Lindenland Eichsfeld

Prosa

Autor:
Mechthild Curtius
 

Prosa

Lindenland Eichsfeld

(Meinen Mitarbeitern vom Film "Horizont aus Hügeln" gewidmet, Thüringer Bilderbogen, gesendet MDR am Freitag, 22. Oktober 1993, 21.30-22.00. Textauszüge Kürzung auf 6 Seiten für Thüringer Landeszeitung: 6. September 1993)

Vor dem Erfurter Bahnhof sei Volksfest, denken die vom Fernsehen, buntgekleidete Menschen laufen herum, trinken Bier aus Büchsen und essen Thüringer Würste,  zwischen Rucksäcken sitzen Schulkinder auf dem sonnenwarmen Vorplatz. Auf Wiedersehen wollen sie auf den Bahnsteig sagen, sind benommen vom Abschied, der keiner sein kann. Berühren der Figüren mit den Pfoten ist verboten. Das gilt zwischen beiden, und das lässt sie sein wie betäubt. Zutritt verboten, sagen die Uniformierten. Benommenheit wächst an zu Verstörung. Polizisten versperren den Zugang zum Bahnsteig. Bombendrohung. Kein Zug fährt herein und keiner hinaus.

Abenteuer ist ihre Reise sowieso schon gewesen. Hindernislauf durch das Eichsfeld, Bischofferode die letzte Station und bis Erfurt Umleitungen. Im Zugabteil Sprachentzug. Denn die bei uns sitzen, die reden mit Händen mit Füßen zwar, doch nicht mit Zungen, die machen nur schnalzende schmatzende Geräusche zur Mienenbewegung, denn die da reden sind stumm. So muss ich mich an die letzten Tage erinnern, ob ich will oder nicht, Bilder stehen vor Augen, Geräusche, Gefühle sind in  Ohren und Poren. Der Kameramann hat nur Augen gehabt für diesen Film, der im Autoinneren über den handtellergroßen Bildschirm läuft:

"Horizont aus Hügeln. Eine Filmerzählung aus den oberen Eichsfeld. Unter den Horizont aus Hügeln sich durch Wiesen, Wälder und Äcker auf Eichsfeld-Wegen überlehmige Erdwellen. Hecken füllen ihre Dellen, und in den Tälern nisten die  Dörfer. Augen, die zum Hinschauen taugen, schweifen lassen über Blütenfelder und an Wegrainen rasten. Oder in einem kleinen Dorf herumgehen, zusehen und zuletzt ausruhen. Kreisen lassen die Blicke, bis die Bilderketten Assoziationen auslösen, bis Erinnerungen heranfliegen. Vogelsang, Baum und Wiese, Dorfgeselligkeit im Tal und auf dem Hügelkegel das einsame Haus; das Obereichsfeld hat beides: Bewegung und Stille. Rote Dächer unter schieferblauen Kirchturmzwiebeln - die Dörfer sind Nester im Tal, 'wie Perlen aufgereiht' als Rosenkranz im katholischen Eichsfeld. Die Orte im 'Eixfeld', wie die 'Eixfelder' sagen, im 'Lande des Eiko' oder im Land der Eichen, haben gern sprechende Flurnamen, heißen Döringsdorf, Schwobfeld, Weidenbach, Wiesenfeld oder Lehna. Liegen in Tälern zwischen und unter und hinter weitgezogenen Hügeln, Berg-und-Tal-Landschaft aus Wellen und Dellen mit gepflügten Äckern, reifendem Getreide, mit Wald und Viehweiden. In manchem Dorf geh ich herum auf der Suche nach anderswo verschwundenen Augen-Weiden, die im katholischen Eichsfeld oft Glaubenszeugnisse sind. Höre dörfliche Stimmen, das Gackern der Hühner, das Krähen der Hähne. Falls nicht solch ein Bauernhof Erinnerungen an Kinderspiele heraufruft, dann tut es sicherlich die selten gewordene Bauernblume mit den anschaulichen Namen, Jungfer-im-Grünen oder Gretel-im-Busch oder Braut-im-Haar; so treffend kann Volksbeobachtung vergleichen. Den Duft lockt die Farbe der Blaublüte Borretschskraut und den anderen Kräutern und Blumen des Bauerngartens, in dieser überlieferten Anordnung und Vielfalt hier im Südeichsfeld noch mehr als anderswo zu sehen und zu riechen. Wie im angrenzenden Hessen und in Thüringen, den das Eichsfeld politisch angehört und den gegenüber es auf Eigenständigkeit besteht, überwiegt Fachwerkbau. So wie dort gibt es Fachwerk-Kirchen: in Scheiben mit Spinnengeweben spiegelt sich die Dorfkirche von Mackenrode. Der Doppelgiebel ragt über zwei alte hohlgewordene Linden, den Baum des Eichsfeldes, viel mehr als die Eiche.  Was die meisten fern im Westen und Osten noch am ehesten van Eichsfeld wissen: Arm sind die Bewohner gewesen, konnten nicht immer und auch nicht alle 'im Land bleiben und sich redlich nähren', mussten fort als Hausierer, das Reff auf den Rücken. Heimische Waren weit hinaustragen und verkaufen. 'Eichsfelder mit Kisten und Kasten hinten einsteigen', hat es im neunzehnten Jahrhundert geheißen.

Filme wie den vom Oberen Eichsfeld machen wir gemeinsam; sie sind Wir-Geschäft, sind keine einsame Schreibtischtat. Du hast Augen für die Autostraße, für den Film nicht, du siehst ihn über mein Gesicht. Du merkst alles, was in Personen ringsherum vorgeht, mit deinen Augen, die saugen, Figuren mit Blicken berühren, ich fühle die glänzende Oberhaut über der Iris als pelzigen Film auf meinem Gesicht. Sehe die goldenen Porenhaare über den Wangenknochen, den senkrecht vibrierenden Gang, die federnden Beine im Sprung auf das auf das Autodach, wo du dich mit einen einzigen Stand hältst. Stuntman über den Stegen, und im schönen Körper wirklich einmal ein gütiger Geist. Was man weiß, macht heiß. Kribbelt innen durch Wirbelmark und außen über Porenhaut van Kopf bis in die Zehen, in die Zehnfinger, durch Rumpf und Hals und zurück, auch ohne den Elektrodraht und den Weidenzaun unter Strom. Gemeinsame Augen, die zum Film-Erdichten taugen, im Zustand wie gesehen festhalten in Bild und Ton, gemeinsame Arbeit, Gelegenheit macht Liebe und Liebe verzaubert, das was da ist, mischt Wirkliches mit Imagination. Fast Religion, Märchen, sagen die Zuschauer später und wissen nicht, wie das kommt. Gemeinsam, so einfach ist das.

Renaissance-Altar steht in Heiligenstadts Sankt Aegidien, der Kirche an Marktplatz, den wir im Regen, unterm Schirm filmend, verlassen, morgens um acht, nach einer Nacht, in der wir ohnehin kein Auge zutun, zu Sankt Ottilien beten, dass sie die Augen nachts zumachen hilft, zu Sankt Barbara in dem Schacht bei der Nacht, als er, nun Kameramann, untertage das todbergende Wismut  geborgen hat zwanzig Jahr, Ende mit Wende, alle Bergleute entlassen, er hatte Glück, zum Fernsehen zu können als Amateur-Fotograf, aber seitdem ist aller Schlaf vorbei, Biorhythmus  durcheinander, früher mit den Hühnern ins Bett und vor Tau und Tag um vier Uhr raus. Augentrost Sankt Ottilie, die am Altar zwei Augen auf den Buch vor sich trägt, Schutzheilige. Trutzheilige Sankt Kathrein rollt das Mainzerrad hinterdrein, Folterrad ist das ihre gewesen, am Grab-Schrein vom Roten Zwehl, kein Heiliger, Draufgänger ist der gewesen im Dreißigjährigen Krieg. Sebastian am Pfahl, durchbohrt von Folterpfeilen. Hin und her schauen, Sebastian vor der Kamera und hinter, Ähnlichkeiten.

In Heiligenstadt ist vorstellbar, wie ein Regenmorgen von hundertdreißig Jahren war, mit Theodor Storm stumm durch die Gassen zu gehen, vor Tau und Tag, der Stadt beim Wachwerden zusehen, zum Beispiel beim Brötchenholen, beim Bäcker stehend. Im Fenster liegt das frische Brot aus dem Getreide der durch die Regentrude geretteten Felder. Zeitungen, die in schiefen Briefkästen stecken, Kioske, die ihre Zeitschriftenständer aufstellen, Händler, die ihre Buden installieren. "Morgensymbole", hätte Theodor Storm halblaut vor sich hingesagt, "wieviele neue Morgensymbole und Morgenrituale!" Wir spotten, reden Kamera-Latein, spinnen Drehmannsgarn. "Dein Mädel muss dir bald nischt mehr glooben, wenn du immer so schwindelst", sagt der Tonmann zum Kameramann. Denn Sebastian spinnt, er gehe mit Storm gemeinsam durch Heiligenstadt: "Meist gehn wir stumm zu Zweit herum. Damals war Markttag ähnlich, glaubt es mir, und der geschwänzte Neptun ist, als Platzhirsch, auch noch hier." Ob alle Bergleute untertage so wie er in Reimen reden, frag ich ihn. Nee, lacht er, doch das Unanschtändsche wirkt nich so derb, wenn es gereimt iss. Reimt weiter: "Ein Dichter ist, dass ichs beschwör, doch stets ein bisschen Voyeur." Die Windische Gasse mit den krummen Fachwerkhütten hat es uns, denen 'vom Fernsehen', angetan. Auch schlichte Leute haben ihre Häuserzier. Stuck-Ecken haben sie und Zopfmusterleisten eine Tür, hinter Fenstern kann man Lampen sehen im Morgenlicht, Fachwerk-Gewände ausgebeint. Zu gern gehen wir dem Städtchen durch die Schlüssellöcher und in die Eingeweide schielen und den Gässchen in die Gärten schauen mit dem Heiligenstädter Mauer-Rhabarber unter alten Dächern. Und in der Stadt zwischen den Häusern wie draußen zwischen den Feldern Lindenalleen.

Kauzige Gestalten gehen und stehen in Heiligenstadts Wilhelmstraße. Ein alter dürrer Mann stammt von hier, drei Wanderer, Freund, Vater und Sohn, kommen von weither. Von West nach Ost, den alten Handelswegen, scheint man mit neuer Achtung zu begegnen, die Walzbrüder sind wie Till Eulenspiegel  auf Wanderschaft gekleidet, Filzkappe, umwickelte Beinlinge und allerlei bunte   Fetzen an sich, der eine zieht ein Leiterwägelchen voller Pennbruder-Utensilien hinter sich her, der andere jongliert mit Kegeln, der Junge rollt ein notdürftig rundgefeiltes Sandsteinrad an einer Eisenstange mit Griff vor sich her. Der dünne alte Heiligenstädter fragt: "Was bedeutet das denn?" Der ältere Walzbruder antwortet: "Ja, das haben wir genannt: den Wander-Wunder-Wandel-Stein. Drei Steinmetz- Gesellen auf  Zunft-Wanderschaft sind wir. Den Luxemburger Sandstein haben wir mit Rheinwasser rundgemacht, und damit walzen wir von West nach Ost von Frankreich quer durch ganz Deutschland über die Oder nach Polen."

Heiligenstadt hat viele Kirchen. Küster, Kirchen, Kapitelle, in Stein gemeißelte lesende Nonnen kauern an Eingangspfeilern, die Lippen spöttisch gerötet im Reliefgrau. Schalksnarren mit Hundsohren hocken an Kapitellen und Löwen-Fabelwesen mit Menschengesichtern beim Lügenstein über den Beichtstühlen, in denen des Theodor Storms Veronica gekniet hat wie als Kind Tonmann Sebastian, er habe "gestohlen" gebeichtet, Radieschen im Garten. Das gibts nicht beim Pfarrer, beichten, wenn eens nischt ausgefressen hat. Beichten ist schwer. Deine Kindheit, meine Kindheit, unter großmütterlicher Obhut katholisch gewesen.

Nagelränder blutiggerissen, kommt die nervöse Frau vom Bürgermeister auf die Kamera zu, als wir einen Bauerngarten filmen, der wie aus Storms Zeiten stehen geblieben aussieht. Sebastian hebt das Stativ über den Stacheldrahtzaun, den Elektrozaun, direkt zwischen den Beinen der zuckende Schlag, hoch das  Bein, komm herein in den Garten, zu den blausternigen Blumen. Den Abschluss bildet Bischofferodens Kali-Ode. Arbeiter-Denkmal. Rapsernten-Symphonie. Hoch auf dem grünen Wagen - Staub und Lärm ertragen - Raps surreal - im Tal Feld kahl - Korn schwarz- blau - Luft lau grau rauh. Gasiger Wrasen über lackgrünem Rasen - Kontraste - rote Berge - Kaliwerke. An der Ostgrenze des Eichsfeldes in und um Bischofferode. Wortfetzen zu Rattergeräuschen setzen und dazu Atmosphärenmusik.

Auf dem Hülfensberg ist die Ruhe des Klostergartens zwischen sonnwarmen Bohnen, Dahlien und Borretsch, dem blaublütigen. Uralt ist das romanische "wundertätige Hülfenskreuz" von "Sante Hulpe"; seit dem 11. Jahrhundert sind die Gläubigen des europäischen Mittelalters zu ihm gepilgert. Jesus Christus triumphans, strahlender König, der Erlöser lächelt vom Kreuz. Meist leidet er an Kruzifixen und Kreuzwegen im Eichsfeld und dort an der Hülfensbergkirche an der Außenmauer der Apsis. Vom Hülfensberg zu einem anderen Wallfahrer-Hügel: Ein Edelstein im Rosenkranz der lindengeschmückten Eichsfelder Ortschaften ist der Kerbsche Kloster-Berg. Kreuzwegstationen führen im Schneckenkreis um die Kuppelhöhe, durch die uralten knorrigen Linden scheint Sonne, streift dich und mich. Sebastian am Pfahl, durchbohrt von Folterpfeilen.