsoffizier ins Lager Nr. 27 nach Krasnogorsk geschickt, zur Vernehmung von deutschen Kriegsgefangenen, zumeist hohen Offizieren, die für die sowjetische Militärspionage von Interesse waren.
Nach dem Krieg arbeitete Juri Elperin als Dozent für Lexik und Phonetik des Deutschen an der Hochschule für Fremdsprachen in Moskau – bis er entlassen wurde. Wie seine Mutter, die als Deutschdozentin an einer Medizinischen Hochschule arbeitet, und sein Vater, ohne Begründung rausgeworfen. Die Familie hielt sich nur damit über Wasser, dass Juri Elperin in Privatstunden Deutsch unterrichtete. Dazu fand die Familie in Moskau keine Wohnung, sie musste ins über 20 Kilometer entfernte Peredelkino umziehen, wo sie ein Grundstück angeboten bekam und ein kleines Haus bauen konnte.
"Was man heute als Unglück betrachtet, kann sich morgen als Glück herausstellen“, resümiert Juri Elperin: Die Familie entging durch diesen räumlichen Abstand zu Moskau wahrscheinlich dem Lager, in das viele sogenannte „Kosmopoliten“ gesteckt wurden. Und Peredelkino, das Schriftstellerdorf, war für den literarisch Interessierten genau das richtige Umfeld. Die berühmten russischen und sowjetischen Schriftsteller lebten im Dorf: Boris Pasternak, der Autor des legendären Romans „Doktor Schiwago“, zum Beispiel. Juri Elperin erinnert sich: Pasternak, persona non grata in der Sowjetunion, habe bei den gemeinsamen Spaziergängen immer in die Luft geschaut, wenn sie jemandem begegneten – damit niemand in die Verlegenheit kommen sollte, ihn grüßen zu müssen. Wollte jemand etwas von ihm, musste er ihn am Arm fassen und ansprechen. Seine Sehnsucht nach dem Deutschen hatte so eine Möglichkeit der Verwirklichung gefunden. Er begann, Bücher russischer Schriftsteller zu übersetzen, und je mehr er sich in diese Arbeit vertiefte und tatsächlich seine Übersetzungen in Ost- und Westdeutschland veröffentlichte, umso tiefer gelang ihm auch der Einstieg in den russischen Literaturbetrieb. Er wurde in den mächtigen sowjetischen Schriftstellerband aufgenommen - und das, obwohl er jeden Versuch, ihn als Mitglied in die Partei zu bewegen, zurückwies. Bis heute sind so etwa 150 Werke von Juri Elperin ins Deutsche übersetzt worden, klassische und moderne russische Literatur.
Hier, in Peredelkino, lernte Juri Elperin auch die Liebe seines Lebens kennen: Kira. Ihre Eltern hatten in dem Dorf eine Ferienwohnung gemietet, und Kira fuhr jeden Morgen mit Juri Elperins Mutter im Zug nach Moskau. Die Mutter erzählte viel von ihrem Juri, die beiden lernten sich kennen – und sind inzwischen seit 63 Jahren zusammen, davon 57 Jahre verheiratet.
"Kira, auch im hohen Alter in der Berliner Wohnung noch von einer alterslosen Schönheit und Erhabenheit, ist bis heute nicht nur die große Liebe, sondern auch die große Stütze im Leben Juri Elperins. Der liebevolle Blick der beiden, ein Menschenleben lang füreinander wirkenden Menschen, ist Zeichen einer perfekten Symbiose zweier Menschen, die seit über 60 Jahren alle Höhen und Tiefen dieses vielschichtigen Lebens gemeistert haben, beide geistig bis ins hohe Alter hellwach und Anteil nehmend – gerade auch an den Entwicklungen in Russland. Sie informieren sich über russische Sender, aber auch über westliche, russischsprachige Kanäle. „Schlimm, was dort passiert“, sagt Juri Elperin.
Juri Elperin, später, in den 1970er, 1980er Jahren, lebte in seiner Stadtwohnung in Moskau, und in der Datscha in Peredelkino. Dass er immer noch maximal gerade gelitten war, zeigte ein dramatisches Ereignis Anfang der 90er Jahre. Er hatte seine Datscha gut ausgebaut, hatte seine große Bibliothek und sein umfangreiches Archiv dort. Alles wurde bei einem Brand vernichtet, und Juri Elperin ist von Brandstiftung überzeugt. Der Verlust wog schwer, und auch dieses Zeichen der Ungeliebtheit im eigenen Land ließ den Entschluss reifen, Russland den Rücken zu kehren.
Nach sieben Jahren Reiseverbot hatte Juri Elperin ab 1985 in der Tauwetterzeit der Sowjetunion wieder nach Deutschland reisen dürfen. Und er bewegte sich wie selbstverständlich nicht nur im russischen, sondern auch als Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller, im Deutschen PEN-Zentrum und in der Europäischen Autorenvereinigung Die KOGGE im deutschen Literaturbetrieb. Seit 2000 lebt Juri Elperin mit seiner Frau und Tochter wieder in Berlin.
Juri Elperin nimmt ein altes Fotoalbum in die Hand und zeigt dem Besucher Bilder: der vierjährige Junge Juri Elperin im Schnee in Davos; ein Zeitungsartikel der Davoser Zeitung berichtete über den „jüngsten Skifahrer von Davos“. Fotos der beiden Eltern, Angehörige des gebildeten, gehobenen Bürgertums, des Jugendlichen in Berlin. Russland, Urlaub mit der jungen Ehefrau auf der Krim. Und jetzt, wieder in der Heimatstadt Berlin, das sich natürlich verändert hat in diesen Jahrzehnten – „und doch wieder so sehr, schaut man genau hin, nicht“, sagt Juri Elperin und lächelt, die Pfeife in der Hand.
erschien als Originalbeitrag bei swo.de
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