Prosa
Landschaften in Europa: Morvan en Bourgogne
Kloster zum weinenden Auge: Der Linden-Alleen-Gang ist lang und läuft vom Schloss hinein in den aufsteigenden Wald, Sonne und Himmel durch Blätterdach gefiltert, kleine Laute fallender, raschelnder Blätter, Eidechsen huschen ins Kraut. Roten Fliegenpilz hat er entdeckt. Einen eingesteckt. Männlein steht im Wald auf einem Bein. Soll die Hagebutte sein, deren Ranken sich an Evas Rock hakeln und Löcher in die Seide reißen. Kostbare Bäume im Morvan-Gebirge. Landschaft aus Wald- und Weiden, von Wallhecken eingefasst, Esche, Eiche, Kastanie, Esskastanie, Hasel, Linde, Bergulme; Buchen mit silbrigen Stämmen, Klappern über den Wipfeln im Windhauch, Fruchtbündel der Eschen schlagen baumelnd zusammen und das gibt den kleinen Klang. Igel im Kraut, Eichhörnchen rennt einen knorzigen Stamm hoch, weißlich bleckt Stammkern zwischen rissiger Rinde. Weiter und wieder ein Baum, viele Bäume voller Blüten, rosaroten und weißen, ein Apfelbäumchen pflanzen. Aus der Abtei kommt Frère Bénédicte Baldrián. So genannt nach seinem Klostergarten, die alte Tradition hat er neu belebt, viele Sorten von Kräutern duften durcheinander im innersten Hof um den Ziehbrunnen, an dem ein Zinkeimer baumelt, mit dem der Pater das Wasser hochleiert und seine Pflanzen wässert, direkt aus einer der Morvan-Quellen komme l'eau douce. Sommers liegt Sonne über der Hochebene. Der Steinbrunnen ist Zentrum im Viereck aus Blüten und Kräutern, denn auch Miteinander von Blumen zur Zierde und Kraut und Légumes für den Tisch gehören zusammen. Rundum der romanische Kreuzgang von Saint Bénédicte-les-Rocs zwischen Kapelle und Kreuzgang, die üblichen Figurenkapitelle mit biblischen Geschichten wie die Flucht nach Ägypten mit dem Esel auf Rädern, sind von der Kathedrale Autun beeinflusst, das finden Besucher zum Lächeln. Die weinenden Augen des seltsamen Heiligen kann sich niemand erklären. Über dem lachendem Mund.
Je höher wir auf Uchon zu fahren, umso mehr graue Steinovale, umso größere rundliche Blöcke ragen aus dem kurzen Gras. Das steigert sich zum Felsenmeer kindshoher, mannshoher, haushoher, rundlich aufgetürmter Steine, die Köpfe und Fabeltiere bilden, wie aus Knetgummi abgerundet gestaltet. Davor gelber Ginster, zwölf braune Ziegen fressen daran, eine uralte Frau ruft die Ziegen mit knarrender Greisenstimme. Plattform über Meer voller Riesengeröll, dessen Rand grauschwarze Bergzüge sind. Das Rundgemälde vor meinen Augen umringt in Horizonthöhe eine weiße Dunstaura. Der Nebelring steigt. Feucht und kalt über die Füße. Schon stehen sie im dampfenden Weiß. Ich schaue zu lange hinunter. Neben mir nasskalter Nebel. Ich drehe mich um, Ziegen und Hexe sind wie Spuk verschwunden. Klar ist die Tiefe. Wald- und Weidelandschaft und tiefer noch die Dächer der Stadt: Kathedrale von Autun. Hier habe ich nüchterner Mann mich in eine liegende Steinfrau verliebt. Ohne die Ähnlichkeit meiner Geliebten mit dieser Steinmetz-Eva auf dem Türsturz hätte sie mich nicht in ihren Bann schlagen können. Ihr Ebenbild will ich ihr zeigen. Bang bin ich, wie sie es aufnehmen wird. Seit ich sie in der Vorlesung "Romanische Plastik in Frankreich" zum ersten mal sah, stand Eva aus Autun Pate für Frauenschönheit in meinen Augen: 'Mandelaugen' in die Schläfen geschrägt, hochgewölbte Brauen, ebenmäßige Stirn und Nase, kleiner Mund, Schwanenhals, über dem aufgestützten rechten Arm Köpfchen in die Handfläche geschmiegt. Liegend zwischen fiedrigen Blättern und Blütendolden der Paradiesbäume, linken Arm nach hinten gestreckt, um den Granat-Apfel pflückend die Finger gewölbt. Von romanischer Mauerplastik, Steinbibeln für lese-unkundige Christen, hatte ich im zweiten Semester gehört. Des Dozenten "Gislebertus hoc fecit" war in dem Dunkeln des Lichtbildervortrags Begleitgeräusch der Liebesannäherung gewesen. In den Semestern 1968 und 1969 hatte mich das Lichtbild der Eva von Autun elektrisiert, wegen der Ähnlichkeit das Mädchengesicht zwei Reihen vor mir.
Umgekehrt? Im alten Deux Chevaux sind wir durch Burgund geholpert und haben uns an Ort und Stelle in Autun vergewissert. Evas Steingesicht und ihres sind vom gleichen Genre gewesen. Tympanon in Septembersonne, Mauerplastik am Außenbau mag sie am meisten. Köpfe in die Höhe gereckt, laufen wir innen die Säulenreihen mit den Kapitellen entlang unter den phantastischen Figuren: Maria mit Kind auf dem Eselchen, auf der Flucht nach Ägypten 'bewegt' sich das Tier: Auf vier Käserädchen, lacht meine Freundin. Auch über die Basilisken, das Maul gefletscht, in Mundwinkeln Arme gerafft zum Abbeißen. Sie streitet heftig ab, dass die liegende Eva mit den fließenden Scheitelhaaren ihr gleiche, sie kann die biblische Eva nicht leiden, zu dicht bei den furchterregenden Fratzen, wie sie romanische Steinmetzen lieben. Nächste Nacht träumt sie. Ich wecke sie, als sie in Angst schreit. Sie murmelt monoton, als gehe es weiter und sei wirklich wahr: "In der Kathedrale. Die Käserädchen rollen den Esel vor den Altar. Ha. Ha. Alle um mich herum. Lachen mich aus. Die Basilisken beißen der Eva den rechten Arm ab. Sie fällt auf das Gesicht. Der Paradies-Apfel rollt aus der Hand. Halt sie fest, guck doch, die breiten Gesichter wie deine Söhne. Mein Arm! Ich kann nicht schreiben." Im Hotel unterhalb der Kathedrale haben wir übernachtet. Morgens war sie verschwunden. Mich haben die Fahnder dort gefasst, alles andere nahm den üblichen Lauf. Meine Freundin haben sie zwei Tage später gefunden, zwischen den unter dem Felsenmeer tiefer liegenden Steinen, ihr Leib war von den runden Felsformen schwer unterscheidbar, Hunde haben die Freundin erschnüffelt. Warum hat sie diese letzte Aufzeichnung in ihr Reise-Tagebuch geschrieben? Immer trage ich es bei mir: Autun, Hotel Tête Noir, Sonntag, 24. September 1989, 19 Uhr.
Originalbeitrag